Lust und Liebe dann kam das Leben. Peter Nimsch
rel="nofollow" href="#ua993ada8-e349-566b-9af5-cf7559883cd1">24. OKTOBER
11. OKTOBER
Da saß ich nun … Paul, umgeben von Wänden ohne Putz und auf den spärlichen Resten einer für meine Verhältnisse sehr langen Beziehung.
Paul, also ich, im zarten Alter von 37 Jahren, ein lebenslustiger Typ, der immer daran glaubte, alles wird gut … Na ja, das dachte ich zumindest die letzten zwei Jahre und auch noch vor weniger als fünf Stunden. ›Aber das Leben wird einfach nie langweilig, ich kann nur lachen, wenn andere das Gegenteil behaupten.‹
Als ich heute so gegen 18 Uhr in unsere Straße einbog, sah ich schon von Weitem unseren 24-armigen Lieblingskerzenständer hell leuchtend auf dem Tisch vor dem Fenster stehen. Dies war schon immer ein Zeichen von Anja, meiner momentan großen Liebe, wenn sie mich, sehnsüchtig und meistens schon halb nackt vor dem Kamin liegend, erwartete. Schon als ich wenig später die Haustür aufschloss, breitete sich von meinem Unterleib ausgehend ein warmes, prickelndes Gefühl in meinem noch immer gut erhaltenen und in langweiligen Fitnessstudio- Stunden geformten fast 1,90 Meter großen Vorzeigebody, mit erstem kleinen Bauchansatz, aus. Die Kerzen im Fenster konnten eigentlich nur das Beste bedeuten, was ich vom heutigen Tag noch zu erwarten hatte.
Im Treppenhaus roch es leicht nach Kaminfeuer. Allein dieser Geruch brachte meine Lust noch mehr in Fahrt. Ich sah mich schon gemeinsam mit Anja vor dem Kamin wälzen, natürlich auf einem Tigerfell. Hatten wir seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht. ›He, wird das ein heißer Abend!‹ und beschwingt stieg ich die alten ausgetretenen Treppenstufen nach oben.
Bei Eva, die unter uns wohnte, knallten wie immer laute Ärzte-Songs durch die verschlossene Wohnungstür. Insgeheim hoffte ich, dass diese harten Beats unseren romantischen Abend nicht übertönen würden. ›Na ja, wird uns schon nicht stören‹, überlegte ich. ›Wenn wir so dabei sind, vergessen wir eigentlich alles um uns herum.‹
Schnell stieg ich nun Stufe um Stufe höher, konnte es kaum noch erwarten. Bums, stand ich im Dunkeln. Mal wieder hatte ich es nicht geschafft, in diesem vom Vermieter bestimmt aus Geiz so kurz eingestellten Beleuchtungsintervall unsere Wohnung im dritten Stock zu erreichen. ›Morgen schreibe ich endlich den lang geplanten Beschwerdebrief!‹, nahm ich mir zum wiederholten Mal fest vor.
Aber nach zwei Jahren kennt man ja zum Glück sein Revier und so stieg ich langsam, mit den Zehenspitzen die Anfänge der Treppenstufen suchend, nach oben. Als ich endlich unseren Treppenabsatz erreichte und einen großen Schritt zur Wohnungstür plante, blieb mein linker Fuß irgendwo hängen, meine restlichen Körperteile konnten diesem Klammergriff um meinen linken Fuß nichts mehr entgegensetzen und ich landete der Länge nach auf irgendwelchen harten und weichen Erhebungen auf unserem Treppenabsatz, die da eigentlich nicht hingehörten.
Noch leicht vom Sturz betäubt tastete ich in der Dunkelheit umher. Plastikfolien, Kartons, Bindfäden, Koffer, Bücher und noch andere Dinge erahnte ich im Dunkeln. ›Wo bin ich?‹, schoss es durch meinen Kopf, war ich doch felsenfest davon überzeugt, vor unserer Wohnungstür zu liegen. Langsam versuchte ich mich wieder aufzurichten, verzweifelt etwas zu finden, woran sich meine Finger festklammern konnten und Platz für meine Beine war. Irgendwie schaffte ich es endlich im Dunkeln einen freien Platz zu entdecken, an dem ich zumindest erst einmal einen Fuß aufsetzen konnte. Der andere Fuß baumelte noch immer suchend im Dunkeln und tastete langsam den Untergrund ab.
