Der Schatz des Gregor Gropa. Frank Wündsch

Der Schatz des Gregor Gropa - Frank Wündsch


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der Moderne. Viele davon habe ich gelesen, meine Tochter ebenso, mein Enkel leider kein einziges. Er frönt anderen Leidenschaften.“

      Marius schaute zum Stuhl, wo zuvor Boris Platz genommen hatte. Er war leer. Boris hatte seine Tasse Kaffee mit einem großen Schluck ausgetrunken, sich den Mund mit Pralinen voll gestopft und in eine Ecke der Bibliothek verzogen, wo eine Modellrennbahn stand. Dort ließ er ein Rennauto im Kreis herum sausen, bis es aus der Bahn flog.

      Frau Weigelt versuchte für Marius eine Erklärung abzugeben, was ihr nicht leicht zu fallen schien. „Boris ist achtzehn Jahre alt und liebt schnelle Autos. Einen Führerschein hat er aber nicht und wird auch nie einen machen dürfen. Er hat leider, als er in meinem Bauch war, zu wenig Sauerstoff abbekommen. Das wird ihn sein ganzes Leben lang prägen. Aber er ist mein Sohn!“

      „Und er ist mein Enkel! Mein einziger.“ Herr Weigelt klopfte zur Bestätigung auf den Tisch.

      Marius wusste nicht, was er sagen sollte, nickte eifrig und griff dann zur Tasse und einer Praline. Karl schenkte ihm nach.

      „Kommen wir zur Sache, Herr Kilian“, sagte Herr Weigelt. „Ich bin ein Mann der Tat. Das Zaudern und Zögern überlasse ich tunlichst anderen. Ich benötige einen Mann, der für mich arbeitet, so wie es zuvor Ihr Herr Vater getan hat. Sie wissen sicher, welche Art von Arbeit hier auf Sie zukommen würde? Vorausgesetzt, dass ich Sie einstelle.“

      „Mein Vater hat sich um Ihren Garten gekümmert.“

      „Exakter formuliert hat er meine Lieblinge groß gezogen. Meine Tochter und Boris sind schon groß, da musste er nicht mehr Hand anlegen. Ihr Vater hat meine Tomatenzucht weitergeführt. Seit ich ein alter, klappriger Mann geworden bin und mein restliches Dasein im Rollstuhl zubringen werde, war ich hierzu nicht mehr in der Lage, wie sehr ich das auch bedaure. Ihr Vater hat diese Arbeit zu meiner vollkommenen Zufriedenheit ausgeführt. Er sagte mir, Sie hätten ebenso weitreichende Kenntnisse über Tomaten, wie er sie sein Eigen nennen durfte?“

      „Mein Vater war ein Meister auf diesem Gebiet, ich kann mich in dieser Hinsicht lediglich als einen Lehrling bezeichnen“, antwortete Marius und hätte sich beinahe auf die Zunge gebissen, musste er befürchten, dass seine aufrichtige Bescheidenheit ihn um die dringend benötigte Anstellung bringen könnte.

      „Die Arbeit ist fordernd, Herr Kilian“, Marius musste schwer schlucken, „aber dank Ihres Vaters bringen Sie einen erheblichen Vertrauensvorschuss mit. Gewöhnlich sprechen Väter gut, um nicht zu sagen zu gut über ihre Söhne, so dass ich mich einer gewissen Skepsis schwerlich erwehren konnte“, sagte Herr Weigelt und tauschte mit seinem Diener Blicke, während Marius mit klopfendem Herzen auf den Teppich schaute und das Schlimmste befürchtete.

      „Menschen, denen ich in der Regel mein Gehör zu gewähren bereit zeige, rieten mir davon ab, Sie in meine Dienste zu nehmen, Herr Kilian. Ich kam unweigerlich ins Grübeln, wägte ab, geriet ins Wanken, traf etwas voreilig eine Entscheidung und kam letztendlich zu einem anderen Entschluss.“ Herr Weigelt blickte Marius direkt in die Augen, der wagte kaum zu atmen und hielt seine Hände krampfhaft still. Herr Weigelt war die Ruhe selbst: „Mein Entschluss lautet, Sie für mich arbeiten zu lassen, da ich nicht umhin komme, der Urteilskraft Ihres Vaters mein Vertrauen zu schenken.“

      Marius stieß einen Seufzer aus und wäre auf seinem Stuhl vor Erleichterung beinahe vornüber gesunken. Herr Weigelt fuhr unbeirrt fort: „Ich möchte guter Hoffnung sein, dass Sie diese Aufgabe zu meiner Zufriedenheit bewältigen werden. Bei aller Herausforderung möchte ich behaupten, dass die Arbeit in meinem Haus auch ihre schönen Seiten hat. Allerdings sollte Ihnen durchaus bewusst sein, dass ich meine Ansprüche habe. Ich möchte im Sommer einer ganzen Menge prächtiger Tomaten beim Gedeihen zusehen und sie nach ihrer Reife verzehren. Auf diesen Einheitsbrei aus dem Supermarkt kann ich dankend verzichten. Bei der Sortenvielfalt, die uns diese prächtige Frucht bietet, sollte alles dabei sein, was mein Herz höher schlagen lässt. Weder die winzige Johannisbeertomate noch das schwergewichtige Ochsenherz dürfen fehlen, von der Zebra-Tomate und dem Andenhorn ganz zu schweigen. Ein bunter mannigfaltiger Reigen von roten, weißen, grünen, schwarzen, gelben und gestreiften Tomaten soll meinen Garten bereichern. Sie werden viel zu tun haben, junger Mann, aber keine Angst, ich gewähre Ihnen großzügig Hilfe. Meine Tochter..“, das Herz von Marius begann wieder heftig zu schlagen, Frau Weigelt zeigte ihre blendend weißen Zähne, „meine Tochter kann Ihnen dabei leider keine Hilfe sein.“

      „Wer dann?“, fragte Marius arglos und dachte an den Diener Herrn Weigelts.

