Turnvater Jahn. Horst Bosetzky
Seine Laufbahn hatte er 1778 am Collegium Fridericianum in Königsberg begonnen, war 1782 Schulleiter in Memel geworden und 1785 nach Salzwedel gekommen.
Als er Friedrich Ludwig Jahn zur Aufnahmeprüfung eintreten sah, dachte er als Erstes: Bauernlümmel! Wer so stämmig war und so vor Kraft strotzte, der konnte nichts im Kopfe haben. Ein bisschen durchgeistigt sollte ein Junge schon aussehen, wenn er aufs Gymnasium wollte. Wahrscheinlich hätte Wolterstorff den Knaben gleich wieder Hause geschickt, wenn er nicht mit dessen Vater ein wenig befreundet gewesen wäre. »Nun gut, nehmt Platz!«, sagte er schließlich nicht unfreundlich, aber doch ziemlich distanziert. »Beginnen wir mit der Heiligen Schrift. Da werdet Ihr als Pfarrerssohn wohl einigermaßen sicher sein. Wo finden wir in der Heiligen Schrift zum ersten Mal die zehn Gebote?«
»Im 2. Buch Mose, 20. Kapitel. Am Anfang steht: Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollt keine anderen Götter haben neben mir. Das zweite Gebot heißt: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Dann kommt: Du sollst den Feiertag heiligen, Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren …«
»Danke, das genügt.« Der Pfarrer in Lanz hatte gute Vorarbeit geleistet. Wolterstorff hätte also beruhigt sein können, aber sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Friedrich Ludwig Jahn aufsässig war und er sich vor ihm in Acht nehmen musste. Der Rektor war zwar zu gutmütig, um Jahn allzu schwierige Fragen zu stellen, hätte ihn aber gern scheitern gesehen. Von diesem Wunsch getrieben, diktierte er ihm einen kurzen Text, der für einen Dreizehnjährigen eigentlich viel zu schwer war, und auch die Rechenaufgaben, die er ihm stellte, waren eher für Sekundaner als für Quintaner gedacht. Prompt gelang es Jahn nicht, die Aufgaben zu lösen, und auch in der Rechtschreibung machte er zu viele Fehler. »Diese Leistungen reichen nicht, mein Lieber.«
»Ich bin hier, um das alles zu lernen«, sagte Jahn ebenso selbstsicher wie treuherzig.
Wolterstorff hatte nun ein schlechtes Gewissen, auch dem Lanzer Amtsbruder gegenüber, und baute Jahn eine Brücke. »Was meint Ihr, Friedrich Ludwig, wo Eure Stärken liegen?«
Jahn musste nicht lange überlegen. »Ich kenne mich nicht nur in der Bibel sehr gut aus, sondern auch in der Geschichte.«
»Dann sagt mir doch bitte, seit wann wir in Preußen einen König haben!«
»Seit 1701«, antwortete Jahn, ohne zu zögern. »In diesem Jahr hat sich der Markgraf Friedrich III. von Brandenburg in Königsberg selbst zum König in Preußen gekrönt. Im Volke hieß er wegen seiner schiefen Schulter der Schiefe Fritz. Die Hebamme hatte ihn unglücklich auf die Erde fallen lassen.«
»Sehr gut, mein Junge. Und was hat sich bei Fehrbellin Großes zugetragen?«
Wieder musste Jahn nicht lange überlegen. »Im Sommer 1675 hatten die Schweden Teile Brandenburgs besetzt. Ihr Befehlshaber war Feldmarschall Wolmar von Wrangel. Die brandenburgischen Truppen unterstanden dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm und dem Generalfeldmarschall Georg von Derfflinger. Der Prinz von Hessen-Homburg und der Oberleutnant Hennigs haben die Schweden schließlich mit ihrer Reiterei in die Flucht geschlagen.«
Unter diesen Umständen konnte Wolterstorff die Aufnahme auf das Gymnasium nicht verweigern, eine Ablehnung hätte ihm sein Amtsbruder in Lanz nie verziehen. Zumal seine Animosität Friedrich Ludwig Jahn gegenüber lediglich auf einem unguten Gefühl beruhte und sich formal nichts gegen den neuen Zögling einwenden ließ. Also notierte er am 8. Oktober 1791:
D. VIII. M. Octobris Johannes Fridericus Ludovicus Christopherus Jahn, ecclesiae Lanzensis filius, anno aetatis XIII in Cl. II receptus.
Das hieß, dass Jahn in die zweite Klasse, die Quinta, des Gymnasiums Salzwedel aufgenommen worden war.
Salzwedel lag im Nordosten der Altmark, an der Mündung der Salzwedeler Dumme in die Jeetze, einen Nebenfluss der Elbe. Die Stadt war an der Stelle der alten Salzstraße entstanden, an der eine Furt durch die gar nicht einmal so schmale Jeetze führte. Als Gründer galt Albrecht der Bär, der die nahe gelegene Burg Salzwedel hin und wieder bewohnt hatte. Die Stadt gehörte später, vom dreizehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert, zur Hanse und gelangte so zu einiger Blüte.
