Der Schatz des Gregor Gropa. Frank Wündsch
er nicht zu erzwingen in der Lage gewesen war und hoffte auf ein baldiges Wiedersehen. „In einem halben Jahr kehre ich zurück, Herr Kilian. Dann will ich guter Dinge sein, dass Sie mit dem Anbau von Tomaten mehr Erfolg hatten. Alles Gute.“
Der Pfarrer trug in der Kapelle über den Verstorbenen vor. Zwei Tage davor hatte Marius den Pfarrer aufgesucht und mit ihm ein langes Gespräch geführt. Der Pfarrer wollte von Marius über den Lebensweg seines Vaters aufgeklärt werden. Marius musste sich eingestehen, dass ihm so manches unbekannt geblieben war, vor allem was die Jugendzeit seines Vaters betraf. Über sich selbst hatte sein Vater selten etwas erzählt. So berichtete Marius dem Pfarrer über die Liebe des Vaters zu seiner Frau und zur Natur. Der Pfarrer gab in seiner Trauerrede vieles davon in seiner Rede wieder.
Der Pfarrer musste auch von Herrn Weigelt Besuch bekommen haben. Sonst wäre für Marius nicht erklärbar gewesen, dass in der Rede die Tätigkeit seines Vaters im Hause der Weigelts ebenso ausführlich beschrieben wurde. Der Pfarrer sprach von einem engen Verhältnis des Verstorbenen zu dieser angesehenen Familie. Marius wusste, dass er sich dieses Verhältnis und das hieraus entstandene Vertrauen von Grund auf erarbeiten musste.
Am Grab hielt sich der Pfarrer zurück und überließ anderen das Wort. Die vier Männer, die bisher vornehmlich geschwiegen hatten, hoben zu Marius’ Überraschung an zu singen. Besonders gut klangen ihre Stimmen nicht, aber es kam von Herzen. Sie sangen ein für Marius unbekanntes Lied, dessen Refrain auf Lateinisch erklang. Die Strophen sangen sie auf Deutsch, dessen Mannheimer Mundart schwerlich zu überhören war.
Als die Männer ihr Lied beendet hatten, spendete Boris Beifall. „Ihr habt toll gesungen“, sagte er und wollte jedem die Hand drücken, doch sein Großvater machte seinen Arm lang und zupfte ihn am Mantel, da ließ Boris davon ab. Für die Freunde seines Vaters war es sicher nicht das erste Mal, dass sie einen Kameraden ihres Kreises verabschiedeten. Marius glaubte, dass sie einem Ritual huldigten. Nach dem Lied griff einer in seinen Stoffbeutel, holte vier verschiedenfarbige Tomaten hervor und gab jedem eine. Die legten sie an den Rand der Grube, wobei sie darauf Acht gaben, dass die Abstände die gleichen waren. Danach griff der Mann nochmals in seinen Beutel, holte eine Flasche und vier kleine Gläser heraus und füllte sie. Als jeder eines in der Hand hielt, sagte einer der Männer: „Lieber Konrad, wir erheben unser Glas auf dich und trinken einen Schnaps, der aus der Frucht gebrannt wurde, die dir und uns so lieb und teuer war. Prost!“
Als sie die Gläser geleert hatten, gaben sie Marius die Hand, wünschten alles Gute und gingen ihrer Wege. Marius schaute ihnen nach. Dann hielt er vor dem Grab seines Vaters inne und nahm Abschied, indem er sich vor dem Sarg verbeugte. Erst jetzt nahm er wieder Herrn Weigelt, dessen Diener Karl und Boris wahr. Herr Weigelt lächelte milde und wies Karl an, Marius ein Taschentuch zu reichen. Boris begann zu schluchzen. „Er war ein guter Mensch, der Konrad.“
„Das war er“, bekräftigte Marius und trocknete seine Augen.
Auf dem Weg zum Ausgang des Friedhofs ließ sich Herr Weigelt von Karl zu seinem künftigen Grab bringen. „Hier liegt meine Frau, Gott habe sie selig.“ Herr Weigelt hatte nichts unterlassen, seiner Gemahlin eine Ruhestätte zu bereiten, die selbst auf dem Hauptfriedhof der Stadt Aufsehen erregen musste. Der Grabstein bot vielen Namen Raum, zu sehen waren lediglich zwei; der von Helga Weigelt, geboren im Januar 1924, verstorben im Juni 2002 und der von Herrn Weigelt, geboren im September 1921.
