Malefizkrott. Christine Lehmann
In so einer Situation war ein Freelancer wie ich einem Journalisten wie Rudolf mit festem Stuhl und Tisch im Pressehaus nützlich. Ich trug das Risiko, er erntete die Lorbeeren, falls meine Recherchen zu einer druckreifen Geschichte führten.
»Und deshalb«, lockte ich, »wäre es interessant zu wissen, um welche Chemikalie es sich handelt. Es müsste eine sein, die sich nach einer gewissen Zeit, etwa nach einer Stunde, selbst entzündet.«
»Ich ruf mal bei der Polizei an«, beschied Rudolf. »Ich melde mich dann wieder.«
Hatte, fragte ich mich, Ruben eigentlich ebenso wie ich beobachtet, wie Richard das wiederentdeckte Buch in einen der Stapel zurückschob, während die Schraders und der Verleger einliefen? Und wer war zu diesem Zeitpunkt noch im Laden gewesen? Ich hatte zwar niemanden wahrgenommen, aber das musste nichts heißen. Ich hatte auf sehr wenig geachtet an diesem Abend.
Ich nahm das Hybridbuch vom Kneipentisch, wo es seit Donnerstagnacht lag. Als ich es aufschlug, hörte ich mit leisem Knistern die Blätter sich voneinander lösen. Oft war es seit dem Einschuss noch nicht aufgeschlagen worden. Die Kugel hatte das hintere Drittel des Bandes durchschlagen und war als Knubbel noch bis zur Mitte auf den Seiten zu fühlen.
Nur mal angenommen, das Buch wäre der eigentliche Grund für den Brandanschlag gewesen. Womöglich konnte es heute noch jemandem gefährlich werden, einer Marie Küfer, die jetzt Ehefrau einer bekannten Persönlichkeit war, oder Wolfi, der gerade irgendwo eine Wahl gewinnen wollte.
Die Seiten mit dem altertümlichen Textmuster waren gelblich und glatt. Wenn man mit den Fingerspitzen darüberfuhr, spürte man die Eindrücke der Buchstaben vom Druckstock à la Gutenberg. Manche Bücher in meiner Schulbibliothek hatten sich auch noch so mechanisch angefühlt. Die Fremdtexte befanden sich in zwei Lagen ziemlich genau in der Mitte. Ihr Papier war rauer und eng betippt. Bei geschlossenem Buch waren die fremden Lagen übrigens kaum zu erkennen, denn es gab … wie nannte man das? Meine Mutter hatte eine Bibel mit dem besessen, was sie Goldschnitt genannt hatte. Gemeint war damit, dass die Schnittkanten des Buchblocks vergoldet gewesen waren. Gold war es hier nicht, aber ockergelbe Farbe. Ich brauchte dringend einen Buchbinder, der mir die wahren Geheimnisse dieses Buchs erklärte. Durch Blättern kam ich nicht darauf.
Wenn auch – das stand fest – das Buch nicht der Grund für die Brandstiftung gewesen sein konnte. Falls Ruben oder irgendwer anders beobachtet hatte, wie Richard Schloss und Fabrik zurück in den Stapel steckte, hätte er es genauso wie ich herausnehmen und anderweitig entsorgen können.
Verworfen! Aber gut, dass wir darüber nachgedacht haben.
Und dennoch … Nehmen wir an, der Beobachter von Richards Aktion hätte nicht bemerkt, wie ich das Buch hinter Richards Rücken an mich nahm. Er konnte später, als wir alle unten im Keller saßen, danach gesucht, es aber nicht gefunden haben. Zum Beispiel Michel Schrader, der sehr spät in den Keller herabgefußelt gekommen war. Allerdings war er ein bisschen zu jung für eine autobiografische Beziehung zu den 68ern. Genauso wie Ruben Ursprung.
Wäre es mir aufgefallen, wenn der unbekannte Helfer älter als fünfzig gewesen wäre? Hätte Matthias Kern ihn dann für meinen Freund gehalten? Na gut, warum nicht. Richard war auch über fünfzig.
Richard! Er hatte eine Beziehung zu dem Buch. Aber er hätte kein Feuer gelegt. Immerhin kannte er die damaligen Personen höchstwahrscheinlich in ihrer heutigen Gestalt. Die rätselhafte Marie Küfer war seine erste große romantische Liebe gewesen. Nur dass sie in ihm natürlich nicht den Mann gesehen hatte, der er in seiner eigenen Vorstellung gewesen war, ein Thalheim, ein Ehrenmann in verzweifelter Lage, der Einzige, der sie selbstlos liebte, sondern vermutlich ein geschlechtsloses Ding zwischen Mädchen und Pickelbub. Heute allerdings konnte er ihr beweisen, dass er immer Thalheim gewesen war, indem er ihr den Dienst erwies, das verräterische Buch zu vernichten. Was auch immer es verriet.
