Der Tanz der Koperwasy. Bernd Nowak

Der Tanz der Koperwasy - Bernd Nowak


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Freundschaft und sie boten ihm Blutsbruderschaft an. Später, nachdem sie sich aus dem Haus gewälzt hatten, schossen sie mit Pistolen Salut oder – nüchterner geworden – auf die sogenannte Freiheit und den Sieg. »Das waren«, erinnerte sich die Tante, »wirklich großartige Zeiten.«

      Der Gesellschaft schlossen sich auch andere an. Die Männergesellschaft (manchmal wurde eine der Soldatinnen mitgebracht oder, was besser war, eine erbeutete Deutsche) lumpte besinnungslos vor sich hin. Fast jeder der Russen schleppte all das mit sich herum, was er gestohlen hatte. Auf seine Findigkeit stolz, war man sofort bereit, einen Tauschhandel – etwas gegen nichts – abzuschließen.

      An einem dieser Tage wurde beschlossen, das Zechgelage mir der Heirat der jungen Leute zu verbinden. Marta wehrte sich, stimmte aber – in den Wahnsinn der Feier mit einbezogen – schließlich zu. »Koperwasy! Koperwasy!«, schrie man bei Tisch und stieß so mit den Gläsern an, als wäre dieser Name mehr als nur ein Name. Als wäre es der alte Schlachtruf eines Geschlechts, das man jetzt neu entdeckte und präsentierte – wie ein frisches Wappen.

      Die Hochzeitsfeier musste natürlich drei Tage dauern. Niemand von den Hochzeitern konnte sagen, wann die Feier begann und wann sie endete. Noch lange nach der kirchlichen Trauung (die ausgerechnet der Pfarrer aus Brachlewo vollzog) wurde vom Kuchen gegessen. Der Russe hatte aus einem bei Berlin gelegenen Gestüt einen stattlichen Hengst mitgebracht. Die Onkel, obschon betrunken, kalkulierten dessen Qualitäten nüchtern. Als der Leutnant aus Meve (heute das Städtchen Gniew) auf ihm angeritten kam, traten nur wenige Dorfbewohner heraus, um zu schauen. Braun, glänzend vor Sauberkeit und Haferkost, ging er in leichtem, alle Muskeln bewegendem Trab. Er glich dort einem fremden, aristokratischen Tänzer.

      Diese Freundschaft, selbst die hochzeitliche, konnte nicht ewig währen. Es kam die Zeit des Abzugs – und der Russe reiste ab. Der Befehl sprach von Montag. Grischa aber war schon Freitag abgezogen … Allerdings stand der rassige Deckhengst weiter im Stall der Koperwasy.

      Es dauerte einige Monate, bis das NKWD auf eine Spur stieß. In der Scheune wurde Grischas Leiche ausgegraben und die als Hauptschuldige verurteilten Onkel Fredek und Kazik gingen für lange Jahre ins Gefängnis von Sztum. Dass sie, entgegen der Erwartungen, nicht zum Tode verurteilt wurden, hatten sie angeblich Gienia zu verdanken.

      Freds Schmiede wurde geschlossen, die Pferde Kaziks wurden verkauft und Marta – gerade erst Braut geworden – blieb allein auf dem Hof. Fünf Monate später gebar sie die Zwillinge, nach neun Monaten begrub sie die Kinder. Sie waren aus ungeklärter Ursache in einer Nacht gestorben. Man bestattete sie in einem kleinen Grab, direkt neben den Kriegsgräbern. Ohne Grabstein und Tafel; nur die Familie wusste, wen diese Grasdecke barg.

      »Der Krieg hat alles durcheinandergebracht …«, seufzte die Tante einmal, ganz im Begriff, sich anzuvertrauen. »Marta war jung und die Zeiten unsicher. Ich dachte, es wäre gut, wenn sie denn einen hätte. Aber es kam anders …«

       IV

      Wir fuhren in den Ferien und zu Beerdigungen manchmal zu Taufen oder zu Erstkommunionen nach Koperwasy, aber nicht an Feiertagen. Und zwar niemals, wenn ich mich recht erinnere.

      Nicht nur deshalb, weil es an Feiertagen ganz wenig Zeit gab, es zu weit war und die Züge überfüllt und teuer waren. Die Ursache lag woanders. Großmutter hätte uns nicht gelassen. Während der Feiertage wollte sie uns alle bei sich haben. Das waren Familientage, die nur einer Sache gewidmet waren, deren Wesen, Kern und Zentrum das frühe Aufstehen zur Ostermesse, der Gang zur Christmette, das Teilen der Oblate oder das österliche Frühstück waren. »Was wir ersehnten, haben wir erhalten, Alleluja«, sprach Großmutter, ohne ihre Rührung zu verbergen. Oder, wenn die Schneeflocken vor dem Fenster tanzten und das Mondlicht von den Feldern und Dächern widergespiegelt wurde, sprach sie in dem ihr vertrauten Latein den wunderschönen Satz: »Gloria! Gloria in excelsis Deo.«

