Turnvater Jahn. Horst Bosetzky

Turnvater Jahn - Horst Bosetzky


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über Eure Arbeit.«

      »Bitte, nehmt Platz!« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht.

      Die Frau stellte sich als Clara Collmitz vor, Witwe des verstorbenen Elbschiffers Martin Collmitz. »Ich habe mehrere Kinder«, begann sie. »Alle sind sie gut geraten, nur Luise ist dabei, ein liederliches Frauenzimmer zu werden. Sie ist mit einem Galan nach Berlin gegangen, und ich fürchte, dass sie da in einem … na, Ihr wisst schon … landen wird.« Das Wort Freudenhaus wagte sie nicht auszusprechen. »Da Ihr öfter in der Residenz zu tun habt, wollte ich Euch bitten, nach Luise zu sehen und sie nötigenfalls auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.«

      »Von Herzen gern.«

      Anfang März 1792 reiste Alexander Friedrich Jahn das nächste Mal nach Berlin, denn am 8. März war einer seiner Freunde an hitzigem Brustfieber gestorben. Es handelte sich um den Theologen Friedrich Germanus Lüdke, seines Zeichens Diakonus und Archidiakonus an der Nikolaikirche. Alexander Friedrich Jahn war einen Tag vor der Beerdigung angereist und hatte so noch Zeit, sich ein wenig in der Stadt umzusehen.

      Als Cicerone wünschte er sich keinen Geringeren als Karl Philipp Moritz, Professor für die Theorie der schönen Künste an der Akademie der Künste und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Seinen Werdegang hatte er einem Freund der Familie Alexander Friedrich Jahns zu verdanken, ebenfalls Pfarrer, der Moritz’ Begabung erkannt und ihm nach einer gescheiterten Lehre als Hutmacher den Besuch eines Gymnasiums in Hannover ermöglicht hatte. Durch diesen Freund kannten sie sich. Seit kurzem war Karl Philipp Moritz dabei, eine richtige Berühmtheit zu werden, denn sein Roman Anton Reiser war in aller Munde.

      Als Alexander Friedrich Jahn ihn in seinem Gartenhaus in der Münzstraße abholen wollte, traf er Moritz in einem recht bedauernswerten Zustand an. Die Haushälterin hatte zuerst versucht, den Besucher abzuwimmeln. »Der Herr Professor sieht es äußerst ungern, wenn er durch einen bloßen Komplimentenbesuch bei seiner Arbeit gestört wird.«

      »Ich werde die berühmte Ausnahme sein.« Alexander Friedrich Jahn hatte seinen Namen genannt und gebeten, gemeldet zu werden.

      Als er endlich eintreten durfte, fand er Moritz auf seinem Sofa ausgestreckt, halbnackt. Der Schriftsteller hustete anhaltend. »Das ist nichts Schlimmes«, erklärte Moritz, nachdem er sich ein wenig aufgerichtet und Jahn begrüßt hatte. »Ich habe nur die Schwindsucht. Das passiert ausgerechnet mir, wo ich doch einige Semester Medicin studiert habe! Ich will sogar bald meine Christiane Friederike heiraten. Schließlich bin ich erst 36 Jahre alt. Eine Menge schreiben will ich auch noch.«

      »Ich wünsche Euch Gottes Segen auf all Euren Wegen«, sagte Pfarrer Jahn und setzte sich auf einen wackligen Stuhl, der weit genug vom Hustenden entfernt war. »Der Anton Reiser ist Euch übrigens vorzüglich gelungen.«

      Moritz lächelte. »Danke, wenn auch die Kritiker sagen, der Roman stehe in der Tradition von Goethes Werther

      »Das ist doch ein Lob!«

      »Und zugleich der Vorwurf, dass mir nichts wahrhaft Originelles eingefallen sei.«

      »Das stimmt nicht«, erwiderte Alexander Friedrich Jahn. »Ich habe den Eindruck, der Roman ist in weiten Teilen autobiographisch. Der junge Anton ist begabt – wie Ihr. Sein Lehrherr ist ein Hutmacher – wie Euer einstiger Meister. Er leidet an der Enge seiner Umgebung, bricht aus und flüchtet sich in die Welt des Theaters – nicht anders als Ihr.«

      Karl Philipp Moritz schmunzelte. »Es scheint, als hättet Ihr mich durchschaut. Ich denke gern an die Zeit zurück, in der ich mich als Schauspieler versucht habe. Schauspieler sein heißt, sich selbst zu erforschen, sich selbst darzustellen, voller Empfindsamkeit zu sein.«

      Pfarrer Jahn kam auf den Grund seines Besuchs zu sprechen. »Ich hatte gedacht, wir flanieren zusammen ein wenig durch die Residenzstadt.«

      »Das ist leider ausgeschlossen. Der März ist noch kein Monat, in dem ich meine Lunge dem kalten Wind aussetzen möchte.«

      Es wurde ein trauriger Abschied, denn Alexander Friedrich Jahn spürte, dass Karl Philipp Moritz wohl bald vom Herrn in die Ewigkeit heimgeholt werden würde.