Und ein Buch vernichten heißt: es verbrennen. Das ist nicht nur ein symbolischer Akt. Es mindert auch das Risiko, dass es ein anderer für sich entdeckt, beispielsweise im Hausmüll auf dem Weg zur Müllverbrennung. Wie schwierig andererseits die individuelle Buchverbrennung ist, hatte Richard uns in Ursprungs Laden geschildert. Es wäre für ihn heute nicht leichter gewesen als damals, denn er gehörte nicht zu den Menschen, die sich das eigene Heim mit einem Kamin gemütlich gemacht hatten.
Also hatte er das Buch in den Stapel zurückgesteckt und …Alles Käse mit Spatzen! Und dennoch waren wir extra eine Dreiviertelstunde zu früh dort gewesen, damit er in aller Ruhe – den Bücherfreund vorgebend – nach diesem Buch suchen konnte, das sich dann sehr schnell eingefunden hatte. Und womöglich enthielt dieses Buch etwas, von dem er uns nichts erzählt hatte, etwas ungeheuerlich Entlarvendes, etwas Brandaktuelles, das jemandem das Genick brach, einem Wolfgang oder Wolfram Soundso, Ehemann von Marie Küfer, der heute Bundespräsident war …
Der hieß allerdings derzeit Horst.
Also alles Unsinn!
Richard hätte das Buch ja wirklich auch nur stillschweigend einstecken müssen, um es später woanders zu verbrennen. Oder zu schreddern! In Schnipsel zerreißen, dem Wind übergeben. Es war definitiv möglich, ein Buch zu vernichten, ohne einen Buchladen abzufackeln.
Ich atmete aus. Lisa Nerz, du musst nicht allen Menschen alles zutrauen. Irgendwo liegt die Grenze zwischen Lebenserfahrung und Misstrauen.
Nur wo? Bitte!
8
Ich suchte im weltweiten Netz gerade nach Buchbindern im Gäu, da klingelte mein Handy. Unbekannte Nummer.
»Ja?«
»Spreche ich mit Herrn Nerz?«
»Wie man’s nimmt.«
»Michel Schrader hier! Ich brauche Ihre Dienste. Am besten wird sein, Sie kommen gleich bei uns vorbei. Dann können wir alles in Ruhe besprechen und den Vertrag fertig machen.«
»Einen Vertrag?«
»Oder wie ist das bei Ihnen in der Branche üblich?«
Eine Stimme, die es gewohnt war zu schicken. Das Bild des filigranen Herrn aus Ursprungs Laden gesellte sich dazu. Der aufgeregte Vater, der selig lächelnde Verleger, die kindliche Autorin. Über den schweren Verlust, den die Buchhandlung Ursprung für das Stuttgarter Kulturleben bedeutete, hatte man die arme Krott und ihr ambitioniertes Büchlein ganz vergessen.
»Ich bin der Vater von Lola Schrader.«
»Schön für Sie. Ob es allerdings für Lola auch schön ist …«
»Sie lesen vermutlich keine Zeitung!«, unterbrach er mich. Er klang wie mein letzter Deutschlehrer: Ulysses in den Augen, Grundgesetz in der Tasche, Goethe in den Nasenfalten. »Und Sie haben sicher auch noch nie von Lola Schrader gehört. Nun ja, in Ihrer Branche kommt man wohl nicht zum Lesen.«
Von welcher Branche redete er eigentlich? »Meinen Sie Bücher?«
»Jaha!« Mein Telefon nickte.
»Tut mir leid, ich bin Internetanalphabet.«
»Das spielt eigentlich keine Rolle. Sie sollen das Buch ja nicht lesen. Und wie gesagt, am besten wird sein, Sie kommen gleich einmal bei uns vorbei. Am Telefon möchte ich das nicht besprechen. Und wir können auch gleich einen Vertrag machen. Falls das in Ihrer Branche üblich ist.«
Zum Teufel mit meiner Branche! Was textete der eigentlich? Ich versuchte zu peilen. »Herr Schrader, wie sind Sie auf mich gekommen? A: über eine Zeitungsanzeige, B: übers Internet, C: zufällig, D: Ich bin Ihnen empfohlen worden. Bitte ankreuzen.«
Der Lehrer trudelte einen Moment. »Na, wenigstens haben Sie Humor.«
Ich habe keinen Humor!
»Man hat Sie mir empfohlen. Sie sind in der Branche ja nicht sonderlich bekannt. Eine Website haben Sie auch nicht.«
Es gab eigentlich nur eine Branche, in der meine Telefonnummer derzeit gehandelt wurde – allerdings nicht mit männlichem Präfix