Gesundes Gift. Franz Kabelka
hatte es nicht. Nur echte Suchtler konnten sich zu dem Thema gediegen äußern und glaubhaft warnen. Aber ab einem gewissen Punkt verpuffen wundersamerweise alle Warnungen, werden zu milde belächelten Phrasen. Oder du registrierst sie nicht einmal mehr. Selbst wenn in fetten Lettern auf jeder Zigarettenpackung zu lesen ist, was dir bevorsteht – vorzeitiges Altern der Haut, Lungenkrebs, ein früher Tod … Irgendwann liest sich das wie die gesetzlich vorgeschriebenen Produktangaben auf einem Tetrapak mit Gemüsesaft: Deckt den Tagesbedarf an Kalzium und Magnesium. Enthält soundso viel Milligramm Vitamin B oder E 312 oder was auch immer. Es ist einem kein Achselzucken mehr wert. Und schon gar kein Innehalten.
Un trago. Ein Schluck. Ein einziges Stamperl. Damals hatte sie noch nicht gewusst, dass trago auch Trunksucht heißen kann.
Letzte Nacht hatte sie wieder zu viel von ihrem Weichmacher geschluckt. Hatte es genossen, wie der fesche Stehgeiger sich nach seinem Auftritt um sie kümmerte. Wieder einmal hatte sich alles weich und warm angefühlt, trotz der harten Holzbänke, auf denen sie hockten. Was eindeutig dem hochprozentigen Inländerrum zu verdanken war. Dass der nicht nur von Inländern geschätzt wurde, hatten schon vor Jahren die Schweden und Norweger bewiesen. Seinetwegen machten sie auf ihrer Urlaubsfahrt in den europäischen Süden extra einen Abstecher nach Österreich. Sechzig bis achtzig Prozent Alkohol, das konnte man bis vor Kurzem in ganz Skandinavien nicht auftreiben. Dank des Spirituosenschmuggels aus den baltischen Staaten war der österreichische Inländerrum aber heute kein Thema mehr für die süchtigen Nordmänner.
Sie wusste, dass sie dem Zeug verfallen war. Längst gab sie sich nicht mehr mit Bier oder Wein ab. Dabei hatten sie in den Zelten und bei den Ständen auf dem Festivalgelände einen tadellosen Riesling und einen noch besseren Veltliner zu bieten, gut gekühlt und mit einem pfeffrigen Abgang, der sogar Leo geschmeckt hätte. Aber mit dem Wein dauerte es entschieden zu lange, auf Touren zu kommen, und speziell den Weißen hatte sie auch nie so richtig vertragen. Nicht das Quantum, das sie benötigte, um denselben Effekt einzufahren wie mit dem hochprozentigen braunen Saft. Es soll Bier- und Weintypen geben – vielleicht war sie ja ein Rumtyp? Immerhin, sie steckte die Auswirkungen des Gesöffs überraschend gut weg. Zumindest die körperlichen.
Love me tender. Das stand eingraviert auf dem Flachmann, den sie letztes Jahr auf dem Naschmarkt gekauft und seither immer dabeihatte, versteckt im inneren Reißverschlussfach ihrer Handtasche. Es fiel ihr nicht schwer, ein Schwarzteeglas unbemerkt mit Rum aufzufüllen, sobald der Pegel unter eine gewisse Marke fiel. Trotz des wohligen Gefühls und obwohl der Fiedler ein netter Kerl war, der ihr nach dem Konzert sicher auch gerne privat aufgegeigt hätte, war es nicht zu mehr gekommen als zu ein bisschen Grapschen. Er hatte sie hinauf zur Pension Nachtruh begleiten dürfen, ein schnelles Busserl auf die Wange, ein kurzes Handgemenge, als er ihr die Bluse öffnen wollte, dann war sie in ihr Zimmer gestolpert und betäubt ins Bett gefallen.
Zum Glück hatte ihr Leo letzte Weihnachten diesen Wecker geschenkt, der sie aus jedem Koma holte. Nur dank der digitalen Sirene hatte sie den Termin mit Lotte Prinz nicht verpennt. Dabei hatte sie das Arbeitsfrühstück in weiser Voraussicht erst für zehn Uhr anberaumt.
„Passt das überhaupt noch so spät?“, hatte sie Martha, die jüngere der Tauner-Schwestern, gefragt, die auch schon mindestens siebzig Jahre auf dem Buckel haben musste. Martha hatte übrigens wirklich einen ausgeprägten Buckel und stieg reichlich krumm daher. Das Leben hart an der Grenze zu Tschechien war kein Honiglecken.
