Gesundes Gift. Franz Kabelka

Gesundes Gift - Franz Kabelka


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Vereinigten Staaten studiert hatte, immer wieder eingetrichtert worden. Seiner Ansicht nach hatte Ajith großes Talent, und Ajith setzte alles daran, den amerikanischen Akzent seines Lehrers zu kopieren. So drückte er seine Dankbarkeit und Zuneigung aus. Es fehlte ihm nur noch ein Jahr, ein lächerliches Jahr. Den Abschluss hätte er, der fleißige Schüler, problemlos geschafft. Mit einem guten Zeugnis wären auch lukrative Posten außerhalb seines Dorfes für ihn in Reichweite gerückt. Möglichst weit weg von zu Hause, wo es nur die Alternative gab, sich als Bauer oder als Fischer zu Tode zu schinden.

      Aber Vater hatte es vorgezogen, eines Morgens in den Verschlag hinter ihrer Hütte zu gehen, wo sie das Zeug lagerten, das in weißen Säcken darauf wartete, auf die Felder ausgebracht zu werden, und eine Handvoll davon zu schlucken. So erfüllte das Pestizid am Ende doch noch seinen einzigen Zweck: zu töten. Wenn auch auf den Feldern nicht einmal mehr das gedieh, was man damit hätte vertilgen müssen. Was sonst sind wir als Unkraut, hatte Vater an seinem letzten Tag gemurmelt.

      Sie hatten nicht verstanden, was er damit sagen wollte.

      Und weil Vater nicht der erste und nicht der letzte Bauer gewesen war in diesem Jahr, als der Monsun das dritte Mal hintereinander ausblieb, der Gift schluckte oder sich an einem Baum erhängte, wurde eine Kommission eingerichtet. Eine fact-finding delegation, die herausfinden sollte, was wohl schuld sei an der Häufung von Selbstmorden in der Landbevölkerung. Und als die Kommission herausfand, dass nichts Ungewöhnliches herauszufinden war, dass es ebenso viele unterschiedliche Gründe wie Todesfälle gab, speiste man die Familien der Selbstmörder gnadenhalber, oder weil gerade Wahlen anstanden, bei denen man jede Stimme benötigte, mit jeweils drei lakh Rupien ab, dreihunderttausend Rupien also für jeden toten Vater und Alleinverdiener. Wenn die so Beschenkten dann ihre Schulden an die Gläubiger zurückgezahlt hatten, welche für die Kredite zwischen fünfundzwanzig und sechzig Prozent nahmen, blieb so gut wie nichts übrig. Jedenfalls nichts, mit dem man das letzte Schuljahr für den einzigen Sohn hätte berappen können.

      In der allgemeinen Verzweiflung, als Mutter Grund und Boden für einen lächerlichen Betrag verkaufen musste und man die Heirat der Schwester, mitgiftlos, wie sie war, wieder absagte, tauchte er auf. Er, der ältere Bruder mit dem langen weißen Bart, wie man ihn in Kerala selten zu Gesicht bekam. Ein Mann, der sich um sie kümmerte und ihn, den Halbwüchsigen, mitnahm, hinüber in die große Stadt, die einmal Madras geheißen hatte. Ein älterer Bruder, der ihn wie ein wahrer Maharadscha in seinem weißen steinernen Haus aufnahm, als wäre er, der unwürdige Sohn eines Selbstmörders, sein eigen Fleisch und Blut. Der ihm Arbeit und Essen gab und ihn für seine Dienste sogar noch bezahlte, wodurch Ajith in die Lage versetzt wurde, seinen Teil dazu beizutragen, dass Mutter und Schwester nicht länger betteln mussten und wieder ein Dach über dem Kopf bekamen. All das dank eines bärtigen Fremden, der sich aus Kastengrenzen nichts machte. Der wie ein wahrer Vater an ihm handelte, bis zum heutigen Tag.

      Nicht wie jener, der die Seinen alleine zurückließ.

      Ihm, dem älteren Bruder, als der er sich ansprechen ließ, ihm allein galt seither Ajiths ganze Hingebung. Seine Treue. Bis in den Tod.

      Nicht umsonst trug er diesen Namen: Ajith. Der, der nicht zu besiegen ist. Und war er nicht ein Nair, ein Abkömmling der alten Kriegerkaste? Wenn auch die Nairs ihre hohe Stellung längst verloren hatten – ihr Erbe trug er im Blut.

      Vor allem aber war er ein Profi. Und ein Profi wusste nie, welchen Auftrag er als Nächstes erhielt.

      Wen er als Nächsten zu eliminieren hatte.

      Gegen zehn trudelte sie am Frühstückstisch ein. Versuchte, das Lächeln von Rosa Tauner, der älteren der beiden Tauner-Schwestern, zu erwidern, die in einem blauen Dirndl am anderen Ende der Eckbank bereitstand, um ihre Frühstückswünsche aufzunehmen. Aber Frieda wusste, dass das mit dem fröhlichen Morgenlächeln ein sinnloses Unterfangen war. Ein einziger Blick in den Badezimmerspiegel hatte ihr vermittelt, wie schrecklich sie aussah. Wie mitgenommen, verbraucht. Mit solch einer Visage ließ sich beim besten Willen kein gewinnender Gesichtsausdruck generieren. Umso aufgeräumter war dafür die Hausherrin.

