Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 1 - Die Schlacht in Magnitogorsk. Tino Hemmann

Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 1 - Die Schlacht in Magnitogorsk - Tino Hemmann


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ist passiert, Papa? Alle klingen so aufgeregt. Und Katie hat mir nicht mal richtig Guten Tag gesagt.«

      »Der kleine Igor ...«, hauchte Sorokin, während sein Kopf schmerzerfüllt auf das Lenkrad sank.

      »Was ist mit Igor?«

      »Er ... Du wirst ihn nicht wiedersehen können.«

      Sichtlich traurig fragte Fedor: »Hat ihn Onkel Sergei zurück nach Russland gebracht?«

      Einen Moment benötigte Sorokin. Es lief blitzschnell in seinem Gehirn ab: Er könnte den eigenen Sohn belügen, der sofort über Handy oder über ein soziales Netzwerk mit Igor und Sergei Kontakt suchen würde und spätestens dann mit neuen bohrenden Fragen aufwarten könnte.

      »Nein«, sagte er deshalb. »Igor und auch Anja wurden umgebracht. Sie wurden beide ermordet. Heute Nacht. Sie leben nicht mehr.« Nun streichelte Sorokin die Hand des Sohnes, sah wieder auf, sagte: »Es tut mir sehr leid, Fedor«, legte die kleine Hand zur Seite und startete das Fahrzeug.

      »Du meinst, beide sind für immer tot?« Aus Fedors Augen traten Tränen im Dutzend. Wenigstens weinen konnten diese Augen. Er flüsterte: »Papa, findest du immer noch, dass unser Theaterstück unrealistisch ist?«

      Der Vater verheimlichte die Antwort.

      Sorokin fuhr hart an der Grenze zum Verkehrsrowdy aus der Stadt, gab auf der Autobahn Vollgas und blinkte – entgegen seiner Gewohnheit – einen Audi an, der mit Tempo 180 die linke Spur blockierte. Adrenalin sorgte für einen hohen Puls und für niedrige Selbstkontrolle.

      Igor und Fedor waren bereits seit anderthalb Jahren gute Freunde. Sie hatten sich bei den Integrationsnachmittagen kennengelernt. Die Villa in der Südallee 17 kannte Fedor in- und auswendig. Die russischen Väter Smirnow und Sorokin hingegen hatten oft genug so manches Glas geleert, während die Jungs im Haus getobt hatten.

      *

      »Wer hat die Morde gemeldet?« Endlich, nach dem vierten Glas Wodka, hatte Sorokin über eine spezielle Nummer bei Rattner angerufen.

      »Es war ein anonymer Anruf in der Notrufzentrale. Männliche, elektronisch entstellte Stimme. Die Spezialisten arbeiten daran.«

      »Schicken Sie mir den Mitschnitt?«

      »Sie werden mich lynchen, wenn das rauskommt. Trinken Sie gerade?«

      »Es wird nicht rauskommen. – Ich trinke Wodka. Fedor hat auch Wodka getrunken. Jetzt schläft er endlich.«

      »Sie sollten dem Kind keinen Alkohol geben. – Ich saufe gerade Whisky. Und da wir beide ein Glas halten, sollten wir uns endlich duzen. Okay?«

      »Hans, du bist der alte Mann, der das Recht dazu hat, so etwas vorzuschlagen. Habt ihr Sergei informiert?«

      »Man sagt nicht ›der alte‹, sondern ›der ältere Mann‹, Anatolij. – Wir haben es mehrfach probiert, konnten ihn jedoch nicht erreichen. Interpol versucht momentan Sergei Michailowitsch Smirnow ausfindig zu machen.«

      »Sergei hat oft vom Russia Tower in Moskau City gesprochen. Er sagte, das wäre eine einmalige Chance für deutsche Bauunternehmen.«

      »Moskau City?«

      Sorokin goss sein Glas erneut voll und prüfte mit einem Blick, wie viel Wodka noch in der Flasche war. »Das Moskauer Internationale Handelszentrum. Der Bau an Moskwa City wurde 1992 begonnen. Es entstand direkt an der Moskwa. Riesige Luxus-Tower, einer neben dem anderen. Das zweithöchste Bauwerk der Welt sollte der Russia Tower werden, ein absolutes Prestige-Projekt, einhundertachtzehn Stockwerke, über sechshundert Meter Höhe, Kosten anderthalb Milliarden US-Dollar, mehr als hundert Fahrstühle wollte man einbauen. 2007 wurde mit dem Bau offiziell begonnen, sie schafften nicht mal das Fundament, dann zerschlug die Finanzkrise das Konsortium der Geldgeber. 2012 beschloss die Moskauer Regierung, den Bau in einer abgemagerten Form fortzusetzen. Wir haben viel darüber philosophiert.«

