Gesundes Gift. Franz Kabelka
Sie bitte so gut und klären Sie Frau Prohaska auf?“
In Friedas Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Was zum Teufel hatte es zu bedeuten, wenn Fillinger von schlimm sprach? War es nun so weit, würde man ihr endgültig den Laufpass geben? Hatte Dr. Weinzierl sich über sie beschwert, weil sie bei ihrem Besuch in der Klinik ein Fläschchen Öl hatte mitgehen lassen, um es chemisch analysieren zu lassen? Ein Diebstahl, der nicht nur unethisch, sondern auch umsonst gewesen war, weil ihr die Phiole im Suff schlicht und ergreifend aus der Hand gerutscht war und sich ihr Inhalt auf den Parkettboden der Pension Nachtruh ergossen hatte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ihre etwas eigentümlichen Recherchemethoden Probleme nach sich zogen. Das letzte Mal hatte die größte Tageszeitung des Landes gedroht, opinion zu klagen, falls man es wagen würde, die unter Vorspiegelung einer falschen Identität erworbenen Kenntnisse über die finanziellen Machenschaften des mächtigen Käseblatts zu veröffentlichen, vor dem bis hin zum Kanzler alle den Schwanz einzogen. Okay, ihre Methode war nicht eben neu gewesen, andere waren damit schon berühmt geworden. Aber es machte nun einmal einen gewaltigen Unterschied, ob man Wallraff oder Prohaska hieß. Fillinger hatte sie damals mächtig zusammengeschissen und ihr offen mit Kündigung gedroht. Die Recherchearbeit von drei Monaten durfte sie unter „außer Spesen nichts gewesen“ verbuchen. Seither war es ihr nicht mehr gelungen, mit ihren Geschichten auf die Titelseite zu kommen. Das war weder für die Geldbörse noch für das journalistische Ego gut.
„Bernd ist tot“, sagte Glenk und sah wie immer haarscharf an ihr vorbei. Aber etwas war anders. Wenn sie sich nicht irrte, hatte ein Wangenmuskel des Wissenschaftsredakteurs kurz gezuckt. So viel an Regung hatte sie bei ihm noch nie erlebt.
„Bernd? Bernd Lussnig?“
„Ja. Wir haben es gestern Abend gefaxt bekommen, von der österreichischen Botschaft aus Delhi. Es war wohl ein Unfall. Ein tragischer Verkehrsunfall.“
Sie war vollkommen perplex. Bernd und ein Verkehrsunfall, das war einfach denkunmöglich! Wenn ein harter Hund wie Bernd denn tatsächlich einmal ins Gras beißen sollte, dann, weil ihn ein Terrorkommando irgendwo im arabischen Raum entführte und vor laufender Videokamera hinrichtete oder weil eine verirrte Kugel ihn erwischte. Es gab wahrlich genügend Schlachtfelder auf dieser Welt, wo sich für einen wie ihn eine Gelegenheit dazu geboten hätte. Aber ein Verkehrsunfall … eine witzlose Ironie der Geschichte, oder was?
„Wann … wo … wie ist es passiert?“
Sie spürte sofort, wie nullwertig diese Reaktion war. Als ob die klassischen W-Fragen einen in einer solchen Situation nur um einen Millimeter weiterbrächten. Außerdem registrierte sie, wie plötzlich eine gewisse Drüse aktiv wurde. Jetzt fang bloß nicht an zu heulen, ermahnte sie sich. Das Private und das Berufliche schön hübsch trennen, Frieda! Doch selbst der, von dem diese Devise stammte, schaute im Moment ziemlich fertig drein, raffte sich dann aber doch zu einer Antwort auf. Reden war vielleicht noch das beste Mittel, um den Kloß im Hals loszuwerden.
„In Pondicherry, Südostindien“, sagte Fillinger. „Er war zu Fuß unterwegs, als er überfahren wurde. Es muss schon vor mehreren Tagen passiert sein. Aber bis die Botschaft davon erfahren hat …“
„Ich dachte, Bernd sei in Kerala? Er wollte doch dort diverse Ayurvedaresorts und Produktionsstätten besuchen, oder?“
„Das hatte er vor, ja. Aber in letzter Minute hat er seinen Flug nach Trivandrum gecancelt und stattdessen einen nach Chennai gebucht. Von dort hat er sich allerdings nie gemeldet. Na ja, kennst ja seine Art.“ Sein Wechsel vom Sie zum Du fiel Fillinger wohl selbst nicht auf.
Ja, sie kannte Bernds Art. Nur die Art, wohlgemerkt, nicht den Menschen. In einer einzigen gemeinsamen Nacht lernte man einen Mann nicht kennen. Schon gar nicht einen wie Bernd Lussnig.
Er war ein Freak gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Ein genialisch angehauchter Grenzgänger mit mehr Macken, als erlaubt. Aber er hatte es immer geschafft, damit durchzukommen. Das unterschied ihn ganz gewaltig von den meisten, die sie kannte. Insbesondere von ihr selbst.
