Turnvater Jahn. Horst Bosetzky
Große ist damals Kronprinz gewesen, was du nicht bist. Außerdem ist er vor seinem Vater davongelaufen, und du liebst und verehrst den deinen. Mir scheint, du willst nur vor dir selbst davonlaufen – aber wie soll das gehen?«
Jahn sah zwar ein, dass der Freund recht hatte, lehnte sich aber weiterhin auf. Das führte dazu, dass er in der Quinta bald ziemlich isoliert war und täglich heftige Gefechte mit seinen Lehrern und seinen Mitschülern ausfocht. Am häufigsten stritt er sich mit Johannes von Jeggesleben, einem hochnäsigen Adelsspross, der ihn als Bürgerlichen verachtete und für einen Bauerntölpel hielt.
»Ich bin kein Bauernsohn«, wandte Jahn ein. »Mein Vater ist Pfarrer.«
Von Jeggesleben lachte. »Das mag sein, aber er hat trotzdem Kühe im Stall und baut Hopfen an.«
»Das ist unmöglich!«, ließ sich Hans Christian Packebusch vernehmen, Sohn eines reichen Kaufmanns und das Alphatier in der Quinta. »Sonst wäre doch bei Friedrich Ludwig nicht Hopfen und Malz verloren.«
»Was will der eigentlich hier bei uns?«, fragte Peter Paul Stampeel, der aus einer der großen Salzwedeler Familien kam, und reimte in bester Helffensfrieder’scher Manier: »Zurück mit dir ins Kuhkaff Lanz,/hier hast du nichts zu suchen!/Sonst kappen wir noch deinen Schwanz,/und du wirst uns bis in alle Ewigkeit verfluchen.«
Da konnte sich Jahn nicht mehr zurückhalten und versetzte von Jeggesleben, der direkt vor ihm stand und am lautesten gelacht hatte, einen solch heftigen Schlag auf die Nase, dass das Blut nur so spritzte.
»Warum habt Ihr das getan?«, fragte ihn Christian Wolterstorff, der Rektor, als der Vorfall zur Untersuchung kam.
»Ich wollte wissen, ob sein Blut wirklich blau ist«, antwortete Jahn.
Darauf folgten gleich zwei dicke Einträge ins Strafbuch, einer für den Faustschlag und der andere für unbotmäßiges Verhalten. Das hielt Jahn aber nicht davon ab, sich auch noch mit Packebusch und Stampeel anzulegen. Beide konnten es nicht ertragen, dass er ihnen nicht nur an Intelligenz, sondern auch an Gewandtheit und Körperkraft überlegen war und bereits reiten, schwimmen, schießen und klettern konnte.
»Wie ein Affe!«, stellte Packebusch fest.
»So sieht er auch aus«, fügte Stampeel hinzu.
Jahn stürzte sich auf sie. Packebusch besiegte er im Box- und Stampeel im Ringkampf. Der eine lief daraufhin zum Rektor, weil er unter einer leichten Gehirnerschütterung litt, der andere, weil er Würgemale am Hals davongetragen hatte. Abermals fragte Wolterstorff Jahn nach dem Grund für sein aufsässiges Benehmen.
»Ich wollte Gerechtigkeit walten lassen«, antwortete dieser. »Wenn mich keiner der Lehrer in Schutz nimmt, muss ich mich eben selbst wehren. Außerdem wissen jetzt alle, was das Pankration ist.«
»Was bitte?«, fragte Wolterstorff.
»Das ist eine Kombination aus Boxen und Ringen, die bei den Olympischen Spielen im alten Griechenland ausgetragen wurde. Dass Ihr das nicht wisst!«
»Jahn, das gibt zwei neue Einträge ins Strafbuch!«
Den kümmerte das wenig. Er glaubte, dass all seine Handlungen dem Willen Gottes entsprangen, hatte er doch unzählige Male gebetet: »Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.«
Der einzige Schüler aus seiner Klasse, mit dem er sich ein wenig anfreundete, war Georg Friedrich Roth. Der kam aus Hindenburg in der Altmark, einem Dorf, das noch kleiner war als Lanz. Aber das war eigentlich ohne Belang.
Nicht nur mit dem Lehrer Helffensfrieder legte sich Jahn ständig an, sondern auch mit anderen Pädagogen, allen voran Heinrich Dürzer, einem äußerst gemeinen Mann, der ihn immer wieder vorzuführen und zu diminuieren suchte.
