Phalansterium. Matthias Falke
»Und jetzt ist nach dem Krieg.« Sie zuckte mit den Achseln, stieß sich von dem wenig vertrauenerweckenden Geländer ab, das ein unangenehmes Quietschen hören ließ, und ging weiter. Ich folgte ihr seufzend. Vermutlich hatte sie recht. Es gab nichts zu befürchten. Die Leute hatten uns nur verrückt gemacht, weil sie ihre Dienste anpreisen wollten. Versuchten wir, das Hier und Jetzt zu leben!
Aber dann prüfte ich doch den Ladezustand meines Koms und vergewisserte mich, dass ich eine Verbindung zum Raumhafen hatte.
Es wurde heiß. Die Automatik meines Anzugs begann selbsttätig zu kühlen. Wenig später musste ich sie anweisen, ihre diesbezüglichen Anstrengungen zu verstärken. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass ich weit zurückfiel. Jennifer wanderte munter voran.
Dann überholte ich sie wieder. Sie kauerte am Rand des Weges im Unterholz und musterte eine kleine unscheinbare Pflanze, als habe sie in ihrem Leben noch keine Blume gesehen. Ihr Gesichtsausdruck war entrückt. Sie war ganz in den Anblick dieses unauffälligen Gewächses versunken. Ich ging vorbei, ohne etwas zu sagen.
Später schloss sie ihrerseits zu mir auf. Ich hörte ihre raschen leichten Schritte. Dann war sie neben mir. Schulter an Schulter wanderten wir dahin. Es war ein nicht allzu breiter Weg, der tiefer und tiefer in einen dichten Wald eindrang. Die Luft war dunkel und feucht, es roch nach Moder und verfaulten Früchten und exotischen Blüten. Insekten schwirrten unter dem Laubdach. Ab und zu tschilpte ein unsichtbarer Vogel.
»Ein Seidelbast«, sagte sie.
Ich dachte zuerst, sie meine den Vogel, bis mir einfiel, dass das der Name einer Pflanze war.
»Wirklich?«
»Ja!« Sie klang, als wäre es eine großartige Entdeckung. »Ich hätte nicht damit gerechnet, hier so etwas zu finden.«
»Wohl sehr selten?«
»Extrem! Selbst bei uns sind sie scheu wie junge Rehe. Die Siedler müssen sie mit eingeschleppt haben, als sie Nutzpflanzen importierten. Aber offenbar vertragen sie das Klima und haben sich mit den endemischen Flora arrangiert. Trotzdem wundert es mich, dass sie unmittelbar am Wegesrand wachsen!«
Ich brummte eine Art Zustimmung.
Wenig später wurde ich ihr wieder zu langsam. Sie schaltete einen Gang nach oben und ließ mich einfach stehen. Gemessenen Schrittes weiterwandernd, sah ich zu, wie sie den Abstand zwischen uns vergrößerte und bald ganz im schwarzgrünen Dämmer dieses Bergwaldes verschwand. Ich stapfte vor mich hin, in meine Gedanken eingesponnen, aber wenn mich unvermittelt jemand gefragt hätte, hätte ich nicht sagen können, woran ich gerade dachte.
Es wurde immer noch dunkler. Schließlich donnerte es, lang nachrollend und krachend, und es begann zu regnen. Schon während der letzten Tage hatten wir beobachten können, wie sich jeden Tag um die Mittagszeit die Wolken um die Berge ballten, um sich später in schweren Gewittern zu entladen. Bis zum Abend kam in der Regel die Sonne wieder heraus, um dann in melancholischen Untergängen hinter den Westbergen zu verscheiden.
Die Blitze hatten sich in irgendwelchen Felsklüften versteckt. Man hörte nur das Donnergrollen, satt und berstend, als rissen Fabelwesen die Bergzinnen aus, um mit ihnen zu kegeln. Minutenlang hallte es in der engen Schlucht des Masyan nach, dem wir nun flussaufwärts folgten und der sich hier seinen Weg durch die kilometerhohe Masse des Gebirges gebrochen hatte. Der Regen kam irregulär und versprengt, wie eine in Auflösung geratene feindliche Truppe durch das ölige Blätterdach, das unter seinen Attacken schwankte und taumelte. Aber die Reihe der Laubkronen hielten stand, wie sehr der Gegner auch auf sie einschlug und sie mit seiner nassen Artillerie beharkte.
Gewaltige Wasserfälle stürzten von den Felswänden herab und überfluteten teilweise den Weg. Ich musste von Stein zu Stein springen und aufpassen, nicht auf zerfetztem Laub auszurutschen. Einmal musste ich durch einen Sturzbach waten, der den Pfad auf einer Länge von zwanzig Metern überschwemmt hatte. Der Regen fiel ohne Unterlass, wie ein Vorhang, und der Wald gebärdete sich wie eine Armee von Trollen, die wütend tobte und gestikulierte, aber nicht einen Schritt dabei gewann. Es wurde immer noch finsterer. Das Wasser war allgegenwärtig und klebrig wie die Nacht. Ohne den Anzug wäre mir der Mut gesunken. So kämpfte ich mich weiter, mit einem Gefühl, als rudere ich unterhalb des Meeresspiegels einen Steilhang hinauf, der von widerspenstigen Wesen bestanden war.
