Das Kreuz. Astrid Seehaus

Das Kreuz - Astrid Seehaus


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aus den Augen verloren (vielleicht verdrängt, aber nicht verloren), und ihr Entschluss stand so klar vor ihr wie ein Foto, das man jemandem zeigte. Sie wollte den Hof. Es war ihr Hof. Sie war die Erbin. Die einzige Erbin. Gesa war Mitte siebzig. Warum klammerte sie sich an einen Hof, den sie nicht wollte? Nie gewollt hatte? Den sie im Grunde ihres Herzens hasste?

      Sie schrak zusammen, als das Handy in ihrer Hand klingelte.

      „Ja?“ Sie rechnete mit Gesa, doch es war ein Kommissar aus Heiligenstadt, der sie treffen wollte. „Etwa jetzt?“

      „Spricht etwas dagegen, Ms. Connolly?“, fragte Rothe.

      „Ja, ich habe zu tun.“ Lizzy dachte an das Exposé, das sie noch ausarbeiten musste.

      „Dann vielleicht später?“

      „Möglich, es kommt darauf an. Worum geht es denn?“

      „Ich möchte mich nur mit Ihnen unterhalten.“

      „Ach ja, und Sie meinen, das geht nicht am Telefon? Hören Sie, es passt mir jetzt gar nicht. Rufen Sie mich später noch einmal an!“

      Grußlos legte sie auf.

      Beunruhigt dachte sie darüber nach, was sie ihrer Gastgeberin erzählt hatte. Warum sonst sollte ein Kommissar aus Heiligenstadt anrufen, wenn er nicht etwas von diesem Brief wüsste? Nervös trommelte Lizzy mit den Fingern auf dem Lenkrad. Was hatte sie erzählt? Sie hatte es doch in Scherze verpackt: Peter! Was ihm denn da plötzlich einfiele. Hatte doch sonst keine Vatergefühle. Ob sein Therapeut ihm da ins Gewissen geredet hätte? Sie hatten gelacht, und doch schien Lizzy ihre Sorgen nicht genügend verschleiert zu haben. Natürlich waren sie beschwipst gewesen. Lizzy hatte es gut getan, sich mal keine Gedanken über ihr Äußeres zu machen oder über ihre Wirkung auf die Öffentlichkeit. Sie hatten sich einen angezwitschert und Spaß gehabt. Na und? Was war schon dabei? Nichts, wenn da nicht dieser Brief wäre, den sie vermutlich vorgelesen hatte. Wahrscheinlich ein wenig theatralisch, gespickt mit Scherzen, was aber nichts von seiner Bedrohlichkeit genommen hatte.

      Lizzy griff in die Manteltasche und zerknüllte Peters Brief. Sie sollte ihn vernichten, und diesen Kommissar musste sie auch loswerden. Sie befühlte die raue Struktur des Papiers und lächelte böse. „Nun denn, Herr Kommissar aus Heiligenstadt, so leicht werde ich es Ihnen nicht machen.“

      ***

      Gesa Meyer hatte das Telefon gehört. Den ganzen Tag klingelte es schon. Wie auch den Tag davor, und den Tag davor und davor … würde es denn nie aufhören?

      Sie lag auf dem Sofa, zu schwach um aufzustehen, und ebenso lustlos.

      Vielleicht sollte sie sich doch so ein schnurloses Telefon zulegen. Doch bei Lustlosigkeit würde auch ein schnurloses Telefon sie nicht dazu bekommen, an den Apparat zu gehen. Ächzend richtete sie sich auf. Deprimiert. Müde. Ihre Kopfschmerzen kehrten zurück. Doch sie war zu langsam, das Klingeln hatte aufgehört und sie dämmerte wieder weg.

      Sie sah ihre drei Schwestern vor sich: Meta, Antonia und Lizzy. Lizzy war nur zehn Minuten älter als sie gewesen und seit über sechzig Jahren tot.

      Tot. Was fühlte man, wenn der Zwillingspartner fehlte? Nichts, kam ihr in den Sinn. Was hatte sie empfunden, als ihnen die Todesnachricht überbracht wurde? Sie wusste es nicht mehr.

      Es klingelte erneut. Dieses Mal war es die Türglocke.

      Mit Mühe erhob sich Gesa vom Sofa und schlurfte zur Haustür.

      Ihr Pächter Hans Hermann Eckermann stand vor der Tür. Ewa, seine zweite Frau, war dieses Mal mitgekommen. Die erste Ehe war kinderlos geblieben. Das war der Grund, dass er sich eine andere Frau gesucht hatte. Ewa war aus Polen und hatte ihm drei Kinder geboren.

