Der Tanz der Koperwasy. Bernd Nowak

Der Tanz der Koperwasy - Bernd Nowak


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in Szene setzte. Damals war noch niemand aus der Familie gestorben, es gab also keinen Grund, sich mit so extremen Lösungen zu beschäftigen. Auch der in der Nähe gelegene Friedhof weckte keine Unruhe. Sicher, ich ging da ab und zu hin und ich kannte schon das kleine Grab von Martas Kindern, aber all das, was aus einer anderen Epoche stammte, konnte die bestehende Bedrohung nicht anschaulich werden lassen.

      Die fast alljährlichen Querelen mit der Tante sorgten für Situationen, denen ich niemals Glauben geschenkt hätte, wäre ich selbst nicht einmal ihr Zeuge geworden. Es geschah, wenn ich mich recht erinnere, im Herbst, nach einer der ersten Gesundungen. Es goss damals in Strömen, wohl an die zwei Wochen lang, und niemand wollte sich rühren. Es stellte sich aber heraus, dass Aloch hinausmusste, und zwar bis nach Sztum, um einen Auftrag zu stornieren. Ob er wollte oder nicht, er musste sich auf das nasse, unter der Dachtraufe stehende Fahrrad setzen und losfahren. Wegen der Blumen. Denn gerade damals hatten sie es, wie sich herausstellte, mit der Ausstattung übertrieben.

      Seit dieser Zeit zahlte die Familie für die Blumen einen kleinen, immer wieder verfallenden Vorschuss, während sie bei anderen Einkäufen Abmachungen traf, die an konkrete Bedingungen geknüpft waren. Ich erfuhr nämlich, dass dies nicht die einzige Vorbereitung war und dass sich die engsten Verwandten der Tante schon seit einiger Zeit um die Ausstattung für ihren letzten Weg gekümmert hatten. Ich wunderte mich über diese Art zu denken, ich war sogar bestürzt, aber im Laufe der Jahre verstand ich, dass sie diese traurigen Probleme nicht so behandeln konnten, als würde zukünftig nichts geschehen.

      Einige Dinge erledigte man früher, andere, die heikel waren, sah man für die letzte Stunde vor. Im Falle der Kleidung gelang es zum Beispiel, einen vorsichtigen, absolut vernünftigen Kompromiss zu schließen. Die von dem mehrjährigen Tanz erschöpfte Familie kam zum Ergebnis, keine Kleider zu kaufen, die sämtliche Merkmale von Einmaligkeit trugen, sondern sowohl das Kostüm als auch die Stiefel sorgfältig auszuwählen. Sie sollten der Tante länger als nur eine Saison dienen. Man vermied Schwarzes und wählte Brauntöne, die zu älteren Damen passten, und man ergänzte das Ganze um geschmackvolle Schuhe mit niedrigen Absätzen. Die schwarze Unterwäsche hatte die Tante selbst gekauft. Sie hob sie im Wäscheschrank auf dem Todesregal auf.

      Es gab noch ein anderes Problem. Das war für ein Kind zwar sonderbar, aber nicht ganz so makaber. Viele alte Menschen, die sich eine Ruhestätte sichern möchten, kaufen auf dem Friedhof eine Parzelle und bereiten sie vor, indem sie einen Grabstein aufstellen und auf der Platte ihren Namen sowie den Namen ihres Ehepartners eingravieren lassen. Die Tante machte das auch. In ihrem Fall stellte sich die Angelegenheit allerdings einfacher dar als sonst. Es war bekannt, dass sie einzeln, auf Ewigkeit allein ruhen würde, weil sie weder verwitwet noch geschieden und schon gar nicht Jungfrau war.

      Ich erinnere mich an sie und sehe immer wieder, wie sie aus dem Zug steigt, ihre Frisur automatisch richtet und – sich rasch aus der Menschenmenge lösend – entschlossenen Schrittes in Richtung Laden geht. Ich höre noch heute, wie sie mit ihren wohlgeformten, in Leder glänzenden Beinen den Asphalt bearbeitet. Leicht tragen die guten Schuhe den nicht gerade kleinen Körper, während sich das anmutige, hoch erhobene Köpfchen kaum bewegt. Ich sehe sie inmitten des Dorfladens mit dem vergitterten Fenster, mit den zwei Töchtern, die sich in ihrer Gegenwart schneller hinter der Theke bewegen als gewöhnlich. Die Tante macht sich an der Kasse zu schaffen, schaut in das Lager, füllt irgendwelche Rechnungen aus und setzt sich schon wieder in Richtung Wirtshaus in Bewegung, um die Höhe der für den Markttag bestimmten Lieferungen festzulegen.

      Gienia, die auf der vom Regen glänzenden Straße entlangmarschiert, an der Kapelle den Gruß des Kirchendieners erwidert, das verrauchte Wirtshaus betritt (der Lärm ebbt respektvoll ab), das sind Bilder aus all meinen Ferien. Irgendwann einmal wurde dieses Portrait durch einen Spazierstock – einem Herrschaftszeichen gleich – ergänzt. Aber das war nur ein Detail. Ehrlich gesagt, hatte ich während meiner ganzen Kindheit den Eindruck, dass meine Tante außer während ihrer Krankheitsphasen wirklich unsterblich sei. Dass dies, wem sonst, wenn nicht ihr, ganz sicher gelänge. Gelingen müsse.

