Fallsucht. Lotte Bromberg
energischen Bewegung die Magensonde ab.
Spritzend verteilte sich der Inhalt des Beutels, seine proteinreiche, physiologisch ausgewogene Nährlösung auf dem Flur. Sie nahm den Schlauch, und richtete ihn auf alles, was sie umgab. Drohte mit ihm, als eine Schwester jammernd in ein Zimmer flüchtete. Sie sah alle Lampen blinken, hörte ein Signalhorn, das sie nicht kannte, dumpf hinter dem höhnenden Gejaule, Gepfeife und Gedonner all der Homunculi, deren fratzenhafte Wesen sich nur ihr zeigten. Als der Beutel leer war, warf sie von einem Rollwagen in ihrer Nähe zwei bräunlichgelb gefüllte Urinale den Flur hinunter, schob Hermine in ihr altes, leeres Zimmer, schloß es von außen ab und verbarrikardierte sich im Schwesternzimmer. Sie fand in der Jackentasche einer Schwester Zigaretten, öffnete das Fenster, steckte sich mit zitternden Fingern eine an und sog mit dem Rauch tief die eiskalte Februarluft in ihre Lunge.
Gut gemacht, Hanna, dachte sie. Sehr, sehr gut gemacht.
VI
Jakob verließ den Gerichtssaal und strömte mit anderen Zuhörern zum Ausgang des Gebäudes. Was erwartete Wladimir, einen Freispruch? Sicher, der Blödsinn mit dem Messer war frei erfunden. Der Stollen behauptete, er sei damit bedroht worden und hatte die anderen Lehrer überredet, das auch so zu sehen. Hätte sein Dienstherr Jakob nicht ein Schweigegebot erteilt – aus gesundheitlichen und internen Gründen wegen noch zu klärender Verletzung der Dienstpflicht –, er hätte das schon richtiggestellt. Wie es wirklich gewesen war, sagte der Bürstenschnitt Katharina Hansig (Mathe, Physik, Chemie), die nur am Hals der Referendarin ein Messer gesehen hatte. Ansonsten war der Fall klar. Wladimir Gonodow hatte bewaffnet eine Schar Lehrer als Geiseln genommen. Vorsatz war ihm nicht nachzuweisen, Messer gehörten ja mittlerweile zum Standardrepertoire der Straßenkleidung.
Der Angriff auf den Stollen mit dem feinen Toilettengehör und der Aversion gegen schwulen Geschlechtsverkehr war provoziert, das war trotz der blumigen Darstellung des Opfers unstrittig. Die freigelassenen Geiseln sprachen für Wladimir, ebenso die Bereitschaft zur Aufgabe. Die Lehrerin Hansig hatte das, so entnahm Jakob den Akten, nach seinem Sturz in die Hand genommen. Sie hatte das Fenster geöffnet, gerufen, wer friedlich sei, könne jetzt reinkommen, Wladimir angewiesen, sich mit dem Gesicht nach unten und ausgestreckten Armen flach auf den Tisch zu legen und mit baumelnden Beinen auf der Tischkante hockend die heranstürmenden Polizisten erwartet.
Zu Jakobs Verletzung konnte sie nichts sagen, außer, daß sie einen Angriff durch Wladimir für unwahrscheinlich halte, da Jakob ihn nicht provoziert hätte. Sollten in der Familie Gonodow je Enkelkinder das Licht der Welt erblicken, wäre sie als Patentante erste Wahl.
Jakob erinnerte sich an nichts.
Nicht an den Stoß, den Fall, die gurgelnden Geräusche, die er gemacht haben sollte, während der Geiselnehmer ihn würgte. Das letzte waren Sternschnuppen, die aus Wladimirs geöffnetem Mund fielen.
Er kicherte. Russischer Sterntaler.
Seine nächste Erinnerung galt dem Krankenwagen. Wildes Geschaukel, Übelkeit, eine Maske vorm Gesicht. Er kippte wieder weg. Besser so. Im Krankenhaus hatte man darauf bestanden, ihn zur Kontrolle eine Nacht dazubehalten. Man vermutete eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff durch den Gonodowschen Würgegriff.
Er fühlte sich nicht gewürgt.
Eher durch die Luft geschleudert wie auf einer Schaukel. Höher und immer höher bis man plötzlich in ein Luftloch zu fallen scheint. Das Seil hängt durch, einen Moment dehnt sich die Zeit und Du wartest mit angehaltenem Herzschlag auf die Entscheidung des Schicksals, ob Du kopfüber die Schaukel umrundest oder doch wieder zurückfällst. Ein Quentchen Freiheit außerhalb der Gravitation, scheinbar. Ist es nicht das, wofür wir leben? Fliegen, frei sein. Der Moment, in dem Du auf den nächsten Hicks der Gottheit wartest. Obwohl Du weißt, fast sicher weißt, Du fällst zurück. Die Umrundung der Schaukel ist eine Illusion, aber vollkommen sicher sein kannst Du nie.
