Malefizkrott. Christine Lehmann

Malefizkrott - Christine Lehmann


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Krücken klemmten in den Halterungen. Das musste er sein.

      Matthias Kerns Schlafgesicht war weich wie das eines Kindes. Sein Lächeln war nach dem ersten Schrecken freundlich und offen.

      »Wir sind uns bei Ursprung begegnet«, stellte ich mich vor. »Ich habe Sie aus dem Laden geschleift.«

      »Ach ja«, sagte er. »Das ist aber nett, dass Sie mich besuchen. Ich habe immer wieder an Sie gedacht. Vermutlich verdanke ich Ihnen mein Leben.«

      »Nur zufällig und keiner bewussten Entscheidung.«

      »Leider habe ich Sie vor lauter Aufregung nicht nach dem Namen gefragt.«

      »Lisa Nerz.«

      »Ah! Die Lisa Nerz?«

      »Welche?«, fragte ich blöde.

      »Schwabenreporterin Lisa Nerz! Ich lese sonntags immer Ihre Rubrik ›Käse und Spatzen‹. Sie schreiben zwar, dass es der Sau graust, wirklich! Sie haben nie Journalismus gelernt, nicht wahr? Aber es hat was. Und wenn sich mir wieder mal die Zehennägel aufstellen, sage ich mir, dass Sie sich vermutlich nur über uns lustig machen.«

      Richard interpretierte das nie so nett.

      »Und Sie sind auch vom Fach?«, erkundigte ich mich. »Nein, Verzeihung! Sie sind Journalist, ich ja nicht.«

      Er lachte fröhlich. »Von irgendwas muss man leben. Eigentlich bin ich Blogger, Internetverleger und … Autor. Aber fragen Sie jetzt bitte nicht, was ich so schreibe. Sie haben es bestimmt nicht gelesen. Sonst …«, sein Gesicht wurde zwanzig Jahre älter, »sonst wären Sie nicht zu dieser unsäglichen Veranstaltung gegangen. Warum ich mir das angetan habe, weiß ich auch nicht. Ich hätte auf meine Freundin hören sollen. Du regst dich nur wieder unnötig auf. Und das hier hätte ich mir auch erspart. Aber ich wollte einfach wissen, was sie für eine ist.«

      »Lola Schrader?«

      »Wie viel hat der Vater dem Verlag wohl bezahlt, damit die das Buch drucken? Und was kann sich ein kleiner, im Grunde bürgerlicher Verlag wie Yggdrasil davon versprechen?«

      »Was ist denn so katastrophal an dem Buch, wenn ich mal fragen darf?«

      Matthias seufzte. »Man kann Lola Schrader nicht nachsagen, dass sie nicht schreiben könnte. Es klingt alles ganz gut, ganz professionell. Und viel besser als ihre ersten Versuche in diesem Blog für pubertierende Mädchen. Das mag allerdings daran liegen, dass alles, was im Buch steht, auch schon woanders steht.«

      »Sie meinen …«

      »Es ist alles zusammengeklaut! Das meine ich.«

      »Abgeschrieben?«

      »Eine Siebzehnjährige und all die Kokainlines, können Sie sich das vorstellen? Dass sie Tilidin säuft wie ein türkischer Diskoschläger und mit einer Horde Vergewaltiger durch die besetzten Häuser von Freiburg tourt?«

      »Vorstellen kann ich mir alles! Man muss ja nicht alles erlebt haben, was man beschreibt.«

      Matthias ließ sich ins Kissen sinken. »Weiß Gott nicht. Man kann es auch einfach irgendwo abschreiben. Generation copy and paste, verstehen Sie? Jetzt sagen Sie, Döblin hat auch Fremdtexte verwendet. Collage und Simultaneität. Ja. Aber da erkennt man, dass es Schlagerzitate sind, zum Beispiel. Und es dient einer Aussage. Welt stürmt auf den Protagonisten in Form solcher Worte, Sätze, Phrasen ein, droht ihn zu überwältigen. Und das Cento …«

      Ich grummelte.

