Malefizkrott. Christine Lehmann
ist meine Tochter Lola«, sagte Michel Schrader.
Ihr Händedruck war gewollt lasch. Ich schaute ihr ungeniert auf die Titten. Sie zog die Jacke zusammen. Unser geheimes Spiel begann.
»Darf ich bitten«, sagte der Vater. Im Wohnzimmer standen ein Klavier, Möbel, Unterhaltungstechnik und Leuchtmittel, die den unbedingten Willen zur Gestaltung verrieten. In die weißen Ledersofas würde niemand zu furzen wagen. Die Glasfront erlaubte direkten Einblick auch unterhalb der Gürtellinie. Nach dem, was ich über Feng-Shui wusste, ging es kaum unheimeliger.
Auf dem Rauchglascouchtisch lagen die Süddeutsche, die Welt, der Stuttgarter Anzeiger und das Buch mit dem callgirlroten Cover.
»Ja, das ist es, das Corpus Delicti.« Michel Schrader nahm es hoch, wechselte es von einer Hand in die andere, bevor er es mir überreichte.
Lola lächelte Grübchen in ihre Backen. »Nur so eine Spielerei von mir.«
Ich hielt mir das Buch verkehrt herum unter die Augen und ließ die Blätter unterm Daumen durchratschen.
Michel Schrader runzelte die Stirn. Lola lächelte sich aufs Kinn. Der Unterschied zwischen ihr und mir war nur, dass meine Spielereien nicht gedruckt und unter die Leute gebracht wurden.
Ich kann allerdings seit der Grundschule Texte lesen, die auf dem Kopf stehen, denn nur so hatte ich von meiner ersten Bank aus entziffern können, was die Lehrerin las, wenn sie uns eine Klassenarbeit schreiben ließ. Deshalb hatte mich schon in früher Jugend die Erkenntnis angesprungen: »Die Frau leidet als soziales und als Geschlechtswesen. Es ist schwer zu sagen, in welcher von beiden Beziehungen sie am meisten leidet. Daher ist der Wunsch vieler Frauen begreiflich, dass sie möchten als Mann und nicht als Weib geboren worden sein.«
In den Zeiten meiner Tätigkeit für die Frauenzeitschrift Amazone pflegte ich zu behaupten, dieser Satz sei von Simone de Beauvoir und habe mir schon in der Grundschule die Erleuchtung verschafft, dass es sich für mich nicht lohnte, das Ego-Projekt Frau weiterzuverfolgen. Keine hatte mir jemals widersprochen. Da hatte erst Richard kommen und August Bebels Die Frau und der Sozialismus ins Spiel bringen müssen. Gerne hätte ich diese Lehrerin heute gefragt, was sie damals bewogen hatte, Bebel zu lesen. Ich vermute, sie ist nicht im Schuldienst geblieben. Vielleicht ist sie damals verzweifelt an Ungerechtigkeit und Vietnamgemetzel und wurde – Anfang der siebziger Jahre – aus dem Dorf in die antiimperialistische Stadtguerilla gespült, kaufte einen Wecker, der für einen Kaufhausanschlag benutzt wurde, gewährte einer gesuchten Rote-Armee-Fraktionistin Unterschlupf und ging später in der Lesben- und Emanzenbewegung auf. Damals kannte man ja das iPad noch nicht und hielt deshalb die Weigerung, BH zu tragen, für eine Revolution.
Und jetzt sprang mir aus dem falsch herum gehaltenen Buch der Satz in die Augen: »Hakim lässt Oliva nackt tanzen, während eine Katze sie kratzt und beißt. Immer weiter und weiter, bis er sich entladen hat.«
Ich schaute hoch. Michel Schrader blickte weg. Lola kratzte sich mit kontaktlosem Blick die Hand unter dem langen Ärmel. Für einen Hausaufgabennachmittag war sie arg aufwändig geschminkt. Kajal um die Augen, Lidstrich, Mascara, ein kräftiges Violett auf den Lidern. Emo nannte man diese Farbrichtung. Das kam von Emotional. Emo sein lohnte sich eigentlich eher für Jungs, die sich schminkten und riesige Mützen auf toupierten Haaren tragen wollten, ohne als weibisch zu gelten, was die Lans nicht hinderte, sie zu mobben. Emo-Weibchen weinten nur ständig und ritzten sich die Unterarme.
»Es verkauft sich ganz gut«, behauptete Michel. »Offenbar hat Lola den Nerv der Zeit getroffen.«
Ihr Blick kam hoch und prallte gegen mein Gesicht. Ein kleines Lächeln befeuchtete ihre Lippen.
