Der Tanz der Koperwasy. Bernd Nowak

Der Tanz der Koperwasy - Bernd Nowak


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meiner einsamen Initiation zu beseitigen, ausgerechnet Sabinka war. Mit dem für Frauen eigenen Takt beschwieg sie – so wie sich das wohl jeder Junge wünscht – mein schamhaftes Geheimnis.

      Am Nachmittag, als Kasia vorbeikam, um nach dem Zustand der Tante zu fragen, begegneten sich unsere Augen so, als hätten sie und ich denselben Traum gehabt.

       III

      Krankheiten kommen – sagen Personen, die in Gesundheitsdingen über größeres Wissen verfügen – grundsätzlich vom »Zug« oder vom »Überheben«. Alle anderen, die nicht in reiner Form auftreten, bilden eine Kombination dieser beiden grundlegenden Typen, ihrer Proportionen und ihrer Intensität. Die Krankheiten der Tante hatten die erste dieser Erscheinungen zur Ursache, denn seit frühester Jugend konnte sie dem Überheben entgehen. Sie heiratete im Alter von sechzehn einen zehn Jahre älteren Handelsreisenden und führte an dessen Seite ein leichtes, auskömmliches Leben.

      Onkel Józef war auf größere Waren spezialisiert. Landwirtschaftliche Geräte, die Versorgung der Schmiede mit Rohstoffen, schließlich – und danach vor allem – der Handel mit gestohlenen Pferden. Józef kannte alle Geheimnisse der Branche. Er wusste, wie man ein Pferdefell farblich nachbessert und wie man es aufhellt, wie viel Alkohol man einer Mähre einflößen muss, damit sie im Moment der Transaktion so munter wie ein Jungpferd wirkt. Schließlich wusste er, wo, von wem und wie viele Male ein Pferd verkauft worden war.

      Man sagte, dass es keine Kunst sei, einen Wallach so betrunken zu machen, dass er sich auf sein Hinterteil setzte und verdächtig wieherte. Die Kunst bestand darin, die dem Alter und der Kondition entsprechende Dosis zu verabreichen, die die wundersame Verwandlung der Ware in Bargeld garantiert. Perfekt konnten das die Zigeuner, und nur sie. Ihre Frauen, die Zigeunerinnen, wurden zu minderen Tätigkeiten abgeschoben, zum Diebstahl von Federvieh und zur kartenlegerischen Manipulation fremder Schicksale. Der Onkel ging umgekehrt vor. Sich mit Gienia verbindend, stieß er sie nicht in die Sphäre der Hilfsarbeiten ab, sondern behandelte sie partnerschaftlich. Deshalb wurden sie sehr bald zu einem sich hervorragend ergänzenden Paar.

      Gienia half auf vielfältige Weise bei der Arbeit. Sie überredete und ermutigte die Käufer, flirtete mit ihnen, scherzte, schlüpfte manchmal in die Rolle der Konkurrentin und servierte »auf gutes Gelingen« immer ein Glas Grog. Da der Bauer zu Frühlingsanfang auf den Markt kam, bot sich ein Glas zum Aufwärmen auf jeden Fall an. Den so aufgeweichten Delinquenten ließ die Tante nicht mehr aus ihren Fängen. Sie verstand es, ihn aufzuhalten, den Preis hochzutreiben oder – ohne mit der Wimper zu zucken – einen Vortrag über die Vorzüge des Braunen zu halten, während sie nicht vergaß, dem frierenden Interessenten ein wenig von ihrem »Tee« einzuschenken. Später, nach dem abgeklatschten Handel, folgte der schönste Augenblick, wenn sie den beiden beschwipsten Glückspilzen, dem Pferd und seinem Herrn, mit ungetrübtem und höflich schmachtendem Blick folgte. Sie war die geborene Spezialistin für psychologische Kriegsführung. Ich denke, dass die damals erworbene Selbstständigkeit ihr später, als der Onkel nicht mehr zurückkam, erlaubte, die schlimmsten Jahre zu überstehen.

      Der Beruf des Pferdediebs erfordert Beweglichkeit, gute Beherrschung der Topographie, schließlich die Fähigkeit, seine Ware rasch loszuschlagen. Die Tante musste das nicht erlernen, eher lernte der Onkel von ihr. Das war ein aktives Leben, an der frischen Luft, mit guter Kost. Es half, Figur und allgemeine Leistungsfähigkeit zu erhalten. Sie lebten mit einem Wort glücklich und aßen ein leichtes, umso schmackhafteres Brot. Seit Jahren in der Branche tätig, war sie keine Feldarbeit mehr gewohnt, zu der sie die Eltern seit Kindesbeinen (»Erde macht nicht schmutzig!«) vergeblich anhielten. So also, niemals schwer hebend, war sie auch nie krank. Erst später, bereits nach der Flucht des Onkels, begann ihre Gesundheit zu schwanken.

      Von den neun Kindern Gienias war es Iryś, der außergewöhnlich gelungen war. Eher Philosoph als Schmied (er führte die Werkstatt von Fred weiter, als dieser im Gefängnis landete), war er der Einzige, der das Matriarchat der Tante in eine Männerwirtschaft hätte umwandeln können. Als Ältester begann er recht bald, während der Abwesenheit des Vaters, seinen Platz einzunehmen.

