Der Tanz der Koperwasy. Bernd Nowak

Der Tanz der Koperwasy - Bernd Nowak


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wurde still. Schließlich erklärte ein etwas Mutigerer: »Wir waren heute noch nicht auf der Post, Tante, aber wahrscheinlich noch nicht …«

      Dann drehte sich Gienia, deren letzter Wusch unerfüllt geblieben war, zur Wand und wir – ignoriert und voller Hochachtung – schoben uns in die Küche hinaus, wo sich, so weit ich zurückdenken kann, schon immer das Familienleben abgespielt hatte.

      In der westfälischen Küche war es ruhig und heimelig, wie mit Resten jener anderen, deutschen Gemütlichkeit versetzt, die auf häuslichen Gerüchen und der vom Ofen her pulsierenden Wärme beruht. So war es hier, dort aber, im Zimmer der Tante, herrschten Starre, Ruhe und Kälte. Und all dies, damit die Kranke leichter atmen und besser schlafen konnte, wobei jedem klar war, dass sich das Leben, mit den sich zwischen unseren Beinen tummelnden Hunden und Katzen, ganz auf unserer Seite vollzog. Auf Seiten der Tante gab es nur noch die zur vollkommenen Starre heruntergekommene Zeremonie der letzten Vermählung.

      Wir, die Heranwachsenden, lungerten ziellos herum, wie irgendwo vergessene Jungs, und warfen verstohlene Blicke auf die selten gesehenen Altersgenossen der ferneren Verwandtschaft. Die blasse Sabina, die Tochter der Tante, schon ein wenig Hausfrau, kochte irgendetwas, ihr Mann, der von der Sterbenden erwähnte Aloch, nahm aus dem Backofen, feierlich wie aus einem privaten Tabernakel, Gefäße mit aromatischem Punsch heraus. All dies geschah, um sich aufzuwärmen, denn der Zufall wollte es, dass das Sterben der Tante auf die Wintermonate fiel, wenn die Feldarbeiten beendet waren und das Geschäft mit dem Vieh weniger wurde. Wenn – kurz gesagt – die Zeit fürs Sterben am günstigsten war.

      Man muss zugeben, dass Gienia es verstand, den Moment fehlerfrei zu wählen, um für uns all die Langeweile, die uns wie eine dunkle Herbstnacht zusetzte, erträglicher zu machen. Ich glaube, alle Verwandten waren ihr ein wenig dankbar, dass sie die Feiertage um einen neuen, etwas makabren Brauch bereicherte. Gern fuhren wir, selbst vom ganz anderen Ende Polens, zu ihr. Gern kämpften wir uns durch das Land, froren in schlecht beheizten Bahnhöfen, garten in überfüllten Abteilen, nur, um die in der Kindheit so verlockende Odyssee erleben zu dürfen.

      Bis zu einem bestimmten Alter fuhren wir zu zweit, Ania und ich. Später fuhr ich meistens allein und ein- oder zweimal mit Michał. Am liebsten war ich mit Ania unterwegs, denn dann war ich mir sicher, dass nichts passieren konnte. Dass sie es immer schaffen würde, mir zu helfen. Später wurde ich allein losgeschickt, man kaufte mir die Fahrkarte und erinnerte mich daran, wo ich umsteigen musste.

      Zur Sicherheit nahm ich allerdings eine Landkarte mit: vergilbt und abgewetzt, mit nicht mehr gültigen Grenzen, aber mit den gleichen Verbindungen wie vor dem Krieg. Grenzen lassen sich ändern, aber Schienen bleiben am Ort, selbst nach allen noch so großen Verschiebungen. Damals bemerkte ich, dass man sich mithilfe des Schienennetzes leicht orientieren kann, wie weit der Einfluss der einen Zivilisation reicht und wo eine andere beginnt. Oder – genauer gesagt – gar nicht vorhanden ist. Und auf einer solchen Landkarte zeichnete ich mir mit einem dicken Strich meine eigene, von Süden nach Norden führende Trasse ein.

      Wir kamen im Morgengrauen an. Der Zug hielt an einer kleinen, in einem Tal gelegenen Station und wir suchten mit unbeholfenen Füßen nach den hölzernen Stufen des Waggons, um – mit dem Köfferchen beladen – nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das schwarze Ungeheuer fuhr weiter, während wir, zwei auf dem geschotterten Bahnsteig stehende Kinder, die nach Ferienfrische duftende Landschaft in uns aufnahmen.

      Wir gingen dann den leeren, sich wie alle pommerschen Chausseen schlängelnden Weg entlang. Wir schritten wortlos nebeneinander her, mit in Träumen verfangenen Gedanken und mit Augen, die die vertrauten Orte wiedererkannten. Den Backsteinschlot ließen wir hinter uns und in der Ferne zeichneten sich das Kirchlein und der Dorffriedhof ab, auf dem die Zwillinge Martas lagen. Beim Sägewerk dufteten die Bretter und gleich dahinter fiel einem der rote Backstein der Tabakfabrik ins Auge. Hier hatte direkt nach dem Kriege Marta, die von allen nur »die Amerikanerin« genannt wurde, gearbeitet.

