Du bist doch wer. Jürgen Weigel

Du bist doch wer - Jürgen Weigel


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möchte ich so verstanden wissen, dass man Dinge wie unter einem blauem Himmel betrachten kann. Dann kann man weit schauen und alles ist klar und strahlend. Auch wenn der Himmel bewölkt ist, es im Leben stürmt und gefriert, sollte man die Wärme sehen, das Warmherzige der Menschen und ihr Strahlen. Es wäre schön, wenn man sein Leben leicht nehmen könnte.

       Unser Leben ist die Summe unserer Erfahrungen

      Ich war sehr beeindruckt von einer Schauspielerin, die in der Radiosendung „Mensch Otto“ interviewt wurde. Sie war zwei Mal an Leukämie erkrankt und hat es trotz der schlechten Prognose geschafft, die Krankheit zu überwinden. Sie meinte zum Erstaunen der Zuhörer, dass die Krankheit wichtig und positiv für sie und ihr Leben gewesen sei. Sie könnte nun die schönen Seiten viel intensiver genießen. Sie hat sich ihr Schicksal in einem Buch von der Seele geschrieben und ist auch davon überzeugt, dass wir es selber in der Hand haben, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen.

      Derselben Meinung ist die Schauspielerin Anna Loos, die mit großer Ernsthaftigkeit in der NDR Talk-Show 3 nach 96 meinte: „Wir sind die Summe der Geschehnisse, die uns widerfahren. Aber wir sind es selber, die unser Schicksal beeinflussen.“

       In so vielem zeigt die Individualisierung in unserer Gesellschaft auf der anderen Seite der Medaille üble Auswüchse von Egomanie.

       2 Gesund leben in einer kranken Welt

       Man spürt es, wenn man die Grenze nach Deutschland überfährt. Plötzlich ist es anders. Alles wird schneller, im Grunde wahnsinniger. Mit 160 km/​h auf der linken Spur muss man vorsichtig sein, damit man nicht von einem AUDI, BMW, Mercedes, Porsche … mit 230 km/​h „weggeblasen wird“. In keinem anderen Land der Welt kann man mit 280 km/​h über die Autobahn brettern. In den USA fährt man auf einsamen Straßen stundenlang lässig mit Tempomat. Unser Land ist dagegen dicht besiedelt, da gehen 280 Sachen auf der Autobahn. Und diese irrsinnige Gegebenheit ist mittlerweile ein Wirtschaftsfaktor: Man fliegt aus China und von sonst wo ein, mietet sich am Flugplatz eine Turbomaschine und dann geht`s los, mit 220 ab nach Rothenburg, Heidelberg, Neuschwanstein und ins Outlet-Factory.

      Die Autobahn ist nur ein Beleg für dieses fragwürdige Turboleben. Ein solches sehe ich auch in dem Leben mit Kindern in diesem Land. Ab einem Jahr geht es in die KITA, dann in den Kindergarten, aber bitte mit Vorschulprogramm: Förderung erwünscht, nur nicht zu viel sinnentleertes Spielen. Denn umso früher, umso besser, ab in die Schule zum Lernen, Vorbereitung auf das Grundschulabitur in der vierten Klasse, das alle Türen öffnet: Abitur nach neun Jahren. Wer nicht funktioniert bekommt Ritalin. Zur Einschreibung an der UNI müssen Papa oder Mama mit, schließlich ist man noch nicht volljährig. Dafür ist man dann mit 21 mit seinem Bachelor fertig. Dann kann man 50 Jahre arbeiten und in die Sozialkassen einzahlen. Neben Turbo heißt das Motto Funktionieren: Leistung zeigen, im Wettbewerb bestehen. Hat man es geschafft, sein Leben mit einer ertragreichen Berufstätigkeit selber in die Hand zu nehmen, freut sich die Wirtschaft. Man ist der Konsument, den sie sich wünscht, beschäftigt mit Kaufen all der schönen Produkte, die man erwerben kann: insbesondere ein dickes Auto, tolle Kleidung, später ein schönes Haus. Man zeigt, was man hat. Und Haben ist wichtiger als Sein.

       In meiner Schulklasse hatte ich eine sehr kommunikative, diskussionsfreudige Schülerin, die mit Leidenschaft ihre Argumente mit einem nachdrückliche „Is so!“ bekräftigte. In der Klasse wurde diese Wendung Kult.