Als Dürzer einmal den Klassenraum betrat, schrie er auf, denn ein Schüler, der aus Hameln stammte, hatte in einem Anfall von Heimweh den Rattenfänger gemalt, allerdings nicht mit den davonziehenden Kindern, sondern mit einer Schar von besonders hässlichen Ratten. »Wischt das weg!« Mit abgewandtem Gesicht wartete Dürzer, bis das Bild nicht mehr zu sehen war. Auch im Anschluss hatte er noch Mühe, Haltung zu bewahren. Er betrachtete sich wegen seiner Rattenphobie als Schwächling und suchte das zu überspielen, indem er sich nun vor der Klasse umso härter zeigte. Als Erstes bekam der Zeichner einen Eintrag ins Strafbuch, dann stürzte sich Dürzer auf Jahn, der besonders impertinent gegrinst hatte. »Jahn, übersetzt! His nuntiis litterisque commotus Caesar duas legiones in citeriore Gallia novas conscripsit et inita aestate in ulteriorem Galliam qui deduceret Q. Pedium legatum misit.«
Jahn stand auf und bekundete, bei seinem Vater und dem Hauslehrer Schmellwitz zu wenig Latein gehabt zu haben, um sich an Caesars De Bello Gallico heranwagen zu können.
»Ihr versucht es!«
»Ähm … Sein Nuntius schrieb Caesar einen Brief … einen Brief, dass die Legionen in Gallien zittern würden … «
Dürzer bog sich vor Lachen. »Le monde n’a jamais vu un tel imbécile!«
Das konnte Jahn sehr wohl übersetzen. »Die Welt hat noch nie einen solchen Dummkopf gesehen!« Er murmelte, dass er sich dafür rächen werde.
»Stampeel, macht Ihr weiter!«
»Die Berichte und Briefe veranlassten Caesar, zwei neue Legionen im diesseitigen Gallien auszuheben und zu Beginn des Sommers dem Legaten Q. Pedius den Auftrag zu geben, sie in das Innere Galliens zu führen.«
»Jahn, diese Sätze schreibt Ihr Euch in Euer Kollegheft!«
»Ich führe kein Kollegheft. Mein Gedächtnis ist so vortrefflich, dass ich solcher Tintenkleckserei nicht bedarf.«
»Euren renitenten Geist werden wir Euch schon noch austreiben!«
Jahn lächelte. »Das schafft einer wir Ihr ganz sicher nicht!«
»Ab mit Euch!«
So wanderte Jahn wieder einmal in den Karzer und bekam einen weiteren Eintrag ins Strafbuch des Salzwedeler Gymnasiums.
Nachtragend war er nicht, aber Dürzers Bemerkung von dem Dummkopf, den die Welt noch nicht gesehen habe, wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Lange dachte er darüber nach, wie er dem Lateinlehrer am besten eins auswischen konnte, aber ihm wollte nichts Rechtes einfallen. Schließlich kam ihm der Zufall zu Hilfe. Sein Quartiersgeber, der Leinenweber Witte, kämpfte schon seit einiger Zeit gegen die Wanderratten in seinen Kellerräumen, die sich schneller vermehrten, als er sie erschlagen konnte. Witte hatte schließlich eine Falle konstruiert. Aber nur selten fand sich ein Nager darin, denn die Ratte als solche war unglaublich klug. Hatte der Leinenweber doch eine gefangen, übergoss er sie mit Rübenöl und steckte sie an. Das arme Tier schrie und quiekte dann derart erbärmlich, dass alle anderen Ratten in Panik aus dem Keller flohen und die Botschaft weitergaben, diese Stätte in Zukunft tunlichst zu meiden. Das half so lange, bis die Warnung in einer nachfolgenden Generation verlorenging.
Wieder einmal war es so weit, und Witte konnte seiner Leidenschaft als Kammerjäger nachgehen. Diesmal sogar mit überraschendem Erfolg, denn in seiner Falle steckten gleich zwei Ratten. Es waren ausgewachsene Exemplare von stattlicher Größe. Der Hausherr rief seine Arbeiter herbei, sie zu bewundern und ihn zu beglückwünschen. Auch Jahn eilte in den Keller. Beim Anblick der Tiere dachte er sofort an Dürzer – und schon wusste er, wie er sich an dem Lehrer rächen konnte. »Ihr braucht zum Anstecken nur eine«, sagte er zu Witte. »Könnt Ihr mir die andere geben?«
»Wozu denn?«
»Ich will mit ihr ein kleines Experiment machen.«
Da Witte annahm, dass der Junge sich als Tierarzt ausprobieren wollte, trieb er eine der zwei Ratten in einen Blechkasten und schenkte sie Jahn. Der wartete ab, bis es dunkel geworden war, und schlich sich dann zur Steinthorstraße, wo Heinrich Dürzer, der alleinstehend war, eine kleine Wohnung angemietet hatte. Das Glück war auf Jahns Seite, denn das Schlafzimmerfenster stand zum Lüften weit offen. Es war ein Kinderspiel, den Blechkasten zu öffnen und die Riesenratte zu entlassen. Schnell