Fallsucht. Lotte Bromberg

Fallsucht - Lotte Bromberg


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      Dummes Mädchen, womit hebt man die Welt aus den Angeln, wenn nicht mit dem Cello?

      Also verdammte sie die Sehnsucht nach der Musik, den liebkosenden Bogen und die schwingenden Saiten in die Nächte und studierte in ihrer Heimatstadt Medizin. Bimste sich abfragbares Wissen ein, schnitt Leichen auf, beatmete Dummis und lauschte dröhnendstimmigen Professoren, die medizinische Weisheiten ausgossen. Das Sauerbruchgequatsche stieß der verhinderten Cellistin bald gallig auf.

      Die wenigen ihr begegnenden Patienten behandelte sie wie in ihrer Wohnung gelandete Singvögel, erwarb sich einen bespöttelten Ruf im Kreis der Kommilitonen, Respekt beim medizinischen Hilfspersonal und wurde nach sechs Jahren universitärer Infiltration als Dreiviertelärztin auf die Straße gespuckt. Voller Elan suchte sie eine Stelle an einem Krankenhaus, um ihr vor Wissen schier platzendes Hirn endlich durch die Arbeit am Patienten zu entlasten.

      Da gerade der Schweinezyklus eine Überzahl aufstrebender Jungärzte produzierte, zog es sich. Kommilitonen landeten je nach Charakterstruktur hinter dem Lenkrad eines Taxis, in bereichernder Pharmabranche oder medizinischer Lobbyarbeit.

      Hanna schob die Promotion hinterher, leistete schlechtbezahlte Nachtschichten im Rettungswagen der Feuerwehr ab, berauschte sich an ihrer rotgekleideten Bedeutung und nahm zuweilen ihr Cello zur Hand. Bis sie nach zwei Jahren eine Krankenhausstelle fand.

      Endlich stand sie, zuversichtlich in kompetentes Weiß gekleidet, den Zumutungen gegenüber, die die biologische Uhr für das zerbrechliche, zerbrechende Menschlein vorsieht. Patienten schauten zu ihr auf, legten Leben bereitwillig in junge Akademikerhände. Aber was anzufangen war mit dem gereichten Leben, hatten die schmalen, langen Finger keine Ahnung. Hanna hatte ein Übermaß an Mitgefühl zu bieten, aber keine wirkliche Hilfe.

      Nach drei Monaten in der Krankenhausschleuse hatte sie gelernt, den Menschen, der von Schwester Fatma in ihr Gesichtsfeld gerollt wurde, in seine mechanischen Bestandteile zu zerlegen. Je länger sie arbeitete, desto kleinteiliger wurde ihr Einsatzgebiet. Am Ende des sich stetig verengenden Mausegangs angekommen, kroch man in seine Nische. Und säbelte, nach zehn, fünfzehn Jahren Aus- und Fortbildung, am Fließband trüb gewordene Linsen aus alten Augen, ersetzte sie durch Hightechprodukte, bei deren Einkauf man alte Kommilitonen wiedersah, nicht übermüdet, in schicken Autos und mit unsauberen Angeboten aus ledernen Aktenkoffern, die auszuschlagen nur einer zu großen Frau einfiel.

      Das war nicht, was Hanna sich vorgestellt hatte. Sie wollte Cello spielen. Klänge hörbar machen, die darauf warteten, geweckt zu werden, jahrhundertelang. Ein Tropfen sein im ewigen Fluß, immer gleich, immer neu. Hanna wollte für Patienten den Bogen führen, den Fluß in Gang halten, ihren Klang finden, Freiräume, den Igel wieder vor die Tür, den Spatzen in die Lüfte entlassen. Flausen halt, weggepustet in der Zugluft des Apparates.

      Aber kehrt man um so weit entfernt vom Ausgangspunkt?

      Das Studium hielt sie für Wartezeit, Lehrjahre, in denen man gestutzt wird, sich an Etüden abarbeitet, ermüdend, aber notwendig für die künftige Fingerfertigkeit.

      Dann kam die Facharztausbildung, die Jagd nach den Linsen. Sie versuchte Kinderheilkunde, Psychiatrie, Gynäkologie, fand Freunde, Förderer, aber keinen Gefallen. Alles schien beliebig und austauschbar, sie selbst immer öfter am falschen Ort.

      Sie las kalhlköpfigen Kindern vor, verscheuchte grüne Männchen, legte überraschten Müttern ihre blutigen Babys an den Hals. Immer ratloser werdend entschied sie sich, vorläufig, für die Allgemeinmedizin, die Weggabelung vor den Linsen. Also blieb sie im Krankenhaus, leistete ab, was eine künftige Allgemeine so durchstehen muß. Nachtschichten folgten auf Spät-, Frühschichten auf Sonntags- und Sechsunddreißigstundendienste, Bereitschafts- auf Feiertagsdienste.