      An diesen Tagen wurden wir von nichts anderem abgelenkt. Weder von der Schule noch von Freunden oder von dem damals noch nicht vorhandenen Fernsehen. Und die Großmutter nicht von ihrer Arbeit. Es war seltsam und überraschend, dass nicht einmal die Arbeit als Hebamme, die ihrem Wesen nach Überraschungen und unmöglich festzulegende Termine in sich trägt, uns die Großmutter wegnahm. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie uns jemals an einem dieser Tage hätte allein lassen müssen. Sie war immer mit uns zusammen. So, als ob man da oben irgendwie wusste, dass man jetzt nicht stören durfte, besonders in einer Situation, in der wir für alle anderen Dinge so viele Tage hatten, an denen wir uns nicht auf die Angelegenheiten Gottes und – was vielleicht noch wichtiger war – der Menschen konzentrieren. Angelegenheiten der Eltern, Brüder und Schwestern. Der Eltern, die als Erste am Tisch fehlen würden. Der Brüder, die – wie das eben so ist – den Vater und die Mutter verlassen, um ihrer Frau zu folgen. Der Schwestern, die ihre Nester bauen. Ihre neuen Nester, die für sie wichtiger sind als jene, aus denen sie kamen. Jetzt also, so lange es nur geht, sollten wir uns gemeinsam an uns erfreuen, uns in die Gesichter schauen, uns mit Armen und Blicken umgarnen, denn der Moment, in dem jemand von uns nicht mehr da ist, könnte näher sein, als wir in unserer Weisheit meinen. Also sollten wir zusammenbleiben, so lange es nur geht.

      Während der Festtage blieben wir also zu Hause. Die Großmutter und unter ihren Fittichen wir sechs. Mit einer einzigen Ausnahme. Aber das erzähle ich später.

      Tante Gienia erwartete uns nicht und lud uns auch nicht ein. Ihr Kalender, von dauernder Agonie und der Perspektive auf die Beerdigung geprägt, trat in diesen Fällen hinter den Kalender der elementaren Liturgie zurück. Der kirchlichen, die in einem mindestens so hohen Grade in die natürliche Ordnung eingeschrieben war wie ihre eigene. Eine Ordnung, die im Handumdrehen ausgedacht worden war, einst in plötzlicher Not schnell geschaffen und später für immer in die Familienfeste hineinmontiert. Was auch immer man über ihre Marotten sagen mochte, hier ordnete sie sich klaglos dem Lauf der Dinge unter. Ich denke, dass sie ihn aus verschiedenen Gründen sogar heimlich unterstützte. Denn obschon wir in der Lage sind, einzelne Tage aus dem Strom der Zeit herauszubrechen, so müssen wir uns doch in bestimmten Momenten einer höheren Ordnung unterwerfen. In der keimenden Hoffnung, dass wenigstens sie uns nicht in den Abgrund der Stille, der Sinnlosigkeit und des Vergessens reißt. Und da war noch die Sache mit der Konkurrenz. Gienia spürte instinktiv, dass sie sich nicht in sie hineinbegeben sollte. Besonders nicht mit Ostern, angesichts dessen ihre Prozeduren und deren – verglichen mit der echten Auferstehung – totale Vergeblichkeit zum Vorschein kamen und sogar für die Jüngsten erkennbar waren.

      Sehr viel später machte ich mir bewusst, dass es ihr deshalb immer gelang, ihre Festtage in einem zeitlichen Abstand zu jenen anderen durchzuführen, damit niemand – und zwar möglichst lange – die einen mit den anderen in Verbindung bringen konnte. Damit man nicht das Universelle mit dem Individuellen, das der Tante mit dem Göttlichen verglich. Die ungleichen Kräfteverhältnisse, das Zweitrangige ihrer Liturgie, der Kitsch des häuslichen, mit einstdeutschen Gegenständen angefüllten Tempels musste gegen jene andere Liturgie verlieren.

      Die Tante besaß also so viel Weisheit, um sich nicht auf ein Terrain zu begeben, wo die Niederlage von Beginn an beschlossene Sache gewesen wäre. Ob sie sich sofort oder später einstellen würde, war dabei von keiner größeren Bedeutung. Ich denke, dass im Falle des Weihnachtsfestes, das von ihr nicht strapaziert wurde, noch etwas anderes von Bedeutung war. Etwas sehr Verlockendes, Attraktives und uns allen Nahes. Die Tatsache, dass wir ein Fest haben, das wir begreifen, erfühlen und erleben können. Und dass wir es so begehen wie eine ersehnte Situation, die uns und die Welt erneuert, still und geborgen. Es gibt noch einen anderen, ebenso fundamentalen Grund. Die Tatsache, dass die Geburt eines Menschen, selbst wenn es Gott ist, nicht über unser Begreifen hinausreicht.

      Weihnachten. Immer wieder verwundert mich die Anziehungskraft eines Säuglings. Man stelle sich vor: Unter uns taucht ein Wesen auf, dem alles fehlt. Manchmal fehlt es ihm auch an gutem Aussehen. Nicht selten sehen wir (obwohl man das erst später, nachdem man wieder zu Hause ist, sagt), dass das Neugeborene hässlich ist wie die Nacht. Wie sein Vater. Hässlich wie ein Popo mit Ohren. Dennoch wird dort, wo es ist, ein ununterbrochenes Fest gefeiert. Und manchmal erlebt man, wie das mit Gästen gefüllte Haus sich auf nichts anderes konzentriert. Es wird nicht gesprochen,


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