Fallsucht. Lotte Bromberg
war als Spätgeborene von gleich zwölf Mutterbrüsten umgeben, wurde geherzt, gefüttert und an die Hand genommen. Nur Grete, Lehrerin und beste Freundin der Mutter, die, wenn aufgeschlagene Knie zu versorgen, Lehrer zu befrieden, Taschentücher zu reichen und Schwangerschaftstests zu überstehen waren, die vielbeschäftigte Professorin vertrat, verschaffte dem Nesthäkchen ab und an Luft.
Aber Hanna schien es selten zu viel zu werden. Sie vertrug kübelweise Liebe und verströmte noch mehr. Im dicken Windelpopo saß sie bei heimischen Kammerkonzerten auf dem Schoß der Klavier spielenden Mutter, streckte die dicken Finger nach der Querflöte der Schwester aus, jauchzte der Viola entgegen und legte mit selig geöffnetem Mund ihre kleine Patschhand auf das Cello der Ältesten.
Endlich auf zwei Beinen, sauste sie durch die Wohnung, stiebitzte Kleidung und Lippenstifte ihrer Schwestern, steckte Finger in Schüsseln und Töpfe, besprühte ernst und konzentriert tropische Rankpflanzen und Rauhfasertapete, verschenkte reihum Steinchen, Kekse, Kartoffeln und Zärtlichkeiten.
Ihre größte Sorge war, sie könnte von all dem Leben, das durch die Zimmer flutete, einen Tropfen verpassen. Und so fand man sie allabendlich auf einer Türschwelle, noch ein Spielzeug in der Hand, in komatösen Kinderschlaf gefallen. Trug sie dann eine ihrer Schwestern ins Bett, tappelte sie wenig später mit kleinen Äuglein aus ihrem Zimmer, suchte Licht und Stimmen und krabbelte auf den erstbesten weiblichen Schoß.
Ihr ganzes Leben war Musik um sie. Jeder verschobene Stuhl, jede Blume, der schaufelnde Gang eines Menschen, der Geschmack reifer Tomaten wurde Hanna zu Musik. Frisch eingeschult, erzählte sie ihrer zweitältesten Schwester, der neue Füller sei nicht harmonisch und schlug nach einigen Fehlversuchen die Dissonanz am Flügel der Mutter an. Ihre Schwester berief den Familienrat ein und Hanna lernte erst Klavier-, dann Cello spielen. Vom Kinderarzt als Synästhetin erkannt, lief sie durch Wohnung und Stadt und sang Schwestern und Mutter Farben und Dinge vor. Und hielt das Nesthäkchen sich die Ohren zu, obwohl weit und breit nur das Grundrauschen Berlins zu vernehmen war, hieß es, soeben gekaufte Orangen dem Nachbarn zu schenken, oder die Zahnpastamarke zu wecheln.
Mit den Jahren zogen die ersten Schwestern in die Welt hinaus. Hanna schlief vor der Wohnungstür und fragte, wo Amerika läge. Grete kaufte ein Kaninchen, das bald, nach Hannas Diagnose, es litte unverkennbar unter Einsamkeit, die kein Mensch zu beenden imstande sei, Gesellschaft bekam und kurz darauf hoppelnden Nachwuchs.
Drei Wochen später zog ein Igel, der Gefahr lief, in einem Berliner Park bei Plusgraden zu erfrieren, in die Wohnung, und nahm das reichhaltige Futter so gut an, daß er erst sieben Monate später, begleitet von Hannas Tränenbächen, kugelrund unter den freien Himmel und die dicken Laubschichten Berlins zurückkehrte. Zum Igel kamen Meisen mit gebrochenen Flügeln, eine blinde Drossel, zwei vom Biergarten gegenüber verscheuchte Streifenmäuse, die alte Schildkröte einer verstorbenen Nachbarin und, inmitten eines ausgeklügelt gebauten Terrariums von beachtlicher Größe mit Badeteich und Mittelgebirgsimitat, eine Hamsterfamilie.
Hanna hegte und pflegte sie alle. Wie die Bewohner der Arche Noah rückten Tiere, die sich sonst nie begegnet wären, um ihre kleine Zoodirektorin zusammen, ließen sich Geschichten vorlesen und hörten dem Cello zu.
Als Hanna elf war und die letzte verbliebene Bredowsche Orgelpfeife, fand ihre Mutter, in Anbetracht der nahenden Möglichkeit, das Kind könne sich demnächst für andere Menschen oder gar das gegenüberliegende Geschlecht interessieren, sie sollte keine neuen Tiere mehr aufnehmen. Hanna schluchzte, nie würde sie die Menschen den Tieren vorziehen.
Als Hanna fünfzehn wurde, eine dunkelhaarig grazile Schönheit von einem Meter siebzig, waren nur noch ein dementes Kaninchen und die stoische Schildkröte übrig geblieben, und sie verliebte sich unsterblich in einen Achtzehnjährigen mit verschwommen glitzernden Augen hinter langen Wimpern und sehr vielen Pickeln.