      Sie wurde müde. Die Schultern beugten sich auch ohne Cello, der Kopf geriet aus der lauschenden Neigung in die defensive Senkung. Ihr Instrument staubte ein, sie schlief viel und wurde empfindlich. Wartete auf OP-Termine, um ihr Rabattmarkenheftchen mit dem vorgeschriebenen Blutzoll zu füllen. Verbrachte ihre Zeit mit Organen, die sich schlecht benahmen oder erschöpft den Geist aufgaben. Statt den Bogen zu führen, befreite Dr. Johanna von BredowMenschen von Körperteilen, als hätte der Schöpfer aus purem Übermut ein paar Saiten zu viel aufgezogen.

      Das Leben reduzierte sich auf den biologischen Verfallsprozeß und die kluge, dunkelschöne Ärztin wurde sein Müllmann.

      In Berlin begegnet man der allgegenwärtigen Hektik mit extremer Zeitdehnung. Und so bewohnte die in einer Anglerhütte an der Havel erstochene Schlachtenseer Professorengattin Sarah Schubert noch immer ihr enges, dunkles vorletztes Zuhause. Das wiederholte Drängen des Witwers, den Leichnam freizugeben, war in den Fluren der Rechtsmedizin reaktionslos verhallt. Immerhin war nicht auszuschließen, daß er selbst Hand angelegt hatte. Jakob fand also dreizehn Monate nach dem Mord nicht nur den zuständigen Rechtsmediziner, sondern auch das tiefgekühlte Opfer vor.

      »Ein präziser Stich in den Rücken mit einem kultiviert geschliffenen Messer. Zweischneidig im übrigen. Keine Billigware erfreulicherweise. Keine unerträgliche Anzahl von Rupturen, keine ausgefransten Wundränder, zerprügeltes Muskelgewebe, zerfledderte Gefäße. Ein einziger, wunderschöner Schnitt. Lege artis«, erklärte der Leiter der Rechtsmedizin Dr. BerndCumloosen Jakob auf dem Weg zum Leichenkeller der Dauergäste.

      »Ein Ästhet als Mörder?«, fragte Jakob.

      »Das ist nicht mein Revier. Es war einfach schön, so etwas mal zu sehen, nach all dem Gefetze und Gemansche, das mir normalerweise in meine Stahlwannen gelegt wird.«

      »Und wie wurde der Stich ausgeführt?«

      »Kommen Sie her, ich zeige es Ihnen.« Dr. Cumloosen zog Jakob an seine Brust, hob den rechten Arm und stieß ihn mit einem unterdrückten Schrei in den Rücken. »Das Ganze, so würde ich meinen, in liegender Position.« Er schob Jakob weg. »So weit wollte ich es mit Ihnen nicht treiben.«

      »Danke, sehr zuvorkommend.« Jakob sah an seinem Hemd hinab.

      »Keine Sorge, die letzte Hirnmasse hängt an einer anderen Schürze.« Cumloosen grinste. »Ich freue mich immer, daß unter der Schädeldecke meiner Klienten tatsächlich ein Großhirn verborgen ist.«

      »Was allerdings keinen Rückschluß auf die Lebenden zuläßt«, sagte Jakob.

      Der Rechtsmediziner öffnete eine Tür und machte Licht. »Hier haben wir die Liegenschaften der letzten drei Jahre und die befristete Unterkunft Ihres Havelabgangs.« Er ging die Fächer ab, verglich die Nummern mit seiner Akte und zog ein Fach auf. »Sie kennen das Obduktionsprotokoll?«

      Jakob nickte, atmete durch und hob mit beiden Händen vorsichtig das Leichentuch. Obwohl er wußte, was ihn erwartete, erschrak er. Der Körper wies so viele Narben auf, daß kaum noch ein Stück unversehrter Haut blieb. Nur das ebenmäßige Gesicht und die Brustwarzen ragten blank und schutzlos in das kalte Licht des Leichenkellers.

      »Jahrelange Marter in der Qualität unserer schönen Gegenwart. Was brauchen wir das Mittelalter, wir perfektionieren alles.« Cumloosen deutete auf runde Narben auf beiden Brüsten, sicher sechzig, siebzig an der Zahl. »Der Klassiker: Zigaretten die kleinen, Zigarillos die mittleren, Zigarren die großen. Das erkennen Sie an der Hautstruktur, die unebene Oberfläche der Glut produziert zerklüftete Vernarbung. Erinnert an vulkanisches Gestein, finden Sie nicht?«

      »Können Sie sehen, wie alt diese Verletzungen sind?"

      »Waren Sie mal auf Lanzarote? Eine vernarbte Landschaft, über einen langen Zeitraum entstanden. Ähnliches kann man hier sagen, wenn auch auf Menschenmaß zusammengeschnurrt. Wußten Sie, daß Narbenbildung ein steter Prozeß ist, der Jahrzehnte andauern kann? Diese Frau wurde sicher seit vielen Jahren und bis in die nahe Vergangenheit gequält. In Ermangelung neuer Fläche hat der Täter die alten Krater immer wieder benutzt. Vielleicht waren es auch verschiedene Täter über längere Zeit, selbst wenn die Tote nicht wie eine Prostituierte aussieht, könnte sie aus dem Milieu solche Verletzungen als Andenken mitgebracht haben. Vielleicht weiß der Witwer etwas über das Vorleben seiner Frau?«

      »Wie muß denn eine tiefgekühlte Leiche aussehen, damit Sie sie für eine Prostituierte


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