Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 1 - Die Schlacht in Magnitogorsk. Tino Hemmann
Raßwedki« integriert werden, dem neuen Auslandsnachrichtendienst der Russen, was dem SWR jedoch nicht gelang, denn Artjom hatte als damals Vierundzwanzigjähriger seine ganz ureigenen Vorstellungen von der persönlichen Zukunft, und die deckten sich nicht einmal ansatzweise mit denen eines russischen Auslandsnachrichtendienstes. Also gründete er sein eigenes Unternehmen, in dem er sich und seine Kraft anderen zur Verfügung stellte. Er war niemals nur mit Muskeln bewaffnet und konzentrierte sich auf drei Dienstleistungen, die da waren privater Personenschutz, Einschüchterungsarbeit, die er liebevoll »Obraßowanie Taktiki« nannte, sollte heißen »taktische Erziehung«, und schlussendlich sein teuerstes Angebot »Taktitscheskowo Liquidazii«, also die Liquidierung. Selbstverständlich gab es in Artjoms Umfeld keinen Preiskatalog und er arbeitete häufig allein und in einem klar abgesteckten Rahmen. Doch all seine Aufträge bewerkstelligte er so geschickt, dass die beiden Herren vom FSB, die ihn im Auftrag des Inlandgeheimdiensts beschatteten, bereits seit Jahren ein Phantom ohne jeden Beweis jagten. Einen Nachnamen benutzte Artjom, dessen Herkunft völlig unklar war, übrigens niemals.
»Bitte tritt ein.« Smirnow umarmte den Hünen und gab ihm die gewöhnlichen Freundschaftsküsschen auf die Wangen. Er hatte Artjom in der Vergangenheit bereits viel Geld zahlen müssen, wobei es ausschließlich um sehr subtile Aufträge gegangen war, Diese hatte der Hüne stets zur vollsten Zufriedenheit seines Auftraggebers erledigt. Gemeinsame Umtrünke sorgten derweil für eine innige und bleibende Freundschaft. Artjom trug auch heute praktische militärische Kleidung und halbhohe Fallschirmspringerstiefel. Einer Gesinnung folgte er angeblich nicht.
Der Zweimetermann Artjom ging zielstrebig zur Bar des noblen Hotelzimmers und goss sich einen kristallklaren Wodka ein. »Du solltest auch einen trinken, Sergei. Du siehst verdammt beschissen aus.«
»Ich danke deiner Ehrlichkeit. Was glaubst du, was ich die ganze Zeit tue?« Ohne zu zögern reichte ihm Smirnow den anonymen Brief. »Lies das bitte.«
Mehrmals überflog Artjom den Zettel. »Hast du eine Vermutung, wer hinter diesem Schwachsinn stecken könnte?«, fragte der Hüne schließlich, goss teuren Wodka in ein weiteres Glas und reichte es dem Geschäftsmann.
Der trank das Glas in einem Zug aus. »Wie soll ich es sagen. Im Grunde genommen habe ich mehrere Vermutungen.«
Beide setzten sich, Artjom legte die Füße samt Tretern auf ein hochglanzpoliertes kleines, güldenes Tischchen, das als Beistelltisch für Getränke dienen sollte. »Und die wären?«
»Hier, schau dir das an.« Smirnow nahm ein buntes Prospekt zur Hand, ließ es auf den Tisch zwischen beide Herren gleiten und lehnte sich zurück. »Ich schulde dir ein paar Erklärungen. Sollte ich dich langweilen, dann sag es einfach.«
Lächelnd gab Artjom von sich: »Da ich für meine Zeit bezahlt werde, würde ich ein Dummes tun, dich zu unterbrechen, Sergei.«
Ausführlich erklärte ihm der Geschäftsmann die Situation und dass er ein von deutschen Unternehmen geleitetes internationales Konsortium vertrete, dass es noch zwei russische und einen internationalen Anbieter gebe, die alle behaupten, die Bauarbeiten am Russia Tower ordentlich beenden zu können, wobei das deutsche Angebot für die Moskauer Verwaltung wahrscheinlich das interessanteste sein könne, da es vorsehe, den Tower in die ursprünglich geplante Höhe wachsen zu lassen.
