Turnvater Jahn. Horst Bosetzky
Häusern ihrem Gewerbe nachgehen.«
Dem Pfarrer Jahn war das Thema peinlich, und um nicht in Versuchung geführt zu werden, flüchtete er sich in die Bibel. »Wie steht es im 1. Buch Mose geschrieben? Über drei Monate ward Juda angesagt: Deine Schwiegertochter Thamar hat gehurt; dazu siehe, ist sie von der Hurerei schwanger geworden. Juda sprach: Bringt sie hervor, dass sie verbrannt werde.«
Gedike wollte sich nicht lumpen lassen und zitierte aus dem 3. Buch Mose: »Wenn eines Priesters Tochter anfängt zu huren, die soll man mit Feuer verbrennen; denn sie hat ihren Vater geschändet.«
Alexander Friedrich Jahn fuhr auf. »Nicht, was Ihr denkt! Luise ist nicht meine Tochter, sondern wirklich die der Witwe Collmitz, und ich bin – so wahr mir Gott helfe! – gewisslich nicht der Vater.«
Gedike schmunzelte. »Wer sich schon verteidigt, ohne dass er angeklagt wurde … Aber Spaß beiseite. Machen wir uns gemeinsam auf zur Stätte der Unzucht!«
»… und führe uns nicht in Versuchung«, murmelte Jahn.
Nun, an Versuchung war nicht zu denken, als sie sich in der Gasse Hinter der Königsmauer umsahen. Zu unansehnlich waren die elenden Damen, die dort ihren Körper verkauften. Pfarrer Jahn dachte ein wenig neidvoll an die Kaiser und Könige, die sich hübsche Mätressen leisten konnten. Dirne Minna, die wegen ihres Holzbeins sehr billig zu haben war, hatte sich beim Anblick der beiden gutsituierten Herren einige Einkünfte versprochen und war bitter enttäuscht, als sie lediglich nach einer gewissen Luise Collmitz gefragt wurde. »Klar kenn ick die. Aba det kostet wat, wenn ick Eure Exzellenz wat über se verrate.«
»Nun gut.« Alexander Friedrich Jahn hatte Mitleid und öffnete seinen Geldbeutel.
Minna machte einen Knicks. »Verbindlichsten Dank, Eure Hoheit. Und wat Luisen betrifft, so hat die jetzt ’n Galan, ’n Schauspiela inne Neue Commandantenstraße.«
Die beiden Männer bedankten sich und machten sich auf den Weg in die Friedrichstadt. Alexander Friedrich Jahn kannte dort nur das Königliche Nationaltheater am Neuen Markt, dem späteren Gensdarmen-Markt, das der Baumeister Johann Boumann in den 1770er Jahren auf Befehl Friedrichs des Großen ursprünglich als Französisches Komödienhaus errichtet hatte.
»In den letzten Jahren hat es bei uns in Berlin eine Flut von neugegründeten privaten Theatern gegeben«, erklärte ihm Gedike. Gerade bei den niederen Volksklassen seien sie in Mode gekommen, und man zeige fast ausschließlich niveaulose bis zotige Komödien. »Das bringt die Obrigkeit in Rage, geht doch damit die formende Kraft des Königlichen Nationaltheaters verloren.«
Oft waren es Tabagien- und Tanzbodenbetreiber, die ihre Säle den Privattheatern zur Verfügung stellten, und so war es auch in der Neuen Commandantenstraße. Viele fröhliche Handwerker und Dienstboten hatten sich dort mit ihren Angebeteten versammelt, als Alexander Friedrich Jahn und Friedrich Gedike eintraten und nach Luise Collmitz fragten.
»Die steht inne Küche und brät Buletten«, gab man ihnen Auskunft.
Als Luise Alexander Friedrich Jahn in der Tür stehen sah, erschrak sie zwar ein wenig, fing sich aber schnell wieder. »Ick weiß, Ihr seid der Herr Pfarrer aus Lanz. Bestimmt schickt meine Mutter Euch, damit ich wieder nach Hause komme.« Aber nein, sie kehre nicht zurück, sie wolle etwas vom Leben haben und nicht in Lenzen versauern. Ihr Johannes sei ein wunderbarer Schauspieler, mit dem sie bald durch ganz Deutschland ziehen werde, denn er gehöre auf die großen Bühnen dieser Welt.