      „Mein Sohn Boris“, verkündete Frau Weigelt mit kokettem Augenaufschlag. Dem war eines seiner Rennautos verunglückt. „So ein Mist“, rief er quer durch die Bibliothek. Dann hob Boris den Wagen zurück in die Spur und spielte weiter. Marius machte den Mund auf und wollte etwas sagen, Frau Weigelt kam ihm zuvor.

      „Ich bin zur Zeit beruflich sehr eingespannt und ab nächster Woche für ein halbes Jahr im Ausland“, erklärte sie im kühlen Tonfall einer Geschäftsfrau. Ihr Blick indes verriet Unruhe und Anzeichen von Furcht, vor allem wenn ihre Augen auf den Diener Karl trafen, wie Marius bemerkte. Als Frau Weigelt auf ihren Sohn zu sprechen kam, wurde sie wieder warmherzig und ihr flackernder Blick begann sich zu beruhigen. „Ich lasse Boris höchst ungern allein, aber mir sind leider die Hände gebunden. Mein Vater ist eine starke Persönlichkeit, der kommt selbstverständlich allein zurecht, aber Boris benötigt eine abwechslungsreiche Beschäftigung. Ihr Herr Vater stellte im Umgang mit meinem Sohn großes Geschick unter Beweis. Hat er verschwiegen, dass Boris Ihnen beim Anbau der Tomaten behilflich sein soll?“

      Davon war in dem Brief keine Rede gewesen, auch bei ihren Telefonaten und in den E-Mails hatte sein Vater Boris nie erwähnt, immer nur von dem Garten und vor allem von Tomaten war die Rede gewesen. Schließlich fiel Marius ein, dass sein Vater ihn in seinem letzten Brief darum gebeten hatte, dem Enkel Herrn Weigelts ein guter Freund zu sein.

      „Nehmen Sie die Arbeit an, junger Mann?“, unterbrach Herr Weigelt die Gedanken von Marius und erweckte den Eindruck, als ob er die Antwort kaum abwarten konnte. „Über das Gehalt werden wir uns problemlos einigen. Ich bin beim besten Willen nicht als alter Knauser bekannt. Seien Sie kein Frosch, und geben Sie mir die Hand, Herr Kilian. Mein Handschlag gilt wie ein Vertrag.“

      Marius konnte sich nicht erlauben, zögerlich zu sein. Er willigte mit Herrn Weigelt ein und spürte seinen festen Händedruck. Frau Weigelt strahlte wieder und sagte, dass Marius seinen Entschluss nicht bereuen werde. Ihr Vater ließ seinen Diener Sekt bringen. Marius hätte gut daran getan, bedächtig zu trinken. Der lange Flug, der mangelnde Schlaf, und die Ereignisse der letzten Tage begannen ihren Tribut zu fordern. Der Handschlag mit Herrn Weigelt ließ jedoch eine große Last von seinen Schultern fallen, und das durfte gefeiert werden. Marius nahm einen tiefen Schluck. Als er das Glas geleert hatte, musste er sich an seinem Stuhl festhalten, um nicht herunterzufallen. Der Diener Karl bemerkte seine Unpässlichkeit und bot ihm mit hochgezogenen Augenbrauen ein zweites Glas an. Marius schaute zu ihm auf, rang sich zu einem Lächeln durch und lehnte dankend ab.

       8

      Bevor Marius seine Arbeit bei Herrn Weigelt beginnen konnte, musste sein Vater zu Grabe getragen werden. Der März hatte häufig kalten Regen gebracht, die Wege auf dem Mannheimer Hauptfriedhof waren mit Pfützen übersät. Die Vögel begannen in diesem Jahr spät zu singen und mussten daran noch üben, Erdkröten krochen über verschlammte Wege auf der Suche nach einem Gewässer für ihren Laich, die ersten Blumen hatten sich aus der aufgeweichten Erde gewagt und sehnten sich nach Sonne.

      Marius zählte die Köpfe der um seinen Vater Trauernden und kam auf acht. Darunter waren außer ihm selbst Herr Weigelt, sein Diener Karl, Boris und vier Männer, die wie sein Vater eine große Vorliebe für Tomaten hegten, denn sie hatten sich im Kondolenzbuch als „Freunde der Paradeiser“ ausgegeben. Keine einzige Frau war dabei. Nach Mutters Tod hatte sein Vater keine andere Frau mehr kennengelernt, Geschwister hatten weder er noch sein Sohn.

      Zum Bedauern von Marius war die Tochter von Herrn Weigelt bereits ins Ausland verreist. Seine Frage, wohin es Frau Weigelt zog, hatte sie bei einem Telefongespräch mit Australien beantwortet.


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