›So, hier ist eine Lücke‹, dachte ich und setzte entschlossen den linken Fuß auf. Es erklang ein warmer E-Moll-Ton und kurz darauf ein lautes, krachendes Geräusch, ähnlich wie splitterndes Holz. Aber mein Fuß hatte endlich festen Boden erreicht.
Langsam ging ich wieder in die Hocke und suchte nach der Ursache des Schmerzes im linken Unterschenkel, der sich langsam auch in mein Bewusstsein verlagerte. Zuerst fanden meine Finger Metalldrähte, deren Oberflächen mir sehr vertraut vorkamen. Meine Finger glitten an diesen Metalldrähten entlang und kamen zu einem abgebrochenen Gitarrenhals, dessen Ende sich ungefähr einen Zentimeter in meinen Unterschenkel gebohrt hatte.
Schlagartig, durch den stechenden Schmerz beschleunigt, fiel mir ein, dass ja Edwin, unser lieber, aber leider etwas verschrobene Nachbar, am nächsten Tag ausziehen wollte. ›Na der konnte sich morgen frisch machen!‹, dachte ich. ›Einfach seinen ganzen Müll vor unserer Wohnung schon mal vorparken.‹ Aber Edwin und Gitarre? Hat dieser schräge Typ versteckte Talente? Er konnte ja nicht einmal singen, jedenfalls bekam ich jeden Morgen spontanen Stuhlgang, wenn Edwin im Nachbarbad versuchte Wolfgang-Petry-Hymnen zu intonieren.
›Licht, ich brauche Licht!‹, schoss es mir durch den Kopf, ich wollte ja nicht noch mehr wertvolle Kulturgüter von dem lieben Edwin für immer über den Jordan schicken. Die Finger meiner rechten Hand fuhren ganz langsam über die Wand. Zentimeter um Zentimeter tastete ich mich vorwärts, und stieß endlich auf ein mir wohlvertrautes Loch, das ich dort vor zwei Jahren beim Einzug mit dem neuen Futonbett hinterlassen hatte. ›Da ist auch der Lichtschalter nicht mehr weit entfernt …‹, dachte ich erleichtert. ›Ein kurzer Druck mit dem Zeigefinger und die Welt ist wieder in Ordnung‹, hoffte ich naiv und freudig.
Die Lampen flammten auf, aber die Welt drehte sich plötzlich verdammt langsam, zumindest für mich. Mein erster wieder lichterhellter Blick wanderte natürlich sofort zu meinem mittlerweile höllisch brennenden Unterschenkel. Ich schaute immer wieder hin, hätte mich fast gekniffen, damit ich wach wurde, aber wacher als mit einem Gitarrenhals im Unterschenkel konnte man eigentlich nicht werden und so akzeptierte ich einfach dieses Bild, welches sich hinter meiner Stirn einbrannte, nein einmeißelte.
Mein linker Fuß stand in einer roten Ovation-Gitarre, meiner Gitarre, meiner geliebten und teuren roten Ovation. Als die ersten Schockwellen in meinem Gehirn langsam wieder nur noch die halbe Amplitude über normal erreicht hatten, erfassten meine inzwischen wieder an das Licht gewöhnten Augen Objekte, die mir sehr bekannt vorkamen.
Der schwarze Lederkoffer mit dem ewig defekten Verschluss, der uns immer bei unseren romantischen Hotelbesuchen begleitet hatte, stand fein säuberlich mit hässlich braunem Paketband verklebt neben meinem rechten Fuß. Gerade vor mir standen zwei große blaue Müllsäcke, aus einem ragten, wie zu einem Peace-Zeichen drapiert, meine spitzen roten Lieblingsschuhe.
Hinter mir, natürlich ebenfalls fein säuberlich gebündelt, standen sechs oder sieben Päckchen Bücher. Dekorativ lag oben auf einem Päckchen ein einzelnes Buch. Mein Kopf ging nach unten und meine Augen entzifferten langsam den Buchtitel ›Szenen einer Ehe‹ …
Der Schmerz in meinem Unterschenkel bewahrte mich davor zu kollabieren, denn langsam wurde mir bewusst, wer hier auszieht, … ICH. ›Aber wer auszieht braucht zumindest gesunde Beine …‹ und so zog ich behutsam den gebrochenen Gitarrenhals