Da war zum Beispiel Bernds Angewohnheit, alles kleinzuschreiben. Auf die Logik der jeweils gerade gültigen Groß- und Kleinschreibnorm, die irgendwelche Rechtschreibpäpste als Dogmen verordneten, wolle er, wie er verkündete, sich gar nicht erst einlassen. „Wenn sogar der Name unserer geliebten Wochenzeitschrift kleingeschrieben wird“, blödelte er, „kann ich mich doch nicht durch die Verwendung von Großbuchstaben darüber erheben. Das wäre ja fast so etwas wie Hybris.“
Ob seine konsequente Kleinschreibung damit zusammenhing, dass er orthografisch schlichtweg eine gröbere Lücke hatte, oder ob es sich nur um einen seiner Spleens handelte, wusste niemand in der Redaktion. Und so, wie die Dinge lagen, würde das auch künftig nie jemand herausfinden. Aber egal, ob Defizit oder Spleen: Bernd hatte sich bei opinion eine Position erschrieben, aufgrund derer ihm diese Eigenheit von Fillinger nachgesehen wurde, wie so manch andere auch. Vor Drucklegung ließ man halt einen der frisch von der Uni gekommenen Volontäre, die sonst zu nichts zu gebrauchen waren, Bernds Texte orthografisch standardisieren. Im Trockendock überholen, wie Fillinger es nannte. Es gab bedeutend Schlimmeres, als die mangelhafte Rechtschreibung eines Mitarbeiters sanieren zu müssen. Am Inhalt von Bernds Beiträgen war jedenfalls nie etwas auszusetzen. Er, der meistzitierte Kampfgockel von opinion, dessen Artikel auch schon mal international Aufsehen erregten, durfte sich Privilegien herausnehmen, an die andere, vor allem freie Mitarbeiter wie Frieda, die nach Seiten pro Heft bezahlt wurden, nicht einmal zu denken wagten.
„Wie weit bist du eigentlich mit deinen Recherchen bei den hiesigen Kliniken?“, fragte Glenk.
Ein ziemlich brüsker Themenwechsel, wie Frieda fand. Typisch, dass der alte Unsympathler nicht einmal angesichts der spürbaren Präsenz des Todes einen Hauch Sensibilität an den Tag legte. Wo keine Erde ist, kann nichts wachsen, wie ein lettisches Sprichwort besagte. Oder war es ein litauisches? Egal: Dass diese ehemalige Binsenweisheit zumindest in der Landwirtschaft nicht mehr zutraf, bewiesen Tausende Gewächshäuser in Holland und Andalusien, wo Tomaten ohne einen Krümel Erde Kindskopfgröße erreichten. Aber es gab doch so etwas wie die metaphorische Wahrheit. Eine Wahrheit, die nicht von den Gesetzen der Natur beziehungsweise deren Pervertierung abhängig war. Wenn man so wollte, zeigte ja bereits der Geschmacksverlust bei dem erdfrei produzierten Gemüse, dass der Spruch in einem höheren Sinne immer noch stimmte.
In Friedas Augen hatte Glenk die besten Chancen, bei der Wahl zum Widerling des Jahrhunderts den ersten Platz zu erobern. Was dann zu einem Problem werden konnte, wenn man von einem wie ihm abhängig war. Wenn dieser Mensch darüber zu entscheiden hatte, ob sie genügend verdiente, um sich einen sieben Jahre alten Havana Club leisten zu können. Oder nur einen dreijährigen.
Entsprechend vorsichtig fiel ihre Antwort aus: „Na ja, in der Adanger Klinik habe ich auf Granit gebissen, aber mit den sonstigen Gesprächen lässt sich schon etwas anfangen. Meiner Meinung nach hat dieser Dr. Weinzierl ordentlich Dreck am Stecken.“
„Aber handfeste Beweise, dass da etwas aus dem Ruder gelaufen ist, haben wir keine?“
Aus dem Ruder gelaufen? Ihrer bescheidenen Meinung nach war da nie etwas im Ruder gelaufen – oder wie lautete der richtige Ausdruck dafür, wenn ein durchgeknallter Arzt, der von sich behauptete, kraft seiner transzendentalen Meditationskräfte sogar fliegen zu können, die Leute nach Strich und Faden ausnahm? Nur damit sie kränker aus seiner famosen Klinik heimkehrten, als sie diese betreten hatten? So wie Lotte Prinz und etliche andere. Jene Geschädigten, die, wenn frau ehrlich sein wollte, ihr leider allesamt nicht rasend viele hard facts anvertraut hatten. Material für eine Coverstory sah jedenfalls anders aus.
Fillinger beendete Glenks Verhör, indem er die Klappe seines Wandschranks öffnete und eine Flasche Hennessy XO sowie drei bauchige Gläser hervorzauberte. Beim Einschenken zitterte seine Hand.
„Lasst uns einen in Gedenken an Bernd heben“, sagte der Chefredakteur. „So einen wie ihn sieht dieses Haus nicht wieder.“
Er reichte Glenk und Frieda die üppig gefüllten Gläser.
„Auf Bernd.“