      Seine Führungsqualitäten kamen nicht nur darin zum Ausdruck, dass er bei jedem Dorftanzfest die tonangebende Person war. Denn er war nicht nur ein hervorragender Tänzer, sondern konnte sich auch wie kein anderer prügeln. Dafür war er berühmt, und zwar nicht nur im eigenen Dorf. Er entschied, wenn eine Schlägerei begann, wer schuld war und auf wessen Seite man zu stehen hatte, er sprach, wenn nötig, auch zahlreiche Urteile. Manchmal, wenn eine Feier schon im Gange war, kam man zu ihm nach Hause gelaufen, weil es dort zu brodeln begann und jemand sofort auf seelische oder körperliche Unterstützung angewiesen war. Sich seiner Verantwortung bewusst, ließ Iryś alles stehen und machte sich auf den Weg. Die Tante musste ihn nicht einmal bitten, vorsichtig zu sein. Sie wusste, dass Iryś, wer sonst, wenn nicht er, keinen Fehler machen würde. Genau damit bezauberte er Jadzia.

      Wie jeder Führer fürchtete er sich weder vor fremdem noch vor eigenem Blut. Er war immer bereit, es wegen einer gerechten oder weniger gerechten Sache zu vergießen. Seit seiner Kindheit hatte man ihm eingeflößt, sich niemals gegen die eigenen Leute zu wenden, also stellte er sich immer, auch wenn die Situation nicht ganz eindeutig war, ohne zu zögern auf die Seite der Koperwasy.

      Aus Gesprächen hatte ich noch etwas erfahren. Er war es auch, der die erste Bestattung der Familie Wuttke durchführte. Ich sage erste, denn nach einer Weile hat man sie ausgegraben und auf den Friedhof umgebettet. Iryś nahm genauso, wie er sie begrub, auch an ihrer Exhumierung teil. Er wies den Platz und griff zum Spaten.

      Er war zusammen mit der Tante nach Sedlenken, also das heutige Koperwasy, gekommen. Gienia ging trotz ihres Muts nicht allein auf solche Erkundungsreisen. Immerhin herrschten noch Kriegszeiten. Die Front war gerade vorbeigezogen, allein unterwegs zu sein, war für eine junge Frau gefährlich. Sie hatten auf der Suche nach etwas Passendem gemeinsam schon ein großes Gebiet durchstreift und bei dieser Gelegenheit das eine oder andere mitgenommen. Als sie schließlich auf jenes riesige Gehöft mit Fachwerkmauern stießen, als sie schon aus der Ferne entschieden hatten, dass es das war, ergab sich eine Komplikation. Die mit den Körpern der Getöteten. Sie fanden sie gleich hinter der Darre. Genau so auf einem Haufen liegend, wie man sie, zu einem Haufen zusammengedrängt, erschossen hatte.

      Man könnte meinen, dass er, als er die Familie an Ort und Stelle begrub, ungebührlich handelte. Heute ist es leicht, so zu urteilen, damals standen die Dinge allerdings ganz anders. Da herrschte Krieg, immer noch Krieg, die Toten bestattete man wo auch immer, denn für etwas anderes fehlte die Zeit. Besonders, wenn es um die Front und das an oder hinter der Front liegende Gebiet ging. Dass man sie überhaupt begraben hatte, war bereits ein humanitärer, für die Koperwasy überraschender Akt. Wer dachte damals an ein normales Begräbnis und einen Pfarrer? Wo hätte man ihn suchen sollen, wenn man doch nicht selten gerade einen Pfarrer begraben musste?

      Das Gleiche gilt für die Verwaltung. Es gab in diesen Gebieten keine Ämter, die für Bestattungen zuständig gewesen wären oder Totenscheine hätten ausstellen können. Solche Dinge waren weder möglich noch wurde darauf – wie heute – Wert gelegt. Nicht nur solche Menschen wie die Koperwasy, sondern auch diejenigen, die wirklich an die Wiederauferstehung der Leiber glaubten, konnten nicht viel mehr tun, als die Toten in die geduldige Erde zu legen.

      Jene, die Iryś nicht mögen, können sagen, dass er einfach das Terrain reinigte. Wenn sie wollen, sollen sie so reden, man sollte aber daran erinnern, was die Tante sagte: »Söhnchen, das war Krieg. Und das waren doch Deutsche.«

      Trotzdem hat Iryś es gemacht. Er verspürte wohl auch keine größeren Hemmungen. Alle haben damals Leichen gesehen. Die von Deutschen, von Russen und auch polnische. Außer ihm war damals niemand dabei. Hätte es die Tante vielleicht tun sollen? Sie half ihm sowieso, die Grube zuzuschaufeln, nachdem er die Leichen dort hineingelegt hatte. Man sollte darin eher einen Akt des Mutes erblicken. Genauso, wie er sich später mitten in eine Keilerei begab, tat er bereits am ersten Tag etwas, wofür sich nicht jeder andere entschieden hätte.

      Wenn ich heute über sie alle, diese Koperwasy, nachdenke, weiß ich, dass sie vielleicht gar nicht zu denen gehörten, die es in den Augen anderer verdienten,


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