„Aber natürlich passt das, Fräulein Prohaska!“, hatte Martha Tauner versichert, „bei uns gibt es keine Essenszeiten wie in den Hotels. Wir sind jederzeit für unsere Gäst’ da.“
Den beiden Damen verzieh Frieda nahezu alles. Auch, dass sie von ihnen nach all den Jahren noch mit Fräulein angeredet wurde. Seit sie 2007 auf die Pension gestoßen war, hatte sie sich keine andere Bleibe mehr gesucht, wenn sie Anfang Juli alljährlich zum Schrammelklangfestival nach Litschau kam, zurückkehrte in ihre alte Waldviertler Heimat. Rosa und Martha hatten diese drei L zu bieten, die sie auszeichneten unter allen Weibern, wie es in der Bibel hieß, vor allem unter allen Pensionsbesitzerinnen: Sie waren liebenswürdig bis zum Gehtnichtmehr, locker im Umgang und – ledig. Alte Fräuleins, wie sie selber von sich sagten, und wenn auch äußerlich gezeichnet durch Falten, gichtige Hände und verkrümmte Rücken, waren sie doch niemals grantig oder gar schrullig wie manche ihrer Schicksalsgenossinnen. Nichts weniger als bewundernswert, wie Frieda fand. Deshalb quartierte sie sich auch jedes Jahr wieder in der Pension Nachtruh ein. Der günstige Preis für das saubere Einzelzimmer – kleiner Erker und Blick auf den Herrensee inklusive – war auch kein Nachteil.
Penzdorf, ihr Penzdorf, hatte sie trotz der Nähe zu Litschau nie mehr besucht. Nicht hart wie Kruppstahl, nein, hart wie P, so sagte man bei ihnen zu Hause und meinte das eigene Dorf damit. Was auch passte, denn die meisten Penzdorfer waren hart im Nehmen und noch härter im Austeilen, beinhart bis in die Weichteile hinein. Seit Mutter tot und das Elternhaus verkauft war, hatte sie es vermieden, diesen Boden zu betreten, wo sie immerhin das Licht der Welt erblickt hatte. Aber es war zu wenig Licht in dieser Welt gewesen, viel zu wenig, und der eisige böhmische Wind war durch den dicksten Lodenjanker gepfiffen bis hinein ins Herz. Ja, Penzdorf und Prohaska – das waren zwei P, die einfach nicht zusammenpassten. Aber sie erinnerte sich noch an jeden Baum dort, an jeden einzelnen Findling. Von denen gab es auch genug in der Gegend, in dieser Hinsicht waren die Penzdorfer wirklich steinreich. Eingeklemmt zwischen drei Hügeln lag das Dorf da, mit seinen granitenen Kobel- und Wackelsteinen in den moorigen Wiesen und Kornfeldern, die den Bauern die Bewirtschaftung erschwerten. Jene gewaltigen Felsbrocken, die seit dem Rückzug der Gletscher hier herumlagen, wenn nicht, wie ein Mythos besagte, noch viel länger, nämlich seit der Teufel höchstpersönlich in einem Tobsuchtsanfall gegen Gott und die Welt mit ihnen um sich geworfen hatte.
Ihre Abneigung gegen Penzdorf hatte zum Glück nicht auf andere Waldviertler Kaffs abgefärbt, und Litschau war ihr von allen das liebste. Dieses Mal war Frieda in der einmaligen Situation, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden zu können, indem sie den Besuch des Schrammelklangfestivals mit Recherchen und Interviews zu ihrem neuen Projekt kombinierte. Nun ja, so ganz als ihr Projekt durfte sie es wohl nicht bezeichnen, wenn sie ehrlich sein wollte. Sie spielte schließlich nur eine Nebenrolle. Denn während sie in der nördlichsten Gemeinde Österreichs hockte, durfte sich Kollege Lussnig mit den internationalen Dimensionen des Themas befassen und in Indien herumkurven. Die klassische Arbeitsteilung eben, was Männlein und Weiblein betraf, da war die sonst so furchtbar progressive Redaktion von opinion um keinen Deut besser als konservative Blätter. Wobei sie sich in diesem Fall nicht einmal darüber beschwerte. Eine Auslandsreise, das war im Moment so ziemlich das Letzte, was sie anstrebte.
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Lotte Prinz sah nicht gut aus, ganz und gar nicht. Ihr Gesicht wirkte aufgeschwemmt, und obwohl sie sich Mühe gegeben hatte, trotz der sommerlichen Wärme Hals und Dekolleté mit einem Seidentuch zu verhüllen, konnte man dort, wo das Tuch verrutscht war, scharlachrote Stellen erkennen.
„Schön, dass Sie kommen konnten“, begrüßte Frieda sie und streckte ihre Rechte aus.
Die Frau hatte ihrem Händedruck nichts entgegenzusetzen, auch sonst wirkte sie völlig kraftlos. Eine schwere Depression, lautete Friedas schnelle Diagnose. Aber vielleicht würde ja eine jede so aussehen, die dieselbe Leidensgeschichte durchlitten hatte.
„Weiß eh nicht, ob es eine gute Idee war, mich mit Ihnen zu treffen“, sagte Lotte Prinz, nahm dann aber doch auf der Eckbank Platz. Frieda schob ihr ein frisches Gedeck hinüber.
„Darf ich Sie zu einem Brunch einladen? Hier gibt es wirklich sehr leckere Kipferl.“
„Danke, aber ich hab schon gefrühstückt, um fünf. Ich steh ja praktisch jeden Tag so früh auf. Wenn man nicht schlafen kann vor lauter Jucken …“
Als müsste sie das Gesagte noch bestätigen, kratzte sie sich ausgiebig am Hals und an den Handgelenken. Erst jetzt bemerkte Frieda den Ausschlag an beiden Unterarmen. Man durfte davon ausgehen, dass auch die verhüllten Partien ihres Körpers ähnlich aussahen.
„Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich unser Gespräch aufnehmen“, sagte Frieda und griff nach ihrem Voicerekorder. „Natürlich