Durch Salzwedel nun liefen Friedrich Ludwig Jahn und Philipp Pulvermacher und fühlten sich wie ausgewilderte Tiere, die sich neugierig, aber auch ein wenig ängstlich mit ihrem neuen Terrain vertraut machten. Natürlich hätte keiner von beiden zugegeben, dass ihnen ein wenig bange war – Jahn am allerwenigsten. Es war gut, dass die Freunde sich aneinander festhalten konnten. Einen Wermutstropfen gab es allerdings, denn der Rektor Wolterstorff hatte sie in zwei verschiedene Klassen gesteckt: Jahn in die Quinta und Pulvermacher in die nächsthöhere Jahrgangsstufe, die Quarta, wohl, weil er ein paar Monate älter war. Womöglich fürchtete Wolterstorff aber auch, die Freunde könnten im Doppelpack die Gemeinschaft der Alteingesessenen gefährden.
Da Friedrich Ludwig und Philipp Wittenberge und Wismar kannten, imponierte ihnen Salzwedel nicht sonderlich, obwohl die Stadt mit St. Marien, St. Katharinen, St. Lorenz und der Mönchskirche immerhin vier stattliche Gotteshäuser zu bieten hatte. Dazu kamen die wunderschönen Fachwerkhäuser in der Altstadt, das Rathaus, die Stadttore, die mittelalterlichen Befestigungen und die Burg. Vom Burggarten aus sahen die beiden Freunde auf die Stadt hinunter.
»Was hat Salzwedel mit Lanz gemeinsam?«, fragte Pulvermacher.
Jahn überlegte lange. »Auch hier wohnen nur Menschen.«
»Das auch, aber vor allem schreibt man beide mit Z.«
Als sie durch die Straßen gingen, schaute Pulvermacher jeder Frau, die ihnen entgegenkam, aufmerksam ins Gesicht.
»Was soll denn das?«, fragte Jahn.
»Ich suche die berühmte Salzwedeler Dumme.«
»Mensch!«, lachte Jahn. »Das ist der Name eines Flusses, er bedeutet so viel wie Eichenbach. Dumme kommt vom altslawischen Wort dabu, was für Eiche steht.«
»Das kannst du einem Dummen erzählen, aber mir nicht.«
»Mein Vater hat es mir so erklärt.«
Bald hatten sie ihre Unterkunft beim Leinenweber Witte erreicht. Ihr Zimmer war zwar nicht gerade feudal, dafür hatten ihre Eltern aber nur wenig Kostgeld zu zahlen. Die beiden Väter waren, nachdem sie ihre Söhne in Salzwedel abgeliefert hatten, nach Lanz zurückgekehrt.
Am nächsten Morgen ging es zum ersten Mal in die Schule. Das Gymnasium lag vor dem Lüchower Tor und war schnell erreicht. Für Jahn ließ sich alles gut an.
»Herzlich willkommen in unseren Reihen!«, empfing ihn Johann Jacob Schönpflug, der in der ersten Stunde unterrichtete und auch gleich reimte: »Friedrich Ludwig, der Du bist aus Lanz/Verleihe unserer Quinta von nun an neuen Glanz!«
Alexander Friedrich Jahn war zufrieden, dass es sein Sohn mit dem Salzwedeler Gymnasium so gut getroffen hatte, und nutzte die Zeit, die er sonst immer mit dem Unterricht verbracht hatte, zu Ausflügen nach Perleberg und Wittenberge, vor allem aber nach Lenzen, das für Lanz eine Art Sonne war, um die man kreiste. Es war der Kirchenmusiker Caspar Movius, der den Pfarrer Jahn nach Lenzen zog. Movius war hier am 26. Oktober 1610 zur Welt gekommen und hatte es zu einigem Ruhm gebracht. Die Hymnodia Sacra und die Psalmodia Sacra Nova, seine ersten Sammlungen geistlicher Vokalmusik, waren um 1635 entstanden, später war das Werk Triumphus Musicus Spiritualis hinzugekommen. Über diesen Mann wollte Alexander Friedrich Jahn eine kleine Schrift verfassen. Er verbrachte etliche Stunden im Archiv, um aber bald feststellen zu müssen, dass wohl in Greifswald, Rostock und Stralsund, wo Movius studiert und als Schulmann gewirkt hatte, mehr über ihn zu finden sein würde als in seiner Geburtsstadt.
So saß er am Nachmittag ziemlich ernüchtert in einem Gasthof in der Nähe des neuen Rathauses. Das war erst 1713 errichtet worden, nachdem einer der vielen Stadtbrände das alte zerstört hatte. 1756 war es mit einer Turmuhr versehen worden, die allerdings nur einen Stundenzeiger besaß. Jahn konnte also nur in etwa erahnen, wie spät es war. Es mochte halb fünf nachmittags sein, als ihn eine Frau durch das Fenster zur Straße hin erkannte und eintrat, um mit ihm zu reden.