Der Tanz der Koperwasy. Bernd Nowak
Damals aber waren sie für mich die Wichtigsten. Sie verdienten in den Augen des Kindes, die wie ein Vergrößerungsglas sind, Aufmerksamkeit. Sie füllten den Horizont der Kindheit.
Sicherlich waren sie keine sogenannten Persönlichkeiten, aber gerade deshalb trieben sie auch niemanden in die Enge. Jeder wuchs dort so auf, wie er wollte. Ohne züchterische Eingriffe, wie größeres oder kleineres, mehr oder minder gelungenes Unkraut. Nur Marta war vielleicht eine Ausnahme.
Das muss ich allerdings präzisieren. Jeder von ihnen war für mich wichtig, denn jeder unterschied sich durch irgendetwas vom anderen. Bereits die grundsätzliche Teilung in Frauen und Männer bildete für die Koperwasy die Grundlage für weitere Unterscheidungen. Außerdem die Kleidung und die Gesichter. Die Kleidung vielleicht am wenigsten, denn damit beschäftigten sie sich angesichts ihrer Möglichkeiten in geringem Maße. Doch die Gesichter, obschon ähnlich, waren der Anfang weiterer Klassifizierungen. Nicht für äußere Unterscheidungen, sondern für die in die Tiefe reichenden. Und menschliche Gesichter waren für mich – trotz allem – ein großes Geheimnis; sie sind es noch immer. Als der am stärksten vergeistigte Teil des Menschen, mit Augen und Nase, ließen sie darunter die Existenz – noch nicht der Seele – aber eines Innenlebens voller Rätsel und Möglichkeiten vermuten. Sie verbargen unter der Haut der Stirn die Erinnerung an all das, was sich viele Jahre vor mir ereignet hatte, und bewahrten eine unzugängliche und unverständliche Weisheit. Ich war nämlich zutiefst überzeugt, dass alle Erwachsenen das verstehen, was man in meinem Alter nicht wissen kann. Dass man automatisch, nach Überschreitung einer recht vagen Grenze, eine Erleuchtung erfährt und weiß, oder zumindest vermutet, wofür man lebt. Und, wie man leben sollte. Woher sollte ich, ein Kind, wissen, dass dies nur eine weitere Mystifikation war.
Iryś war einer der begabteren Diebe. Onkel Fred, ein guter Kumpel Kazik Krupniaks, des ersten Mannes von Marta, nahm ihn – trotz seines jungen Alters – auf seine Streifzüge mit. Sie fuhren bis zur Festung Breslau, um von dort mit Fuhrwerken zurückzukommen, die mit allerlei Gut beladen waren. Die Tante begleitete sie. Sie wusste nur zu gut, dass diese Philosophen ohne sie nichts, was für die Hauswirtschaft nötig war, herbeischaffen würden. Gerade zu jener Zeit versorgten sie die Gegend mit starken Pferden, die auf deutschen Höfen davongekommen waren. Und mit Aloch, wenn man das so sagen darf. Denn bei einer dieser Unternehmungen kam er mit ihnen hierher. Und blieb.
Die ersten waren die besten Monate. Später fingen schlechtere an. Es wurde kontrolliert, man forderte Empfangsscheine und Genehmigungen oder immer größere Schmiergelder – was so weit ging, dass sich die Sache nicht mehr lohnte. Iryś hatte noch die Idee, die Güter per Bahn herzuschaffen, aber das gelang nicht öfter als zweimal. Beim dritten Mal bekam es jemand mit – und alles ging verloren. Es gelang ihnen noch, die jungverheiratete Marta mit hineinzuziehen. Nur einmal, was aber genügte, dass sie – nach der Geschichte mit dem Russen und nach dem Tod der Kinder – gerade in jene Gegend reiste.
Nicht reiste, sondern floh. Dort eine neue Bleibe zu finden und von Neuem anzufangen, war recht einfach. Es genügte, an die Haustür eines verlassenen Hauses einen Zettel – »Von einem Polen belegt« – zu hängen, und man wurde zum Besitzer des gesamten Gehöfts mit all seinen Gerätschaften. Sie war eine der Ersten. Sie wählte ein hübsches Haus mit kleinem Garten und wirtschaftete einsam auf ein paar Morgen Land.
Diese Einsamkeit war, wie sich bald herausstellen sollte, unvollkommen. Man wunderte sich, dass sie die Offerten der von hinter dem Bug heranströmenden Freier ablehnte. Man wusste nicht, dass der Platz an ihrer Seite bereits besetzt war. Durch Kurt. Eines Tages nämlich, als sie in den Schweinestall ging, um etwas zu holen, stieß sie auf einen vor dem Trog knienden Soldaten in Uniformfetzen. Er nahm gerade das restliche Schweinefutter heraus. Niemand von den beiden geriet in Panik; beide hatten schon so viel gesehen, dass sie sich über nichts mehr wunderten.
Der mit deutschen Uniformresten bedeckte und von mehrtägigem Bartwuchs schwarzgesichtige Kurt sah aus wie ein menschlicher Fetzen. Der junge Organismus sollte aber bald wieder zu Kräften kommen. Nach ein paar Wochen kam Kurt wieder zu sich und begann mit seinen Reisevorbereitungen. Marta besorgte ihm einen Anzug und eine hübsche Reisetasche.