„Wie Sie sehen, Herr Kilian, bin ich für alle Eventualitäten, die das Leben mit sich bringt, bestens gewappnet. Nach meinem Tod muss auf dem Grabstein lediglich das Sterbedatum eingetragen werden, für meinen Sarg findet sich in diesem Grab genügend Platz. Aber glauben Sie nicht, dass es mich dazu drängen würde, meiner Frau zu folgen. Wir werden uns früh genug wiedersehen, ich habe es nicht eilig. Und wenn dieser Tag gekommen ist, befinden wir uns in hervorragender Gesellschaft. Wohin sich auch unser Auge wendet, liegen auf diesem Areal des Friedhofs die Gräber namhafter Bürger unserer Stadt. Eines Tages weile ich unter ihnen, und das macht mich stolz.“
Herr Weigelt hätte viel länger vor dem Grab seiner Frau verharren mögen, aber Boris wurde unruhig. Er wollte fort von diesem traurigen Ort. Einsetzender Regen kam ihm zu Hilfe. Karl gab Boris einen Regenschirm und schob Herrn Weigelt zum Ausgang. Boris spannte den Schirm auf und hielt ihn sich über den Kopf. Karl schnippte mit dem Finger seiner rechten Hand und wies auf Herrn Weigelt. Boris verstand und hielt den Schirm jetzt über das Haupt seines Großvaters. Als sie den Parkplatz erreicht hatten, waren alle nass, nur der Kopf des alten Mannes war trocken geblieben. „Das macht nichts, dass ich tropfe. Ich bin während meiner Jugend häufig nass geworden. Das sollte einen Menschen im fortgeschrittenen Alter auch nicht mehr stören.“
Herrn Weigelt konnte ein paar Schritte ohne den Rollstuhl bewältigen, darauf legte er den größten Wert. Obwohl der Regen stärker fiel, trug er Karl auf, etwa dreißig Schritte vor dem Auto zu halten. Von einem Stöhnen begleitet, erhob sich Herr Weigelt, brachte seinen Körper in Balance, machte leicht schwankend die ersten Schritte und legte den Weg mit Hilfe eines Gehstocks langsam, aber beharrlich zurück, wobei er ablehnte, sich dabei von seinem Enkel beschirmen zu lassen. Als er durchnässt im Mercedes saß, Karl den Wagen gestartet und Boris es sich auf dem Rücksitz gemütlich gemacht hatte, ließ Herr Weigelt die Scheibe hinunter und verabschiedete sich von Marius. „Die Beerdigung Ihres Vaters fand in einem würdevollen Rahmen statt. Das war für uns alle schwer genug. Nun auf zu neuen Ufern! Wir sehen uns am Montag zum Dienstbeginn, Herr Kilian. Ich freue mich auf Sie.“
Marius nickte und sah dem Wagen nach, dessen Fahrer keine Eile zeigte. Marius schüttelte den Regen vom Mantel. Er zitterte vor Kälte und sehnte sich für einen Moment in den heißen Sommer Australiens zurück. Dann eilte er zu seinem Fahrrad und fuhr so schnell er konnte in die Wohnung seines Vaters.
9
Obwohl Marius nicht recht einzuschätzen wusste, was ihn erwartete, hatte er sich den ersten Tag in den Diensten Herrn Weigelts anders vorgestellt. Herr Weigelt selbst war nicht im Haus. Sein Diener Karl hatte ihn in eine Klinik zu einer ambulanten Behandlung gefahren. Reine Routine sei dies, ließ Herr Weigelt ihm ausrichten.
Boris hatte Marius das Tor geöffnet. Bei ihrer ersten Begegnung war er zum Eingang gerannt und hatte Marius kaum erwarten können. Heute schlich er wie von einer Zentnerlast beschwert über den mit Kies bestreuten Weg, sagte kein Wort außer „Morgen“ und ging mit gesenktem Kopf zurück ins Haus. Dabei bewegte sich Boris so langsam, dass Marius ganz kleine Schritte machte, um auf seiner Höhe zu bleiben. Boris hielt sich die rechte Wange. Sie war geschwollen. Er führte Marius in die Bibliothek und nahm in einem der großen Sessel Platz, ohne Marius einen anzubieten.
„Boris, haben Sie Zahnschmerzen?“
„Duz’ mich“, brachte er mühsam hervor.
„Hast du Zahnschmerzen?“
Boris nickte, tippte auf die Backe, murmelte was von „Weisheit“ und grinste für einen Augenblick, um sogleich aufzustöhnen.
„Du musst zum Zahnarzt.“
Die Augen von Boris weiteten sich, dann hob er den Zeigefinger der linken Hand und schwenkte ihn heftig hin und her. „Nein! Dann lieber Backe dick!“
„Du musst sie wenigstens kühlen.“
Boris hob die Schultern.
„Habt ihr in eurem Kühlschrank Eiswürfel?“
Boris brachte statt einer Antwort nur ein Wimmern zustande.
„Bleib hier, ich schaue nach, ob ich Eis auftreiben kann.“
Marius suchte nach der Küche. Im Haus fanden sich viele Zimmer. Die Orientierung wurde ihm leicht gemacht, da über den Türen in großen Buchstaben, die in einer schönen, makellosen Schrift geschrieben waren, der Verwendungszweck jedes Zimmers stand.
Das Wohnzimmer war so groß wie die Wohnung seines Vaters. An den Wänden hingen Gemälde, vornehmlich mit Motiven aus der Schifffahrt vergangener Zeiten. Die Ausmaße des Fernsehers glichen der einer Kinoleinwand. Sessel und Sofa waren mit Leder überzogen, in der Luft