Der Weg endete an einer Brücke, die von den Wassermassen mitgerissen worden war. Ich unterdrückte den Impuls, die Navigationsfunktion meines Koms zurate zu ziehen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte sie sowieso nicht funktioniert, es gab ja auf dieser Welt keine planetare Netzabdeckung. Außerdem wollte ich Jennifer zuliebe die Herausforderung annehmen und ohne diese Hilfsmittel zurecht kommen. In meinem Kopf entstand der Kalauer, dass ich auf vorsintflutliche Weise in der Sintflut unterwegs war. Ich entdeckte einen schmalen Pfad, der neu ausgetreten zu sein schien und der rechts ab den Hang hinunter führte. Mit einem albernen Grinsen im Gesicht, über das mir der Regen schoss wie über eine defekte Windschutzscheibe, arbeitete ich mich den kaum zu erkennenden Trampelpfad entlang, der dem Wildbach folgte. Weglos, im immer noch undurchdringlicher werdenden Wald, während die steil eingeschnittene Schlucht die Abenddämmerung um mehrere Stunden vorwegzunehmen drohte. Der Gewitterbach war die einzige Orientierung. Irgendwo musste er in den Masyan münden, der dann wiederum die Hauptrichtung vorgab.
Ein umgetretenes Pflänzchen hier, ein paar abgerissene Blätter dort – das waren die einzigen Hinweise darauf, dass schon einmal Menschen hier gewesen waren. Ab und zu eine Fußspur im knöcheltiefen Morast. Meist waren es die profillosen Sandalen der Eingeborenen, die diese Löcher in den Schlamm getreten hatten. Manchmal erkannte ich aber auch Jennifers charakteristischen Stiefelabdruck und war dann jedesmal wieder erleichtert.
Der Pfad knickte ein und schickte sich an, den Sturzbach zu überqueren, ehe dieser in einem hohen Katarakt in den Masyan hinunter schoss. Der Waldboden bildete eine Art Canyon, der den Wildfluss fasste, und an einer Stelle ergab sich eine Furt, wo große Felsblöcke es möglich machten, trockenen Fußes auf die andere Seite zu gelangen. Nicht, dass noch ein trockener Faden an mir gewesen wäre!
Ich kletterte hinunter, und dort, an der tiefsten Stelle, in dieser Schlucht-in-der-Schlucht, auf einem Felsbrocken, der mitten im Bachbett lag und auf allen Seiten von strudelnden Wassermassen umbrandet wurde, dort saß Jennifer.
Ich stakte, von Stein zu Stein springend, an ihr vorbei, konnte ihren erhabenen Sitz aber nicht erreichen. Der fragende Blick, den ich ihr zuwarf wie ein Lasso einem Ertrinkenden, prallte an ihr ab. Sie saß in Meditationshaltung auf diesem klatschnassen Block. Dabei war sie ganz still. Kein Schluchzen, kein Jammern, keine Bewegung. Wie eine Statue war sie in diese Landschaft aus Wasser und Dämmerung gepflanzt und ließ die Tränen strömen. Die Natur weinte, schien sie sich zu sagen, warum nicht ein bisschen mittun.
»Geh weiter«, sagte sie, als ich unschlüssig stehen blieb.
Ihre Stimme klang mechanisch, wenn sie auch nicht aus der Trance zu kommen schien. Inzwischen konnte ich Dutzende Schattierungen und Abstufungen ihrer Versenkung unterscheiden.
»Ich bin da«, sagte ich.
Dann ging ich weiter.
Jennifer hockte im Regen und heulte.
Auf der anderen Seite ging es steil und pfadlos wieder hinauf. Mehr als einmal steckte ich bis zur Brust im nassen Laub, mit den Armen rudernd wie ein Verunglückter im Treibsand. Endlich gewann ich wieder den Hauptweg. Langsam wanderte ich weiter. Das Gewitter verzog sich. Die Abendsonne kämpfte sich durch die Wolken. Hoch über dem Blätterdach leuchtete eine Felswand im strahlenden Licht, immer noch höher und glühender. Darüber war reiner Himmel. Hier und da tropfte es noch, jeder Schritt schmatzte, alles, wirklich alles war nass. Aber das Wissen, dass es dieses andere gab, reichte aus, die Stimmung wieder zu heben, nachdem die Versuchung schon sehr groß geworden war, die ganze Unternehmung zu verfluchen.
Irgendwann war Jennifer wieder da. Schweigend holte sie mich ein und ging dann neben mir. Ich sagte nichts. Wir sprachen beide immer weniger.
Der Weg wurde schmaler und führte auf einem handbreiten Sims dahin, das an der mauerglatten Architektur