      Wir wussten nie, auf welche Situation wir treffen würden. In den Telegrammen stand, dass der Zustand der Tante bedenklich sei, dabei war seit der frühesten Kindheit, seit den ersten Besuchen klar, dass sie krank war. Man sprach bei jeder möglichen Gelegenheit darüber. Ringsherum wuchsen die Kinder heran, gingen zur Kommunion, die Familie kam zu Kirchweihen und Hochzeiten zusammen und die Tante lebte gleichsam nebenher und außerhalb der Zeit, mit einer für die Ärzte ungeklärten Erkrankung ausgestattet. Wenn wir uns also zum wiederholten Mal dem Ort näherten, von dem aus die Fachwerkmauern dieses in der ganzen Gegend größten Hauses sichtbar wurden, wich die durch die Reise verursachte Aufregung jäh einer die Kehle zuschnürenden Angst.

      Die Tante fragte auch uns wegen Marta und jedes Mal mussten wir hervorbringen, dass sie »momentan nicht vorhabe, zu kommen«. Marta hatte sich mit unserer Großmutter angefreundet und schrieb ihr oft, aber aus dem, was man mitbekam, zeichneten sich keine Reisepläne ab. Zunächst dachte ich, dass es eine Frage der Entfernung und der vielen Dollars sei, erst später erfuhr ich, dass es um mehr ging. Ein wenig von der Großmutter und ein wenig aus den in den Ferien aufgeschnappten Äußerungen folgerte ich, dass es zwischen ihnen Dinge gab, die viele Jahre zurücklagen, aber für ein Kind war es schwer, sich zu orientieren, und noch schwerer, sich Fragen zu erlauben. Es ging nicht um Geld, denn die kinderlose und berufstätige Marta war eine der wohlhabendsten Personen in unserer Familie und musste nicht auf jeden Groschen achten. Außer dieser Tatsache verstand ich nicht viel; die halb ausgesprochenen Worte und Andeutungen vergrößerten die Verwirrung nur. Immer dann, wenn der Name Marta fiel, öffnete ich aus purer Neugier den Mund.

      Der Weg nach rechts führte nach Brachlewo, wohin ich als Kind, trotz zahlreicher Streifzüge, niemals kam. Die Grenze meiner Welt verlief unmittelbar am Anwesen der Tante entlang, am Ansatz der asphaltierten Gabelung; dahinter begann ein unbekanntes Land. Der dortige Himmel, weiter weg, war wie aus Blei, durch den kein Strahl hindurchdringt, nicht hindurchgelangen kann, obschon es doch etwas Verkehr in beiden Richtungen der Chaussee gab. Manchmal sprang hinter der Kurve ein LKW hervor, nicht selten fuhr an mir ein PKW vorbei, und ich war so vergafft, dass der Fahrer kurz bremsen musste, um mir mit der Faust zu drohen, doch die Fahrtgeräusche brachen – was mir erst jetzt bewusst wird – schon ein paar Meter weiter wie abgeschnitten ab. Die Fahrzeuge, egal welche, wurden unglaublich schnell kleiner und verschwanden zusammen mit den Motorgeräuschen und den sich ringelnden Abgasen im Raum, so als würden sie aufgesogen.

      Nicht nur ich, sondern keiner von der Familie, die doch zahlreichen Geschäften nachging, fuhr jemals in diese Richtung. Schon bei der Nennung des Ortsnamens spürte man geradezu Abneigung. Auch der Pfarrer von Brachlewo (manche sagten noch immer Brachnebrau) wurde von der Tante kaum toleriert. Die offizielle Ursache war seine berühmte Gefräßigkeit, die jede Hausfrau fürchten musste, aber auch in dieser Angelegenheit witterte man eine durch das familiäre Beschweigen bemäntelte Unklarheit. Die Abneigung war gegenseitig. Der Pfarrer kam, wenn er zur Kirchweih erschien, niemals auf meine Tante zu.

      Wir gingen weiter, vorbei an dem zu dieser Tageszeit abgezäunten Kółeczko, wo ein mir wenig bekannter Teil der Familie lebte. Die in den dortigen Häusern wohnenden Anverwandten und Verwandten gehörten – obschon vom Stamm der Koperwasy – zu einem Seitenzweig der Dynastie. Ich erinnere mich wie durch einen Nebel an diese Menschen; sie waren klein, dunkel, mit ein wenig semitischem, rötlichem Einschlag und trugen Vornamen, die mir heute nicht mehr geläufig sind. Der Stammbaum des Geschlechts war recht verworren, sodass mir manchmal schien, dass jeder mit jedem verwandt war, was wohl in gewisser Weise auch stimmte. Niemand außer Großmutter Weber war in der Lage, diese Verwandtschaftsverhältnisse zu entwirren.

      Nach Kółeczko ging man, um mit anderen Jungen zu spielen. Dort war es leichter, einem der Altersgenossen zu begegnen, während andere in den auf den Feldern verstreuten oder sich an der asphaltierten Chaussee hinziehenden Gehöften unauffindbar blieben.

      Die Gehöfte hießen nicht wirklich Kółeczko. Vielmehr bildeten sie das eigenständige Dorf Ołędry Sztumskie. Allerdings benutzten alle den verkürzten Ersatznamen, indem sie etwas hervorhoben, was sowieso klar war: Das Dorf war in Kreisform aufgebaut worden. Dort, mitten auf dem Platz, stand eine der wichtigsten Requisiten meiner Kindheit: eine große gusseiserne Pumpe mit einem abgewetzten glänzenden Griff. Dieses Meisterstück deutscher Gusskunst, das unter unseren Füßen unsichtbar


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