      Ich dachte mir: In der Tat, wir leben in einer Welt des „Is so!“. Eigentlich ist alles klar. Es ist so vieles selbstverständlich, was für mich nicht selbstverständlich ist und das ich als krank empfinde: Dieses Denken, dass Geld die Welt regiert, es wie gesagt um Kaufen, Kaufen, Kaufen geht. Das wichtigste ist die Wirtschaft und man lebt Hierarchien: Der Ober sticht den Unter – „is so!“. So vieles ist in meinen Augen pathologisch: Diese Unmengen an Schönheitsoperationen, dieser ganze Jugend– und Fitnesswahn, dieser Körperkult. Wo ist der Respekt vor dem Alter? Juli Zeh beschreibt genial diese Selbstoptimierer, deren Smartphones und Apps es möglich machen, seine Schritte, seine Kalorien, seinen BMI, … zu bestimmen und am PC zu zählen.7 Es herrscht ein Machbarkeitswahn im Streben nach Schönheit, Erhaltung der Jugend und des Glücks. Die Positive Psychologie suggeriert „Flourishing“: Du bist Herr deines Glücks. All das macht Stress! Die Zunahmen an Depressionen, das Phänomen Burnout, das wundert mich nicht! Bei diesem Denken werden Kinder zu einem Unglück, die körperlichen Veränderungen in einer Schwangerschaft zum Supergau für das eigene Ego. Eine Kabarettistin beleuchtete die Problematik: Da nimmt man sich eine Leihmutter aus Asien, setzt ihr die befruchtete Eizelle ein und lässt sich das Kind austragen. Das ist eine Win-Win-Situation, da leistet man sogar noch Entwicklungshilfe.

      Und sieht man junge Menschen an der Bushaltestelle oder gemeinsam im Cafe sitzen, so glotzen sie nur auf ihre Smartphones. Man spricht nicht miteinander, hat aber 300 Freunde auf Facebook und WhatsApp. Wir bekommen eine Gesellschaft des gesenkten Hauptes.

      So leben viele haltlos Werte, die zu hinterfragen sind: Konsum, Spaß, Schönheit, Jugend, Körperkult, Glück, Machtstrukturen, Konventionen. Eigentlich ist dagegen nicht viel einzuwenden – nur:

       Die Dosis macht das Gift!

      Insgesamt sind viele, wie ich es sehe, extrem haltlos. Mir kommt es vor als seien die Richtlinien, die Geländer, die Orientierung gaben, an denen man sich im Leben entlang hangeln konnte, in dieser kranken Welt von Wirtschaft, Konsum, Medien und in dieser radikalisierten Arbeitswelt verloren gegangen. Aber: „Is so!“ wird dagegen gehalten. Ich denke, ein Problem ist der Verlust von Werten. Man muss sich schon fragen: Was hat sich geändert? Welche Werte werden heute wirklich gelebt?

      Ich diskutierte darüber mit einer Kollegin. Sie machte mich auf so viel Paradoxes in unserer Zeit aufmerksam. Wir haben: Große Häuser, aber kleine Familien, mehr Bildung, aber weniger Verstand, eine erweiterte Medizin, aber einen schlechteren Gesundheitszustand. Wir waren am Mond, kennen aber unseren Nachbarn nicht. Wir besitzen ein hohes Einkommen, aber weniger Seelenfrieden. Wir weisen einen höheren IQ auf, aber weniger Emotionen, gewinnen immer neue Erkenntnisse, besitzen aber weniger Weisheit. Wir werden immer mehr Menschen, aber die Welt wird immer weniger menschlich.

      So spüren wir doch, dass etwas nicht stimmt. Es ist an der Zeit, innezuhalten, sich zu besinnen und gesunde Haltungen zu finden und zu leben. Früher fanden Menschen Orientierung im Glauben an externe Mächte, zum Beispiel im Glauben an Gott. Das gelingt Menschen in unserem Land immer weniger. Dagegen finden viele die Befriedigung der Sehnsucht nach einer tieferen Spiritualität im Buddhismus, beim Yoga und Meditieren, auch beim Wandern auf dem Jakobsweg.

       Ich denke, Haltungen, Orientierung, Werte, Sinn, das finden wir vor allem in uns – wo denn sonst?

      Denn das ist bei aller Kritik das Gute, wir leben in einem freien Land voller Möglichkeiten und man hat die Wahl, wie man leben will, vorausgesetzt die persönlichen Parameter lassen es zu. Ein selbstbestimmtes Leben ist möglich. Jeder kann entscheiden, inwieweit er Opfer der kranken Auswüchse unserer Gesellschaft wird. Ich werde versuchen, diesen Weg zu einer gesunden Lebensweise in den nächsten Kapiteln zu beschreiben. Am Anfang des Weges stehen Bewusstsein, Erkenntnisse, Wissen, Überzeugungen, die menschliche Werte beinhalten: Den Respekt vor dem Anderssein, Toleranz, das Leben des Prinzips Menschlichkeit (siehe 2. Kapitel ab Seite 27).

      Wichtiges Rüstzeug auf dem Weg sind ein stabiles Selbst, der unbedingte Willen zu einer selbstbestimmten Lebensweise, das Leben der Haltungen „Ich bin gut, so wie ich bin“ sowie „Egal, was passiert, ich kann es schaffen“. Selbstbewusstsein, ein gesundes Selbstwertgefühl, im Grunde Selbstliebe zu entwickeln, das bedarf der Arbeit. Innere Stärke entwickeln wir aus der Art, wie wir Erfahrungen verarbeiten und aus dem, was uns Mitmenschen spiegeln (siehe 3. Kapitel ab Seite 65).

      Womit wir beim Wesentlichen ankommen, der Frage: Wie wollen wir mit anderen leben? Die Haltung „Ich bin okay, du bist okay“ trägt uns zu respektvollen, gleichwürdigen und liebevollen Beziehungen. In ihnen finden wir als altruistische


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