Der Tanz der Koperwasy. Bernd Nowak
darstellt. Eines Lebens, das genauer betrachtet gar nicht notwendig ist. Das nicht nur in einer von uns geschaffenen Welt, sondern im gesamten Weltall keine Chancen hat. Ein Leben, das nicht das Recht und die logischen Voraussetzungen hat, um zu existieren. Und dennoch ist es da. In der Wiege, im Steckkissen oder im Bettchen. Das große, herrliche Leben mit feuchter Windel zwischen den Beinen. Und wenn dieses Leben Gott ist – wer wird ihm dann widerstehen können?
Aus diesen Gründen, die wir als Kinder gar nicht formulieren konnten, blieben wir während der Festtage zu Hause. Wie gingen zur Christmette und danach, am zweiten Feiertag und in der Zeit der gesamten Oktav, zur Krippe. Begeistert und entzückt von diesem in einer Position erstarrten Püppchen, kalt und in der kalten Kirche liegend, aber immerhin lächelnd. Geheimnisvoll lächelnd, nicht zu uns hin, sondern wie zu sich selbst, in Gedanken an das Wunder, das geschehen war – aber vielleicht auch zu dem Vater, mit dem man zu dritt diese in ihrer Art einzigartige Ankunft erdacht hatten. Und dieses Lächeln, das von seinem Gesicht erstrahlte, füllte den gesamten Kirchenraum aus, setzte sich allmählich wie die Schneeflocken draußen auf Kleidung und Gesichter und erneuerte uns zumindest ein wenig. Wenn auch nur für diesen einen Tag. Wegen dieses Tages und dieses Gefühls waren wir immer mit Großmutter zusammen. Außer einer einzigen Ausnahme. Als wir an Weihnachten zu den Koperwasy fuhren. Die Kinder allein, denn Großmutter wollte aus uns unerfindlichen Gründen zu Hause bleiben. Warum das so sein musste, erfuhr ich erst Jahre später.
Die Feiertage bei den Koperwasy begeisterten uns nicht. Zwar vollzog sich alles, wie es sich gehört: Heiligabend, Christmette, Geschenke. Und nach den Feiertagen organisierte Aloch eine gemeinsame Schlittenfahrt – aber es war dennoch nicht so, wie es hätte sein sollen. Es war nicht bei uns. Nicht zu Hause, nicht im eigenen Nest, nicht bei Großmutter. Wir waren nicht unter uns, sondern wie Anhängsel. Und wir spürten das alle. Immer wieder sah ich, dass jemand von uns allein in der Ecke saß, was bedrückend traurig war.
Aber es hatte so kommen müssen. Heute weiß ich, dass es sein musste. Dass Großmutter richtig gehandelt hatte. Was war passiert? Es war nichts passiert, was für Großmutter neu gewesen wäre. Nur, dass es diesmal im Geheimen und in unserem Haus geschah. Sie hatte uns zu den Koperwasy verfrachtet, damit das Haus leer war. Großmutter nahm während unserer Abwesenheit eine Entbindung vor.
Eine Schwangerschaft lässt sich nicht verbergen, eine Geburt sowieso nicht, sie ist recht gut voraussehbar. Aber diesmal geschah es plötzlich, genauer gesagt, erfuhr Großmutter erst im letzten Moment davon. Eines Tages, bereits zu Beginn der Ferien, wurde sie von einem Mann besucht. Es war der Vater von derjenigen, die sich auf das Wochenbett vorbereitete, einer jener wenigen Deutschen, die übrig geblieben waren. Nach eben diesem Gespräch mit ihm, das natürlich auf Deutsch geführt wurde, verkündete Großmutter, dass wir über die Feiertage zu den Koperwasy fahren würden. Wir waren überrascht, aber Großmutter antwortete auf unsere fragenden Blicke nur: »Es muss sein.« Danach – wie zur Abmilderung – fügte sie hinzu: »Irgendwann einmal erkläre ich euch das.« Und damit genug.
Also fuhren wir hin. Und Großmutter führte die Entbindung durch. Das Mädel wurde im Schutz der Nacht gebracht. Und danach, als alles zu Ende war, auch wieder nachts weggebracht. Nicht in ihr Dorf, sondern nach Breslau. Wo sie niemand kannte. Sie fuhr zusammen mit ihrem Bruder, der einige Jahre lang ihren Ehemann mimen sollte. Und den Vater des Neugeborenen. Der echte war unbekannt und nicht feststellbar.
Es gab mehrere echte Väter. Das Mädel war von Russen und Polen, siegreichen Soldaten, vergewaltigt worden. Wie durch ein Wunder kam sie mit dem Leben davon und wie durch ein Wunder wurde sie von ihrer Familie wiedergefunden, die wusste, dass sie sich an niemanden wenden konnte. Die, wenn sie sich sogar für eine Abtreibung entschied, keine Möglichkeit hatte, sie durchzuführen. Also gab es nur die Zeit und das Warten. Die Zeit und die Hoffnung, dass es gelingen würde, sich etwas auszudenken. Eine Lösung zu finden. Ich weiß nicht, was und wie sie dachten, ob sie etwas entschieden oder sich dem Schicksal ergeben hatten. Immerhin war an jenem Tag ihr Vater zu Großmutter gekommen, die ohne zu zögern alles beiseiteschob, sogar uns und Weihnachten.
Damals also, an Heiligabend 1946, kam jener Junge zur Welt. Von einer deutschen Mutter, von einem unbekannten Vater, einem Polen oder Russen. Der vielleicht bis heute noch unter uns lebt. Der – um mich so auszudrücken – wie ein lebendiges Denkmal jener Zeiten weiterlebt. Chaotischer und schlimmer Zeiten, wie die Abgründe der menschlichen Seele.
Die Geburt erfolgte in der Nacht. Ebenfalls in der Nacht kam der Pfarrer zu Großmutter, um das Neugeborene zu taufen. Er kam allein, von Großmutter gerufen, die wieder einmal Taufpatin wurde. Der Pfarrer kam mit einem dicken Buch unter dem Arm und mit einem Gefäß voll Weihwasser. Er kam wie einst jene drei Könige zu dem Kind, ohne Gold, aber mit Weihrauch. Mitten in der Nacht lief er mit dem Weihrauchfass durch das ganze Haus. Denn in dieser Nacht führten diese zwei Menschen, von denen der Mann nicht nur kein Vater, sondern etwas wie ein Anti-Vater war, den kleinen Jungen in die Welt ein. In eine Welt, die rings um sie herum wütete. Eine von Herodessen erfüllte Welt, der sie sich entgegenstellten. Gegen die sie, eingeschlossen und bei verschlossenen Fensterläden, ein Leben vor einem rachsüchtigen Blutbad bewahrten.
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