Jakob hatte den Spalt gesehen, die Freiheit von der Schwerkraft. Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff, na klar. Mancher steigt eben nie auf die Schaukel, vielleicht trägt sie nicht oder das Seil reißt. Pech gehabt, nicht jeder wagt.
Jakob übernahm die eichene Gründerzeittür des Amtsgerichts Moabit von seinem Vordermann und ließ die Woge Berlins sich um ihn schließen. Autolärm, Abgase, feuchte Anorakgerüche, Deodorants, kalter Rauch, Hundepisse, Kohlenruß. Berliner Maistimmung.
Die Schaukel war zurückgefallen in jener Nacht. Er hatte flach auf dem Rücken in grüner Umgebung gelegen. Es zog, er fror. Um ihn piepste und tackerte es wichtigtuerisch. Viel Strom wurde vergeudet, um ihn am Abflug zu hindern. Er hustete vorsichtig. Sofort meldete eines der grünen Männchen in den Armaturen seine plötzliche Bewegung mit einem barocken Signalhorn. Ein Pfleger stürzte herein, sah ihn kurz an und wendete sich ausgiebig blinkenden Lichtern hinter seinem Kopf zu. Das Horn verstummte beleidigt.
»Ich habe Durst«, hörte Jakob sich sagen.
»Was Sie brauchen, kommt über den Tropf«, sagte der Pfleger.
»Ich habe Durst«, sagte Jakob.
Der Pfleger ging.
Jakob sortierte seine Knochen, hob vorsichtig ein Bein, die grünen Männchen schwiegen. Bewegen war inzwischen erlaubt. Alles tat ihm weh. Besonders schlimm waren Nacken und Hals. Er tastete sie mit kanülengeschmückter Hand ab. Völlig unempfindlich. Seine Zunge fühlte sich geschwollen an, verletzt. Vorsichtig drehte er sich auf die Seite. Schweigen an der grünen Front. Die Liege war zu unbequem zum Schlafen, eindeutig. Er setzte sich auf.
Nichts geschah, kein Schwindel, kein Kopfweh, nichts. Außer, daß ihm wirklich alles weh tat, sogar die Finger. Er war verkatert, nur ohne Schädelbrummen. Kein Grund, nicht nach Hause zu gehen. Oder wenigstens zum nächsten Wasserhahn und Klo. Er setzte die nackten Beine auf den eiskalten Fußboden, sehnte sich nach heimischen Astlöchern und stand vorsichtig auf. Wo waren seine Sachen? Er sah sich um. Alles grün, kalt, Metall. Dann eben die laute Variante. Er zog die Kanüle aus seinem Handrücken, pflückte sich die Elektroden vom Kopf, wickelte die dünne Decke um seine Schultern, setzte sich auf die Bettkante und wartete auf den Pfleger, den die grünen Männchen aufgeregt herbeipiepten und trompeteten.
»So geht das aber nicht«, sagte der, auf die Monitore zustürzend. Nach kurzer Zeit kehrte Stille ein. Wohltuende Stille, Schlafstille.
»Wo sind meine Sachen?«, fragte Jakob.
»Sie legen sich jetzt schön wieder hin. Wir passen schon auf Ihre Sachen auf, keine Sorge.«
»Wären Sie bitte so freundlich, mir meine Kleidung auszuhändigen und ein Taxi zu rufen, ich möchte nach Hause.«
»Das kann ich nicht, das muß der Doktor entscheiden, ob Sie gehen dürfen, wenn seine Schicht beginnt. Es ist nachts um drei.«
Jakob sah ihm ruhig in die Augen. »Das habe ich entschieden. Ich gehe auf eigenen Wunsch, meinetwegen auch gegen abwesenden ärztlichen Rat, aber ich gehe sofort. Wären Sie also so freundlich, mir meine Sachen auszuhändigen? Wir wollen doch nicht, daß ich mir eine Lungenentzündung hole in diesem Aufzug.«
Der Pfleger legte den Kopf schief und sah ihn an. »Das müssen Sie mir aber unterschreiben.«
Jakob stand auf. »Mir ist kalt und meine Laune sinkt parallel zur Körpertemperatur. Wir gehen jetzt zusammen zu meiner Kleidung, sonst verhafte ich sie.« Er riß die restlichen Elektroden von seinem Kopf und warf sie auf das Bett. Der Pfleger steckte die Hände in die Hosentaschen und ging voraus. Anderthalb Stunden später war Jakob in seiner Wohnung angekommen, hatte den Telefonstecker aus der Dose gezogen, alle Decken genommen, die er finden konnte und sich in seinem Bett verkrochen. Er verschlief die folgenden achtundvierzig Stunden, taumelnd unterbrochen von Gängen zur Toilette, gierigem Trinken von Wasser und müdem Winken zu seiner Spatzenfreundin Frieda, die am Morgen verzweifelt versuchte, ihn zu einem gemeinsamen Frühstück zu zwitschern. Er dachte daran, daß Mai war und die Stadt voller Spatzenfutter, und schlief wieder ein.
Als er erwachte, fühlte er sich anders.
Schon als Jakob Hagedorn, zurückgekehrt von der Umlaufbahn in die Gravitation,