      Gesa schaltete die Außenbeleuchtung an und stellte fest, dass die defekte Glühbirne immer noch nicht ausgetauscht war. Leonhardt wollte das doch machen. Sie seufzte. Musste sie sich denn um alles kümmern? Die Gesichter ihres Besuches wirkten im Halbdunkel regelrecht gespenstisch.

      „Kommen Sie herein“, sagte Gesa und winkte sie durch den Flur in die Küche.

      Sie wunderte sich auf einmal über sich selbst, warum sie es in den vielen Jahren nie geschafft hatte, ihm das Du anzubieten.

      „Für Sie“, sagte Hans Hermann und drückte ihr eine Flasche Sekt in die Hand.

      Der Pächter ging auf die fünfzig zu. Seine Wangen leuchteten wie rote Äpfel, er neigte zum Bauchansatz, sein Haar wurde schütter. Er hatte sich sehr verändert. Als er sich gleich nach der Wende als Pächter für die Flächen beworben hatte, hatte Gesa irrtümlich gedacht, er würde seinen Vater begleiten, so jung hatte der junge Hans Hermann auf sie gewirkt. Aber er war mit fünfundzwanzig drei Jahre älter als Lizzy und sah sich durchaus in der Lage, das Land zu bewirtschaften. Der Vater hatte seinen Sohn lediglich begleitet.

      „Das Licht über der Tür ist kaputt. Wenn Sie eine Birne haben, kann ich sie Ihnen schnell austauschen“, bot Hans Hermann freundlich an.

      Während Gesa eine passende Glühbirne suchte, sah sich Eckermann in der Küche um. Die Küche war neu und hatte bestimmt fünfzehntausend Euro gekostet, wenn sie nicht sogar teurer gewesen war. Das überraschte ihn, und er fühlte sich irgendwie hintergangen. Mit keinem Wort hatte sie bei seinem letzten Besuch angedeutet, dass sie die Küche erneuern würde. Er ließ sich seine Empfindungen nicht anmerken und wechselte die Glühbirnen. Wenig später saßen sie zu dritt am Küchentisch und leerten die Flasche Sekt, die er mitgebracht hatte.

      ***

      „Hören Sie, der Landrat übertreibt. Mir geht es gut“, widersetzte sich Connolly einem Treffen mit Rothe, der sie erneut angerufen hatte. „Und wenn ich Sie treffen würde, hätte ich sowieso nicht viel Zeit. Und Sie haben sicherlich auch Besseres zu tun, als sich mit einer Schriftstellerin zu unterhalten. Sie sitzen bestimmt an einem Fall, und da will ich nicht stören.“

      Rothe drehte am Rad. Was dachte die sich eigentlich? Dass er einer Fangruppe vorstand? Er würde es zwar nicht aussprechen, aber es gab Sinnvolleres, als einer Frau nachzulaufen, die ganz offensichtlich ihr Leben im Griff hatte und ihn aussehen ließ, als wäre er ein Dummkopf.

      Er biss die Zähne zusammen und wagte einen neuen Anlauf. „Hören Sie, ich möchte mich persönlich davon überzeugen, was es mit diesem Brief auf sich hat.“

      „Nichts“, sagte Connolly. „Weniger als nichts. Peter ist der liebste Mensch auf Erden, und meine Gastgeberin muss etwas in den falschen Hals bekommen haben.“

      „Das freut mich zu hören, Ms. Connolly. Aber vielleicht wäre es besser, Sie ließen mich persönlich die Harmlosigkeit des Inhaltes prüfen. Finden Sie nicht?“

      „Nein“, sagte Connolly und kappte die Verbindung.

      „Diese Frau schafft mich“, stieß Frank aus, als er auf sein Handy starrte. Er war versucht, das Gerät auf der Tischplatte zu zerdreschen.

      „Probleme?“, fragte seine Tochter, die ins Wohnzimmer gerollt kam.

      „Nicht wirklich. Nur dass ich die Anweisung bekommen habe, eine Frau zu beschützen, die nicht beschützt werden will.“

      „Um wen handelt es sich denn?“

      „Rebecca Connolly.“

      „Connolly? Etwa die Connolly? Die Schriftstellerin? Wow, Paps, das ist ja der Wahnsinn! Du kennst eine berühmte Schriftstellerin?“

      „Kennen ist zu viel gesagt. Noch habe ich sie nicht zu Gesicht bekommen.“

      „Und wie willst du sie dann beschützen?“

      Rothe verdrehte die Augen. „Das ist genau mein Problem.“

      „Gibt es Morddrohungen?“

      Frank schaute seine Tochter liebevoll an. „Mein Schatz, du liest zu viele Krimis. Und woher kennst du sie? Hast du ihre Romane gelesen?“

      „Öh, nö, nicht wirklich. Ich habe nur einen angefangen und nicht zu Ende gelesen. Matthias’


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