Na, du Malefizkrott, wer hat dir denn gesteckt, dass Schweinkram mit Gewalt immer den Nerv trifft?
Mit einem Ruck zog sie den Haarvorhang vor ihr Gesicht.
Empfindlich! Sensibel? Ich hätte gerne diese Stimme wieder gehört, mit der sie beim Eintritt in Ursprungs Laden »Guten Abend« gesagt hatte. Aber im Moment spielte sie was anderes. Ich kam nur nicht drauf, was.
»Bitte nehmen Sie doch Platz!«, sagte der Vater.
Ich steckte das Buch in die Innentasche meines Jacketts, legte den Trenchcoat über die Sofalehne und schlug die Beine übereinander. Dabei knallte ich mit der Schuhspitze unter den Couchtisch. Die Platte hob sich. Die Zeitungen rutschten.
»Verzeihung.« Ich rückte die Platte wieder gerade.
»Nichts passiert«, sagte Michel.
Lola kicherte. »Passiert mir auch ständig.« Sie ließ sich schwerhüftig in einen Sessel plumpsen.
»Darf ich Ihnen was anbieten?«, erkundigte sich der Hausherr. »Kaffee? Tee? Wasser?«
»Einen Kukicha«, antwortete ich. »Wenn Sie haben.«
»Ich fürchte, ich weiß nicht einmal, was das ist.«
»Japanischer Grüntee. Aber ein vietnamesischer Soui Bu Mu Tan tut’s auch.«
Michel lachte ratlos.
»Dann nichts, danke.«
»Ein Wasser?«
»Pappo, chill out! Hock di na!«, befahl Lola. Und an mich gewandt: »Sie sollen also auf mich aufpassen. Wie läuft das? Stehen Sie hinter mir mit Sonnenbrille, damit man Ihre Augen nicht sehen kann?«
»Warum sollte ich?«
»Meine Tochter hat Drohungen erhalten.«
Aus einer Schrankschublade zog Michel einen Ordner und setzte sich mir gegenüber. Der Ordner enthielt einen Vorrat Klarsichthüllen. In einigen steckten bereits Zeitungsausschnitte und Internetausdrucke. Offensichtlich war Pappo entschlossen zu dokumentieren, woran seine Tochter sich später einmal erinnern sollte. Er zog drei Blätter aus einer Hülle und breitete sie auf dem Glastisch aus.
Ich löste den Beinüberschlag, um mich vorbeugen zu können, und donnerte erneut mit dem Schuh gegen die Tischplatte.
Es waren fünf E-Mail-Ausdrucke mit Absendernamen wie Ann Onym, Kurt Zeller und Colly A. House. Im Textfeld stand je ein Satz ohne Komma. »Der Tot wird dich bekleiden Schlampe«, lautete der erste.
»Vermutlich meint er ›begleiten‹, typischer Fehler unserer bildungsfernen Jugend«, bemerkte Michel. »Und Tod ist auch falsch geschrieben.«
»Bücher brennen hell Luder« lautete der nächste, und der dritte: »Der Tot wartet auf dich Buchhasser.«
Diese beiden gab es in doppelter Ausfertigung, nur von jeweils anderen Absendern: Nemo Celsior und Fritz Wuehlmaus.
»Natürlich Tarnadressen!«, erklärte Michel Schrader.
»Wahrscheins nur ein Scherz«, sagte Lola. Ich entdeckte keinerlei Angst in ihrem Blick.
»Klingt auch eher nach Penisknochenbruch«, bemerkte ich.
»Wie bitte?«, fragte Michel.
»Nach einem Dauererektor, der sich an Mädchen in Angst aufgeilt«, erklärte ich. Die Sache mit den brennenden Büchern gefiel mir allerdings gar nicht. »Hat er schon angerufen?«
Vater und Tochter schüttelten die Köpfe.
»Sollte er dazu übergehen, dann legen Sie sich eine Trillerpfeife neben’s Telefon. Das bläst ihm das Trommelfell raus. Aber trillern Sie erst, wenn Sie sicher sind, dass es nicht Tante Erna ist, die erst mal zu Atem kommen muss, bevor sie sich meldet.«
Lola gluckste.
»Grammatisch und semantisch sind es eindeutig Drohungen«, bemerkte Michel Schrader streng.
Wir starrten uns an. Wenn sich zwei Männer gegenübersitzen, ist Kommunikation kinderleicht. Man macht eine breite Brust, zeigt die Waffen, man kreuzt sie, einer gewinnt, dann ist alles klar und flutscht, bis zum nächsten Gefecht. Das gewinnt dann auch mal der andere. Michel besaß eindeutig die Bildung.
»Warum