      Da auch andere Bekannte unabkömmlich waren, sah er sich gezwungen, allein durch die Straßen zu gehen und nach neuerrichteten Gebäuden Ausschau zu halten. Als Erstes stach ihm die seit 1786 geschlossene Académie militaire ins Auge, wo junge Edelleute erzogen worden waren. Auch das Haus der Gebrüder Ephraim an der Ecke Poststraße und Mühlendamm fand sein Wohlgefallen. Was ihm als Pfarrer besonders gefiel, war das auf Kosten des Königs neugebaute Predigerwitwenhaus in der Nähe des Neuen Marktes. Als Prunkstück empfand er auch die Königsbrücke, die nach Plänen von Carl Philipp Christian von Gontard umgebaut und 1780 eingeweiht worden war. Die Krönung bildeten natürlich Schloss und Schlossplatz und die Straße Unter den Linden mit dem Zeughaus, dem Palast des Prinzen Heinrich, dem Opernhaus und der Königlichen Bibliothek. Hier, so schien es Alexander Friedrich Jahn, konnte Berlin schon ein wenig mit Wien konkurrieren, wenn auch noch nicht ganz mit Rom, Paris oder London. Dazu waren Berlin und Preußen einfach zu arm.

      Den Abend verbrachte er bei einem Bekannten in der Brüderstraße, in dessen privaten Räumen die vor knapp einem Jahr von Carl Friedrich Christian Fasch gegründete »Singe-Academie zu Berlin« probte. Fasch, Sohn eines Barock-Komponisten, war aus Zerbst nach Berlin gekommen und hatte es bei Friedrich dem Großen zum Hofcembalisten und Hofkapellmeister gebracht. Im September 1791 hatte er in der Marienkirche mit seinem Chorwerk zum 51. Psalm – Miserere Mei – viel Furore gemacht. Erstmals hatten Männer und Frauen Seite an Seite in einem Chor gesungen. Der A-capella-Klang fand großes Gefallen bei den Menschen, auch Alexander Friedrich Jahn war davon sehr angetan.

      Am nächsten Vormittag ging es zur Trauerfeier hinaus zum Friedhof am Halleschen Thor. Die Trauerrede hielt ein Propst, dessen Namen Jahn nicht behalten hatte. Das Gesagte erschien ihm auch recht dröge. »Friedrich Germanus Lüdke hat vieles veröffentlicht, herausragend aber ist seine Schrift Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit aus dem Jahre 1774, in der er mit philosophischer Bestimmtheit den Unterschied zwischen wahrem und falschem Religionseifer hervorhebt. Seine liberalen Mitmenschen aber lobten ihn vor allem für sein 1772 erschienenes Communionbuch. Mit einer anrührenden, das Herz ergreifenden Sprache breitet er darin seine Wahrheiten über das heilige Abendmahl aus. Wir gehen nicht fehl, wenn wir Friedrich Germanus Lüdke als einen der bedeutendsten evangelischen Theologen der Aufklärung bezeichnen.«

      »Was man von mir nicht gerade behaupten kann«, murmelte Alexander Friedrich Jahn – und erschrak, denn Ruhmessucht hatte er bisher noch nicht an sich festgestellt.

      Als die Trauergäste die Friedhofskapelle verließen und dem Sarg in langer Reihe zum ausgehobenen Grab hin folgten, trat ihm jemand in die Hacken. »Oh, Pardon!«

      Jahn fuhr herum – und hätte fast laut ausgerufen: »Der Gedike, so eine Überraschung!« Er kannte Friedrich Gedike seit Jahren, denn der entstammte einer alten Theologenfamilie aus der Prignitz. Sie hatten sich aber aus den Augen verloren.

      »Was macht Ihr hier?«, fragte Alexander Friedrich Jahn flüsternd. »Ihr seid doch zuletzt in Züllichau und Frankfurt an der Oder gewesen.«

      »Inzwischen bin ich in Berlin Schuldirektor am Friedrich-Werderschen Gymnasium und Oberkonsistorialrath. Aber lasst uns später weiterreden!«

      Nach der Trauerfeier setzten sie sich zusammen, um über die Prignitz und gemeinsame Freunde zu plaudern. Jahn kam auch auf Lenzen zu sprechen, und dabei fiel ihm wieder ein, dass er der Witwe Clara Collmitz versprochen hatte, in Berlin ihre Tochter Luise aufzusuchen. Er schilderte Gedike den Fall.

      Der nickte. »Gerade hat man im Rathaus eine Verordnung wider die Verführung junger Mädchens zu Bordels und zur Verhütung der Ausbreitung venerischer Übels erlassen, denn immer häufiger werden einfältige Mädchen mit vielfältigen Versprechen nach Berlin gelockt, um dann hier in Freudenhäuser gebracht zu werden.«

      »Wo befinden sich diese Etablissements?« Alexander Friedrich Jahn errötete bei dieser Frage. Er befürchtete, dass Gedike glaubte, er wolle später selbst eines dieser Häuser


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