      „Kaffee oder Tee, Fräulein Prohaska? Wir haben ganz frische Kipferl für Sie, mit Bauernbutter und unserer hausgemachten Heidelbeermarmelade dazu schmecken s’ am besten. Oder möchten S’ lieber ein weiches Ei? Sie können natürlich auch gern beides haben. Bei uns kriegen S’ ja noch echte Eier, mit einer g’sunden Farb. Nicht wie ein Chines, dem schlecht worden ist …“

      Rosa Tauner kicherte über ihr Sprüchlein, das sie vermutlich schon zig Pensionsgästen erzählt hatte. Frieda lächelte mühsam zurück. Sie konnte mit dem Vergleich durchaus etwas anfangen, fühlte sie sich doch selbst wie besagter Chinese. Ihr Kopf dröhnte und im Bauch rumorte es, irgendetwas hatte sich da in den Schlingen ihrer Därme ganz gewaltig verheddert. Zweifellos hatte sie letzte Nacht ein weiteres Kapitel in ihrem privaten Rum Diary geschrieben. Im Tagebuch der großen Betäubung, wie sie es bei sich nannte. Eine Betäubung, die nun schon eine ganze Weile andauerte. Und die kurzen klaren Phasen wurden immer kürzer. Immer seltener.

      Vor drei Jahren hatte es begonnen, während der paar abgefahrenen Wochen auf Kuba. Nein, natürlich hatte es nicht erst vor drei Jahren begonnen, aber in Havanna hatte sich die Betäubung materialisiert. Verschleiert, behübscht mit viel Tanz, viel Musik, kaschiert im Partytrubel, wo alle gesoffen hatten. Bacilón hieß das Zauberwort, abfeiern, was das Zeug hielt. Tanzend ins Delirium. Und zwar, das war das Edle daran, mit dem Sanktus von ganz oben. God himself war auf die Idee gekommen. Fillinger hatte gerade Grasl als Chefredakteur abgelöst, und vielleicht war seine geplante Verjüngungskur für opinion mit ein Grund dafür gewesen, dass er und nicht Glenk den Job erhalten hatte. Jedenfalls hatte Fillinger eine neue Serie ins Leben gerufen: Die rote Szene in Lateinamerika. Ein Signal an die dahinschmelzende jüngere Leserschaft, also an Studenten und alle links der SPÖ Angesiedelten, die einmal die wichtigste Zielgruppe gewesen waren – damals, als auf dem Cover noch knallrot wochenzeitschrift für politik und kultur stand und das Magazin auf Recyclingpapier produziert wurde. Mittlerweile fuhr opinion auf derselben Hochglanzschiene wie die Mitbewerber. Wie auch immer, Frieda sollte über die Musik- und Tanzszene Havannas berichten, sogar einen eigenen Fotografen hatte man ihr mitgegeben. Sie klapperten sämtliche In-Lokale vom Malecón bis hinaus zu den Playas del Este ab und vertieften sich in das grelle Ambiente. Der Havana Club, Nachfahre von Bacardi, leistete gute Dienste beim Vertiefen, über Nacht wurde der Rum zu ihrem Hauptnahrungsmittel. Un trago, y un otro, y uno más … Brannte nicht so in der Kehle wie Slibowitz oder Korn, aber die Wirkung war gleich stark. Eigentlich paradox, dachte sie, die Stärke dieses Zuckerbrands besteht darin, dich weichzumachen, zu entspannen. Dich einzulullen, würde Leo eher sagen. Und er hatte es auch gesagt, später, oft genug. Natürlich nicht bei ihrer ersten Begegnung. Da hatte er ja selbst noch mitgemacht. Er, der ungelenke Intellektuelle, hatte leicht angetrunken seine Gliedmaßen geradezu orgiastisch verrenkt, sich rumbatisiert, wie sie es scherzhaft nannten, wenn man im Tanz eins wurde mit den fetzigen Rhythmen der Bongos und Congas, mit den präzise gesetzten Riffs der Blechfraktion, alles kam, ohne Umweg über den Kopf, aus dem Bauch, aus der Hüfte heraus, zentriert noch im heftigsten Gewippe, in sich ruhend trotz Lärm und Hitze und Feuchtigkeit. Sudando, bailando … So hatte sie Leo kennengelernt: mit kreisendem Becken, mit kreisender Rumflasche. Sogar geraucht hatte er in jener Nacht: eine Cohiba, fett, aber oho. Er, der passionierte Nichtraucher, mit der besten Zigarre der Welt. Bis ihm so schlecht davon wurde, dass er für eine halbe Stunde auf dem Klo verschwand. Als er zurückkam, hatte sie schon mehr als eine halbe Flasche intus.

      „Sorry, ich bin es halt nicht gewöhnt.“

      Ja, er war es wirklich nicht gewöhnt und zeigte auch nicht die geringste Neigung, es sich irgendwann einmal anzugewöhnen. Weder das Rauchen noch das Saufen. Ausnahmen bestätigten bei ihm tatsächlich die Regel, so einfach war das für einen wie ihn. Zur Feier eines singulären Events, okay, aber immer im Bewusstsein: Gift bleibt Gift bleibt Gift … Es veränderte, verwandelte sich nicht schleichend, wie bei ihr, in den großen Tröster, den großen Betäuber, den old demon alcohol. Drowning my sorrows in whisky and gin. So let’s


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