      »Das Flickengedicht, Cento von altgriechisch Kentron – mit Omega –, was Flickwerk, elender Mensch, Spitzbube bedeutet, das war ein Spottgedicht, das man aus zerstückelten Zitaten neu zusammengesetzt hat, damit sich ein neuer Sinn ergibt. Die Zuhörer kannten die Zitate. Ja, man kann immer Fremdtexte benutzen – Zeitungsartikel, Werbung, Gedichte, Lexikonartikel –, auch ohne Anführungszeichen zu setzen und eine Quelle anzugeben. Aber dann muss es der Leser erkennen können, beispielsweise, weil sich aus der Konfrontation eines Gefühls, das der Protagonist hat, mit einem Schlagertext, den alle kennen, ein Verfremdungseffekt ergibt, eine Überraschung, eine neue Erkenntnis, verstehen Sie.«

      »Ich kann folgen.«

      »Jetzt könnten Sie einwenden, Thomas Mann, Die Buddenbrooks, kennen Sie, ja?«

      Ich nickte und schüttelte den Kopf. »Ich werde nichts einwenden.«

      Matthias lächelte. »Der hat alles Mögliche in seinen Roman geflickt, seitenweise aus Lexika abgeschrieben, und niemand regt sich darüber auf, obgleich man es nicht merkt, zumindest heute nicht mehr nach über hundert Jahren.«

      »Die Zeit heilt alle Wunden!«

      »Ungefähr so, jede Blütezeit der Literatur basiert auf der Kraft und Unschuld ihrer Plagiate! … Leider nicht von mir. Wir zwei, Frau Nerz, wir sprechen uns in vierzig Jahren wieder. Und wenn diese Schrader dann mit zehn ordentlichen Romanen ihr herausragendes literarisches Talent bewiesen hat, dann … dann nehme ich alles zurück. Dann war’s Kunst, nicht Raub!«

      Ich ahnte, dass es das gewesen war, was er hatte anmerken wollen, als das Feuer ausbrach. »Und von wem hat sie nun abgeschrieben?«

      Matthias deutete auf den Laptop, bei dessen warmem Rauschen er eingeschlafen war. »Ich bin gerade dabei, die wichtigsten Belege zusammenzustellen. Leider fehlt mir hier ein Zugang zum Internet. Aber über kurz oder lange werden Sie von mir hören, oder besser: lesen.«

      »Da bin ich mal gespannt. Was anderes, Herr Kern. Dieser Typ, der mir und Ihnen geholfen hat, aus der Buchhandlung rauszukommen …«

      Er schaute mich an. »Ja?«

      »Wissen Sie, wer das war?«

      »Ich dachte, das sei Ihr Freund oder so. Er war dann plötzlich weg.«

      »Erinnern Sie sich, was das für einer war? Jung, alt, Spiderman?«

      Matthias lachte. »Sie stellen Fragen! Ich habe echt nicht viel mitgekriegt. Er war besorgt. Freundlich. An die Haarfarbe erinnere ich mich nicht, vermutlich irgendwas zwischen blond und schwarz, eher schwarz. Ich weiß es wirklich nicht. Was ist mit ihm?«

      »Er hat Ihnen das Leben gerettet. Mit mehr bewusster Absicht als ich. Er kam nämlich von draußen rein und hat mir geholfen.«

      »Hm. Vielleicht möchte er unerkannt bleiben.«

      Ich gab Matthias Kern meine Karte, auf der nur meine Handynummer stand. »Vielleicht wollen Sie ja mal ein Bier trinken gehen, wenn Sie wieder raus sind.«

      Am Wochenende hatte ich was anderes zu tun. Montag früh rief ich Rudolf Wagenburg an, einen meiner Ex-Kollegen beim Stuttgarter Anzeiger, und erkundigte mich, was die Brandsachverständigen der Feuerwehr herausgefunden hatten. Der routinemäßigen Pressemitteilung der Polizei zufolge hatte man eine Chemikalie an der Stelle gefunden, wo das Feuer seinen Ausgang genommen hatte.

      »Was für eine Chemikalie?«

      »Wozu willst du das wissen?«, fragte Rudolf.

      »Ich saß unten im Keller bei der Lesung, als es passierte.«

      Der alte Reporter lachte tief aus seinem Trollingerbauch heraus. »Wie schaffst du das nur immer? Unsereiner muss erst hinfahren, und du bist immer schon da, wenn was passiert.«

      »Wer nicht rausgeht, den bestraft das Leben, Rudolf! Musst halt dein Pressehaus mal verlassen.«

      »Wenn ich es verlasse, stehe ich im Stau.«

      »Übrigens, Durs Ursprungs Sohn Ruben hatte ein vitales Interesse daran, dass der Vater den Saustall dichtmacht und er woanders einen überlebensfähigen Buchladen aufziehen kann. Aber ich weiß nicht, wie er es gemacht hat.«

      »Hm«, machte Rudolf. Als erfahrener Journalist wusste er, wo eine Geschichte steckte, aber auch, wie schwierig es war, sie pressereif zu machen. Die meisten guten Geschichten


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