Eines Tages verschwand er aus dem Dorf; im letzten für die Flucht geeigneten Moment. Sie verschwanden beide. Kurt wusste nur zu gut, dass sie ihn erschießen würden, wenn sie ihn fänden. Bevor er auch nur im Stande gewesen wäre, den Mund aufzumachen.
Die Abwesenheit Martas entdeckte man erst nach vier Tagen. Direkt vor der Flucht hatte sie den Tieren noch Futter in den Trog gelegt, aber als keines mehr da war, alarmierten die im Stall eingeschlossenen Kühe die nächsten Nachbarn durch lautes Brüllen. Diejenigen, die das Haus als Erste betraten, fanden eine in der Eile hinterlassene Unordnung vor, ein Koppel mit der Aufschrift Gott mit uns sowie zwei Knöpfe. Gerade wegen dieser auf die Fantasie eines Kindes wirkender Accessoires und der über sie verbreiteten halb legendären Erzählung schlichen sich vollkommen neue Gedanken in meine Kindheit ein. Das, was magisch und unschuldig war, begann unumkehrbar auszutrocknen. Ich betrat den schwierigen Weg von Gut und Böse.
Die Geschichte Kurts erfuhr ich erst später, übrigens von Marta selbst. Er war einer der wenigen, dem es gelungen war, aus Lambsdorf zu entkommen. Von polnischen und sowjetischen Kommandos verfolgt, schlug er sich nächtens nach Westen durch. Er versuchte, zu Großmutter Weber, seiner Mutter, zu gelangen, die, in der Hoffnung, dass sie ihm würde helfen können, von Pommern dorthin, in die Nähe gezogen war. Vollkommen entkräftet, nachdem er zahlreiche Märsche zu Ehren Adolf Hitlers – wie dies von den polnischen Kapos bezeichnet wurde – hinter sich gebracht hatte, konnte er kaum noch die Beine schleppen. Als der erste Schnee fiel, beschloss er, abzuwarten. Hungrig und frierend stieß er auf den Schweinestall Martas. Sie wurden ein Paar und verbanden so meine beiden Familien, die der Koperwasy und der Großmutter Weber, miteinander.
All dies blieb über die Jahre in geheimnisvollen Vermutungen versunken. Entweder wusste Gienia nicht so viel oder sie wollte das Thema nicht berühren. Aber es war ausgerechnet die Tante, die mir bewusst machte, dass es schien, als würde jemand, wenn nicht das Schicksal aller, so doch das von Marta lenken. Als hätte sie jemand von hier, wie einst aus Ägypten, herausgeführt. Wie durch Zufall flüchtete ihr zweiter Mann aus dem Gefängnis, als ihr erster Mann Kazik gerade seine Strafe absaß. »Das Gefängnis hat ihr einen Kerl genommen und einen Kerl gegeben«, erklärte sie mir philosophisch. »Es hat ihr den besseren gegeben und den schlechteren genommen. Weil Kurt, obwohl Deutscher, besser ist.«
Damals verwunderte mich dieser Satz, denn ich wusste, dass Kazik Krupniak gleichsam ein Zögling der Tante war. Aus dem Priesterseminar geflogen, wurde er von den Koperwasy noch vor dem Krieg, als das junge Ehepaar seine Karriere begann, aufgenommen. Relativ schnell erreichte er die bequeme – wenn auch der Würde etwas abträgliche – Position eines angeflickten Bruders. Als man begann, nach einem Heiratskandidaten für Marta Ausschau zu halten, kam die Familie einvernehmlich zum Ergebnis, dass es wenig Sinn mache, einen fremden zu nehmen, wenn man einen eigenen habe. Einen guten, recht vermögenden und allseits bekannten. Auch vom Aussehen her fehlte es ihm an nichts. Hochgewachsen und dunkel, mit weißen Zähnen und gelockten Haaren, war er ein im Dorf auffallender junger Mann. Marta ließ sich überreden, obwohl ihr Kazik, warum auch immer, nicht so ganz gefiel. Über das Schicksal der ersten Ehe von Marta erfuhr ich zunächst etwas von Aloch, später von dem unglückseligen Kazik. Den Rest erzählte sie mir dann selbst.
Es war schon nach Kriegsende. Die Russen kehrten etwas lustlos ins sowjetische Paradies zurück, Dankbarkeit und Angst legten einem nicht nur nahe, alles mit ihnen zu teilen, sondern sich auch über ihre Anwesenheit und die neue Form von Freiheit zu freuen. Also freute man sich auch. Gerade da tauchte Grischa im Dorf auf. Onkel Ed, Inhaber einer erbeuteten Schmiede, freundete sich schnell mit dem Offizier an und bewirtete ihn wochenlang auf den gerade in Besitz genommenen Ländereien. Mehrtägige Zechgelage, die mit dem vor Ort beschafften Schwarzgebrannten versetzt waren, dauerten an. Unters Messer kamen Ferkel und schließlich auch Ziegen, die die Kriegswirren überstanden hatten. Gemordet wurde alle Schöpfung, die man anfangs noch abtastete, dies aber später ließ.
An der nicht enden wollenden Feier der Sieger nahm auch Krupniak, ein enger Freund des russischen Leutnants, teil, dem er die wärmsten – wenn auch recht trunkenen – Gefühle entgegenbrachte. Bis zur