Artjom holte tief Luft. »Einer der Anbieter will das deutsche Angebot also sabotieren. Das leuchtet mir ein. Aber welcher?«
»Wahrscheinlich werden wir das erst nach der Angebotsübergabe erfahren.«
»Wann und wo?«
»Im Tower 2000 in Moskau City.« Smirnow schob ein Blatt Papier zu Artjom hinüber. »Am 12. Juni, 12:00 Uhr bin ich geladen. Der Moskauer Bürgermeister wird anwesend sein und die halbe Stadtverwaltung. Es ist ein formeller Akt mit ausgewählten Presseleuten, die praktisch nicht berichten dürfen, bis der Deal in Sack und Tüten ist. Mir werden zwanzig Minuten gewährt, um das Angebot zu übergeben. Der deutsche Architekt Prof. Dr. Helge Grollmann wird mit anwesend sein, falls die Fragen zu speziell werden.«
»Wer ist das?«
»Er wurde mir von BDI und Bund zur Seite gestellt. Wir kennen uns seit Langem. Ein erfahrener Sesselquetscher aus dem Institut für angewandte Hochbautechnologie Potsdam. Wir hatten nur zwei Mal telefonischen Kontakt, er hat auch die Unterlagen auf sachliche Richtigkeit geprüft.«
»Wann triffst du diesen Grollmann?«
»11:45 Uhr im Foyer des Towers 2000.«
»Okay. Ich werde mir ein Zimmer nebenan besorgen und mich ein wenig umhören. Mehr können wir im Moment nicht tun.«
Leipzig 11. Juni
»Fedor?«
Es war Samstag, 10:30 Uhr. Sorokin war bereits um 6:00 Uhr von seinem Wecker aus dem Schlaf gerissen worden. Nun war auch Fedor aus dem Tiefschlaf erwacht. Selbst wenn er sich durchaus einer pädagogischen Untat bewusst gewesen war, hatte Sorokin seinen Sohn in der Nacht mit reichlich Wodka ruhiggestellt. Fedor hatte es im Heulen fast zerrissen, als er sich im Bett liegend der Tragweite des grauenvollen Doppelmordes bewusst wurde.
»Papa?« Der Junge stand im Schlafanzug hinter dem Bürostuhl des Vaters und hielt sich an der hohen Lehne fest. »Was ist?«
»Bitte hör dir das an.« Sorokin zog den Sohn herum, der sich auf seinem Oberschenkel niederließ, und setzte ihm Kopfhörer auf.
Fedor lauschte. Ein Rauschen ertönte. Und dann die hässlich verzerrte Stimme: »Ich wollte nur sagen, es gab eine Schießerei. In der Südallee 17.« Wieder ein kurzes Rauschen. »Ich wollte nur sagen, es gab eine Schießerei. In der Südallee 17.« Mehrmals folgte der gleiche Wortlaut.
Dann nahm Sorokin dem Jungen die Kopfhörer ab. »Kennst du zufällig die Stimme?«, flüsterte er.
»Nein«, antwortete Fedor. »Muss ich sie kennen?«
Sorokin drückte den Jungen an sich. »Musst du nicht, mein Schatz.« Er dachte kurz nach. »Was meinst du, was für ein Mensch steckt hinter dieser Stimme?«
Nun setzte sich Fedor die Kopfhörer selbst auf und lauschte lange.
»Ich wollte nur sagen, es gab eine Schießerei. In der Südallee 17.«
Sorokin wartete geduldig. Als Fedor die Kopfhörer wieder absetzte, flüsterte er: »Ein Mann, ein Deutscher, schon etwas älter.«
»Sehr alt?«
»Nein.«
»Um die dreißig?«
»Älter.«
»Vierzig?«
»Vielleicht.«
»Hast du einen Dialekt erkannt?«
»Ich weiß nicht. Nur ... Ja. Der neue Bürgermeister redet so.«
»Der neue Bürgermeister? Welcher neue Bürgermeister?«
»Ein Grüner. Es kam in den Nachrichten.«
»Ein grüner Bürgermeister? Du meinst den Stuttgarter? Meinst du den Bürgermeister in Stuttgart?«
»Ja. Der ist doch von den Grünen?«
»Ist er. Und er redet schwäbisch. Der Anrufer hat also einen schwäbischen Dialekt?« Sorokin setzte sich selbst die Kopfhörer auf. So sehr er seine Ohren auch bemühte, er konnte weder das Alter des Anrufers nachvollziehen noch irgendeinen Dialekt in der Stimme erkennen.
»Ganz sicher?«
»Hm.« Der Junge blickte geradeaus, als könne er den Bildschirm des Computers sehen, vor dem beide saßen.
»Fedor, bist du dir ganz sicher?«
»Ja. Bin ich.«
»Okay.« Sorokin ließ den Sohn vom Schoß rutschen. »Zieh dich jetzt an und komm dann frühstücken.«
»Ich will duschen. Denkst du daran? In vier Stunden und zweiundzwanzig Minuten musst du mich