Was sollte der Pfarrer darauf erwidern? Natürlich zog es alle jungen Menschen, die lebenshungrig und wagemutig waren, aus den Nestern in die großen Städte. Sie ließen sich wie die Motten vom Licht anziehen. Aber die meisten Motten verbrannten im Licht. Mit Schrecken kam Alexander Friedrich Jahn in den Sinn, dass sein Sohn auch ein Charakter sein könnte, der das Landleben verachtete und lieber als Fallensteller nach Amerika gehen würde, als die Tradition der Jahns fortzusetzen und Pfarrer zu werden. Was Friedrich Ludwig wohl in diesem Moment tat?
Friedrich Ludwig Jahn hatte in ebender Minute, in der sein Vater intensiv an ihn dachte, Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser zu lesen angefangen. Im Karzer des Salzwedeler Gymnasiums.
Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. – Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen und den Blick der Seele in sich selber schärfen. – Freilich ist dies nun keine so leichte Sache, dass gerade jeder Versuch darin glücken muss – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.
Friedrich Ludwig Jahn ließ das Buch sinken. Er war sich nicht ganz im Klaren darüber, was er über diese ersten Sätze denken sollte. Einerseits hielt er sie für schöngeistiges Gewäsch, andererseits aber erschienen ihm Vorstellungen von einem Blick der Seele, den man schärfen konnte, und einem individuellen Dasein, das es wichtiger zu machen galt, durchaus beachtenswert.
Blickte er auf sein Leben in Salzwedel, so war ihm, als hätte man ihn in ein Zuchthaus gesteckt. Gehorsam, Disziplin und Unterordnung standen im Gymnasium weit vor dem Wissenserwerb. In den meisten Unterrichtsstunden fühlte er sich wie auf einem preußischen Exerzierplatz. So etwas kannte er nicht, denn sein Vater wie der Hauslehrer Schmellwitz waren überaus mild gewesen, und beide hatten Rücksicht auf seine Fähigkeiten und Vorlieben genommen. Hier im Gymnasium trugen die Lehrer das vor, was sie selbst für wichtig hielten und womit sie ihrer Meinung nach glänzen konnten. Oder aber sie arbeiteten einfach stur das ab, was ihnen der Rektor vorgegeben hatte. Sich in diese Ordnung einzufügen war für Jahn unmöglich. Immer wieder lehnte er sich auf. Manchmal auch auf eine recht ungewöhnliche Art und Weise. So wie dieses Mal. Er hatte die Szene noch deutlich vor Augen.
Sein Mitschüler Johannes von Jeggesleben hatte sich gemeldet, um ihn zu verpetzen. »Herr Helffensfrieder, Friedrich Ludwig ist eingeschlafen und fängt gerade an zu schnarchen.«
Der Lehrer war zu Jahns Bank geeilt und hatte ihn hochgerissen. »Jahn, seid Ihr wirklich eingeschlafen!?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich mich so gelangweilt habe.«
Das hatte einen neuen Eintrag ins Strafbuch gegeben und ihm eine weitere Stunde Karzer beschert. Natürlich hatte er nicht wirklich geschlafen, sondern nur so getan. Helffensfrieder hatte ihnen die großen Dichtungen dieser Welt nahebringen sollen, stattdessen aber seine eigenen kümmerlichen Poeme vorgetragen und sich dabei fürchterlich gespreizt. Jahn war das mächtig auf die Nerven gegangen, und so hatte er sich schlafend gestellt, um dem Lehrer zu zeigen, was von ihm zu halten war.
Als der Pedell den Karzer wieder aufschloss und Jahn in die Freiheit entließ, war es später Nachmittag geworden. Jahn sehnte sich nach Lanz und dem Pfarrhaus. Jetzt wäre es Zeit gewesen, noch eine Stunde mit dem Vater durch die Gegend zu streifen und Bibelverse zu ergänzen.
»Wer seine Missetat leugnet, dem wird es nicht gelingen …« – »… wer sie aber bekennt und lässt, der wird Barmherzigkeit erlangen.«
Er hatte seine Missetat nicht geleugnet und würde sich nicht ein zweites Mal schlafend stellen, um einen unfähigen Pädagogen zu ärgern, also brauchte er sich keine Sorgen um sein Seelenheil zu machen. Außerdem war er im Recht, denn einen Lehrer wie Helffensfrieder hätte man niemals auf die Quintaner loslassen dürfen.
Manchmal dachte Jahn daran, das Gymnasium zu verlassen und nach Hamburg zu gehen, um Schiffsjunge zu werden. Auch Friedrich der Große hatte flüchten wollen, weil er sein eingeengtes