      Sterben ist keine einfache Angelegenheit. Und auch nicht komisch. Man kann darüber zuweilen einen Scherz machen, wie man über ernste Dinge scherzt, also nur des Scherzes wegen. Das weiß man, selbst wenn man es nur einmal in seinem Leben mit einer nicht simulierten Agonie zu tun hatte. Deswegen wäre es falsch, anzunehmen, dass Gienia nach jedem ihrer Tode wieder so auferstand, als sei nichts gewesen, wie bis zur nächsten Folge einer nie endenden Serie. Das war durchaus nicht so. Die Tante behandelte den Tod mit vollkommenem, seiner Majestät angemessenem Ernst. Dies ergab sich aus der schrecklichen Überzeugung, dass diesmal – und bei jedem anderen Mal auch – ihr letzter Moment gekommen sei. Andernfalls wäre es von ihrer sowie von der Seite der Trauernden eine nie endende Komödie gewesen. Sicherlich, wir lächelten dümmlich vor uns hin, wie Kinder das so tun, allerdings nicht so sehr deshalb, weil wir nicht an den nächsten Akt dieses düsteren Trauerspiels glaubten, sondern weil wir nicht in der Lage waren, auf die uns über den Kopf wachsende Situation angemessen zu reagieren. Diejenigen, die die Wahrheit über die Erkrankungen der Tante kannten, waren sich der todbringenden Klinge bewusst, die in jedem Moment – einem Stilett gleich – den letzten Stoß setzen konnte.

      Gut erinnere ich mich an das dunkelblaue Gesicht Gienias und die Gesichter der anderen. Und an die verzweifelten, unsere Blicke suchenden Augen. Ich fühle den stummen Druck der erlöschenden Hand auf meinem Arm und ebenso den stummen Mund, der nicht mehr wusste, was er noch fragen sollte. Ferner herrschte bereits jene gänzlich hoffnungslose Leere vor, durch die keinerlei Worte vordringen können.

      Dass Gienia so oft an die Grenze des Zerfalls geriet – und so oft wieder zurückkam –, grenzte an ein Wunder. Man sieht, Wunder geschehen, ich selbst kann es bezeugen. Unabhängig davon spürte ich – trotz der glücklichen Rückkehr –, dass etwas, irgendeine Welt, zu Ende ging. Dass diese neue Welt, nach dem momentan aufgeschobenen Tod, ein wenig anders war. Die Leere nach dem Tode der Tante musste noch niemand füllen, aber leichte Verschiebungen waren zu bemerken. Jedes Mal übernahm einer der Hausgenossen einen Bruchteil ihrer vorherigen Anwesenheit. Die Erste war die schwächliche Sabina, danach der sich nicht nur um seine Dinge kümmernde Iryś und schließlich, nach dem Tode Sabinas, Aloch, der wie im Scherz – aber trotz allem – diese neuen Grenzen absteckte. Das Herrschaftsgebiet von Gienia Koperwas begann zu schrumpfen.

       II

      Ein oder zwei Jahre, genau weiß ich es nicht mehr, waren vergangen und ich fuhr wieder in die Gegend meiner Kindheit, zur nächsten Beerdigung meiner Tante. Und wieder war alles so wie in einem geheimnisvollen, warmen Märchen. Man stand früh an einem winterlichen oder herbstlichen Morgen auf, ging den kurzen Weg zur Station, setzte sich in das Bähnlein und schlief abermals ein, bevor die Waggons es geschafft hatten, so richtig loszuschaukeln. Danach wachten wir – am Ärmel gezupft – auf, um umzusteigen, suchten unseren Bahnsteig und kletterten auf den hohen Stufen in den nächsten gemütlichen Waggon. Jetzt war es am wichtigsten, sich in den Mantel der Schwester oder eines zufälligen Mitreisenden hineinzuschmiegen und mit der vor sich hin pfeifenden Lokomotive durch die samten schwarze Nacht zu gleiten. Schwaden weißen Dampfes umhüllten die Holzwaggons und die vom Frost bereiften Beschläge, die Scheiben blitzten im widergespiegelten Licht der Laternen und wir, einer neben dem anderen, Abteil für Abteil, einem dahinrasenden Gruppenschlafraum gleich, fielen in einen harten, sich selbst genügenden Schlaf. Die schwarze Gestalt des Schaffners, die einen wankenden Schatten auf den Boden des Pullmannkorridors warf, tauchte dann und wann in den Türen des Abteils auf, stellte sich so in sie hinein, als erwarte sie den Fluchtversuch eines der Mitreisenden, und prüfte – um den Anschein zu wahren – die Gültigkeit der hingehaltenen Fahrkarten.

      Und so vergingen die Stunden. Wenn der Zug mit Getöse über Weichen rollte, betrachtete ich, vom veränderten Rhythmus geweckt und ohne zu wissen, wo ich war, verwundert und im flimmernden Licht der Lampen die verschlafenen Gesichter meiner Mitreisenden. Mit geweiteten Pupillen, nach hinten geworfenen Köpfen und am Körper herunterbaumelnden Armen ließen wir uns – resigniert oder unbewusst – in den schwarzen, wolledichten Abgrund der Nacht tragen. Ein Lichtbündel hinter dem Fenster strich über die Wände des Abteils, war, nachdem es geschwind über die ewigen Schlafmützen


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