Dreihundertsiebzehn anstrengende Tage später verließ er sie für eine weiche Blondine von Eins fünfzig. Hanna verfluchte ihn mit Gretes Hilfe, schwor Männern und Liebe ab, erwog ein Klosterleben und verliebte sich unsterblich in einen Referendar. Als der nach einem Jahr erfolglosen Schmachtens Schule und Stadt verließ, konzentrierte sich Hanna sublimierend auf ihre Pflichten, übersprang eine Klasse und machte mit knapp achtzehn das Abitur. Sie nahm, gegen Gretes Rat, ein Medizinstudium auf. Dann, im ersten Semester, verschwand ihre Mutter.
Von einem Tag auf den anderen war sie wie vom Erdboden verschluckt. Hannas Schwestern trudelten aus allen Weltregionen ein, füllten die Wohnung mit Tränen und Hilflosigkeit. Die Polizei beschwichtigte, gab sich vorübergehend Mühe und stellte schließlich die Suche ein. Die Schwestern kehrten zurück in ihre Leben, Hanna saß allein in der riesigen Wohnung auf dem Dielenboden, um die Ecke kroch die alte Schildkröte, Hanna weinte und rief Grete an. Die engagierte einen Privatdetektiv, warf ihn nach vier erfolglosen Wochen hinaus und zog an den Rüdesheimer Platz.
Hanna verlernte das Weinen und wurde eine ernste junge Frau.
Mit trödelnden Rockschößen sah Hauptkommissar Oskar Blum seinen Freund traumwandlerisch den Flur hinunterschaukeln. Er zog Jakob in sein Büro. »Und, was wollte Focke?«
»Mir einen Fall andrehen.«
»Wundert mich nicht, Dein Fehlen reißt eine Riesenlücke in den Dienstplan. Wir arbeiten wie die Tiere.« Oskar hüpfte auf die Tischplatte.
»Welche?«
»Was meinst Du?« Oskar sah seinen Freund an. Die Freizeit an irgendwelchen Gewässern hatte seine Haare durcheinandergewirbelt und zwei rötliche Halbmonde auf die Wangen gelegt, direkt unter den Rand seiner altertümlichen Nickelbrille.
»Ich frag mich, welche Tiere. Ameisen vielleicht?« Wieder dieser verträumte Blick. Wo ging er bloß immer hin? Oskar seufzte. »Du bist unmöglich.«
Jakob kehrte auf die Erde zurück und sah ihn an. Tief, dunkel, mitten hinein in die Region, die gesperrt war. »Krank bin ich, sonst nichts,« sagte er. Er löste seinen Blick von Oskar, der schnell die Zugbrücke hochzog. »Deshalb hätte Focke es auch gern inoffiziell. Vor Ende der Gerichtsverhandlung und der internen Ermittlung.«
»Die Ratte.«
»Es ist eine Chance zu beweisen, daß ich noch alle Tassen im Schrank habe.«
Oskar zog die Augenbrauen zusammen. »Du mußt nichts beweisen. Epilepsie ist keine Geisteskrankheit. Alle wissen, daß Du Dich überhaupt nicht verändert hast.«
»Nichts ist mehr, wie es war. Mein Körper spinnt und die Seele steht ratlos daneben. Unterschiedliche Reifungsgrade sozusagen.«
»Kauf’ Dir eine neue Brille, dann wird das schon wieder. Und Deine komischen Wanderschuhe haben ein Loch, weißt Du das eigentlich?«
»Hast Du nicht eben erst gesagt, die Brille sähe aus wie von einem Filmstar und darauf würden die Frauen stehen?«
»Der Filmstar war ein kleiner Junge, der das zaubern lernt. Sag nicht, Du weißt immer noch nicht, wer das ist, es ist wirklich hoffnungslos. Nun hast Du schon so viele Bücher, und wenn es mal welche gibt, die wirklich jeder liest, kennst Du sie nicht.« Oskar schüttelte den Kopf. »Laß uns mit den Schuhen anfangen und wenn Dein Schlag bei Frauen nachläßt, verhandeln wir noch mal.«
»Das ist der neuralgische Punkt, da gehen die Nähte immer kaputt. Ich bringe sie erst mal zum Schuster.«
»Wo lebst Du eigentlich?« Oskar verdrehte die Augen. »Aber zurück zu ernsteren Dingen. Es gefällt mir nicht, daß Focke Dir halboffiziell Arbeit gibt. Er haßt Dich, nicht erst seit Pommerenkes Umzug ins vergitterte Tegel. Du hast allen Grund, auf der Hut zu sein.«
»Kein Problem, ich habe doch meinen weltbesten Beschützer. Der ist sogar Polizist«, sagte Jakob und lachte.
Sie hatte Medizin studieren wollen, um Kranken zu helfen. Der Klassiker. Erst fühlt man mit allem, daß das Kinderherz platzt, schient Drosselflügel, füttert Igel und am Ende wird man Krankenschwester oder Ärztin. Dumm, kindlich, typisch weiblich.
Vielleicht hätte sie aus den Fähigkeiten ihrer langen Finger am Cello etwas machen können. Sie wurde herumgereicht, bei drittreihigen Orchestern