      »Ich verstehe. Also vertritt Smirnow die deutschen Anbieter?«

      »Es hat den Anschein, als wäre das so. Ich wage mich jedoch daran zu erinnern, dass das Konsortium eher einen internationalen Anstrich hat.«

      »Also ein Wirtschaftskrieg der Bau-Mafiosi?«

      »Das wäre nicht mehr als eine treffende Vermutung.«

      »Sergei Michailowitsch Smirnow?«

      Der kräftige Mann im Hotelzimmer betrachtete den kindlichen Pagen, der mit seiner bunten Kappe auf dem Kopf wie ein frecher Ersatzclown aus einem mittelprächtigen russischen Zirkus wirkte. »Ja. Was willst du?«

      Aus sicherer Entfernung überreichte der Page dem Geschäftsmann einen verschlossenen Umschlag. »Der ist für Sie. Ich soll ihn nur abgeben.«

      Smirnow nahm den Brief an sich. Der Page rührte sich nicht von der Stelle. Er hielt stattdessen die Hand auf. Was blieb Smirnow, als dem Jungen ein paar Rubel zu übergeben, damit er endlich verschwinden würde? »So leicht möchte ich auch mal mein Geld verdienen«, raunte er.

      Sogleich steckte der Page das Geld ein. »Glauben Sie, mein Herr, leicht ist es nicht. Ich muss ein Jahr für den Hotelbesitzer arbeiten, ohne dass ich auch nur eine Kopeke kriege.« Er schickte sich an zu gehen.

      »Und warum musst du das tun?«, fragte Smirnow mit faltiger Stirn.

      »Mein Vater schuldet dem Hotelbesitzer Geld aus nicht gezahlten Mieten«, sprach der Page. Dann lächelte er. »Aber was soll’s. Hier ist es trocken und im Winter wärmer als auf der Straße. Und fast jeden Tag gibt’s was zu futtern.« Der Junge verschwand in einem Aufzug.

      Smirnow ging bedächtig langsam in sein Zimmer zurück. Er hätte den Jungen fragen können, wer ihm den Brief gegeben hatte. Doch dazu war es jetzt zu spät. In diesem riesigen Hotelkomplex würde er den Pagen wahrscheinlich niemals wiederfinden.

      Ganz offiziell nannte sich Smirnows Einmannunternehmen »Deutsch-Russische Wirtschaftsagentur SMS«, wobei SMS die Initialen seines Namens verkörperten. Eine Frau Smirnowa hatte sich vor knapp sieben Jahren von ihm scheiden lassen, den damals dreijährigen Igor musste sie beim Exgatten zurücklassen, die beiden älteren Mädchen behielt sie.

      Smirnow ließ sich in einem urigen Sessel nieder und öffnete den Brief, nachdem er mehrmals die Fingerkuppen mit der Zungenspitze befeuchtet hatte.

      Erwartungsgemäß war der Inhalt in russischer Sprache verfasst. Kurz und knapp. »Ich empfehle Ihnen, dass Sie vor dem Ausschuss zur Fortführung der Baumaßnahmen am ›Башня Россия‹ das deutsche Angebot als unhaltbar einschätzen und zurückziehen. Ich warne Sie nur einmal.« Und unten stand in großen kyrillischen Lettern:

      »ВОЛКОВ БОЯТЬСЯ – В ЛЕС НЕ ХОДИТЬ!«

      »Fürchtest du die Wölfe, dann geh lieber nicht in den Wald«, flüsterte Smirnow unbeeindruckt. Dann kratzte er sich am Kinn. Schließlich nahm er sein Handy und wählte eine Nummer. Er sprach deutsch mit dem Mädchen am anderen Ende, per Luftlinie 1.730 Kilometer entfernt. »Anja? Ich hatte versprochen anzurufen. Hier ist alles in Ordnung. Bei euch auch? Du musst heute Nacht nicht bei Igor bleiben.«

      »Aber Herr Smirnow, ich ...«

      Smirnow äußerte sich in kurzen Sätzen: »Gib meinem Jungen einen Kuss und grüß ihn ganz lieb von seinem Vater. Das Gespräch kostet viel Geld. Du hast alles verstanden, Anja?«

      »Ja, Herr Smirnow, aber ...«

      »Dann ist ja gut.« Er unterbrach die Verbindung und wählte sogleich eine andere Nummer in Moskau. »Artjom? Ich brauche dich hier. Baltschug Hotel. Sofort.«

      *

      Siebenundfünfzig Minuten später. Artjom stand in der Zimmertür.

      Ein unbeschreiblicher Hüne. Auch er arbeitete als Einmannunternehmen, nannte sich selbst »Der Unschlagbare« und hatte einst seine Kraft dem KGB gespendet. Als man jedoch den sowjetischen Geheimdienst


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