Namenlose Jahre. Marina Scheske

Namenlose Jahre - Marina Scheske


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weiß, es ist eine Demokratie. Es gibt mehrere Parteien und der Bürger kann frei wählen, wer regieren soll. Es gibt Meinungs- und Pressefreiheit, Reisefreiheit und das Recht, zu demonstrieren und zu streiken. Und dann gibt es ein sogenanntes Grundgesetz und eine Verfassung. Die Inhalte sind mir aber noch nicht bekannt. Ich denke, dieses Land ist ein freies Land. Damit meine ich, jeder kann dort nach seiner Fasson leben ... Solange er den Anderen keinen Schaden zufügt. Ich meine damit, die Freiheit der Anderen darf man nicht beeinträchtigen. Das mit der Freiheit ist sicher nicht so einfach.“

      „Da haben Sie recht. Sie sind ja gut informiert. Und wenn ich Sie so höre, glaube ich, Sie halten die Freiheit für ein begehrenswertes Gut.“

      „Wenn man in einem Land lebt, in dem es keine Freiheit gibt, da muss man sich ganz schön abstrampeln, um sich ein paar kleine Freiheiten zu erkämpfen. Das kann auch nach hinten losgehen und auf einmal sitzt man hinter Gittern. Deshalb ist mir die Freiheit so wichtig.“

      „Ich verstehe Sie sehr gut. Versprechen Sie mir etwas! Wenn sie drüben sind, erzählen sie den Leuten vom begehrenswerten Gut Freiheit. Sagen Sie ihnen, wie es sich angefühlt hat, hinter der Mauer zu leben. Leider weiß man oft den Wert der Freiheit nicht zu schätzen. Und so mancher nimmt sich seine persönliche Freiheit und missachtet dabei die Freiheit seines Nächsten.

      Sie haben das gut gesagt, junger Mann. Ihr DDR-Bürger habt in einer Diktatur gelebt und es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder musste man sich bedingungslos anpassen oder man dachte und handelte selbstständig im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten. Das war eine gute Schule des Lebens. Ich weiß, wovon ich spreche, meine Eltern stammen aus Dresden. ... Was sind Sie von Beruf, wenn ich fragen darf?“

      „Ich bin Schlosser. Speziell für Landmaschinen.“

      „Sehen Sie, auch das meine ich. ... Sie sind ein Mann aus der Mitte des Volkes. Ganz unter uns, fragen sie mal einen Schlosser in der BRD, was ihm Freiheit bedeutet und was sie ihm wert ist, er wird nur müde mit den Achseln zucken. Was selbstverständlich ist, das schätzt man oft nicht mehr sonderlich. ... Aber Sie, bleiben sie so wach, wie sie sind! Herzlich willkommen in der Bundesrepublik Deutschland.“

      „Vielen Dank! Ich habe da noch eine Frage, ich würde gern jemand anrufen, bevor es heute losgeht. Eine Familie in Dresden. Geht das?“

      „Selbstverständlich, kommen Sie morgen früh in mein Büro. Zimmer 5, im ersten Stock.“

      „Das ist doch dort, wo die ganze Nacht das Licht brennt, nicht wahr?“

      „Ja. Da, wo gewissermaßen das ewige Lämpchen glüht! Versuchen Sie noch ein bisschen zu schlafen. Oder wollen sie lieber mit mir einen Kaffee trinken? Ich habe gerade frischen gemacht.“

      „Wenn ich Sie nicht störe, gern. Schlafen kann ich jetzt nicht mehr.“

      „Na, dann kommen Sie! Da können wir uns noch ein bisschen unterhalten. Ich schreibe nämlich gerade einen Artikel über den Wert der Freiheit im heutigen Deutschland.“

      Hastig wählt er die Nummer, presst den Hörer an sein Ohr und während er dem Rufzeichen lauscht, schaut er hinauf zur Zimmerdecke. Ein großer Kronleuchter verleiht dem ansonsten nüchternen Büro etwas Nobles.

      Und dann hört er Frau Seewaldts Stimme. Sehr weit entfernt scheint sie zu sein, es rauscht und knackt in der Leitung. Noch einmal verabschiedet er sich, bedankt sich für alles, was sie für ihn getan haben und er hört, wie sehr sie sich freut, dass er nun ausreisen kann. Versprechen muss er ihr, dass er sich meldet, wenn er drüben ist. Und er soll sich keine Sorgen machen, sagt sie, auch seine Mutter weiß nun Bescheid. Sicher würde ihn das wundern, doch sie hätte Kontakt zu ihr. Aber nun soll er zusehen, dass er nach Freiburg kommt, zu seiner Susanne. Und wenn er sich aus Freiburg meldet, wird sie ihm alles erklären.

      Es klickt in der Leitung, Frau Seewaldt hat aufgelegt und Gerhard starrt auf den stummen Telefonhörer. Er kann sich nicht daran erinnern, Frau Seewaldt die Adresse seiner Mutter gegeben zu haben und auch von Susanne sprach er nicht. Woher kennen sie sich?

      Langsam legt er den Hörer zurück. Verwandtschaft, dieses Wort ist plötzlich da, huscht durch sein Hirn und er erinnert sich an einen Tag seiner Kindheit. …

      Jemand öffnet die Tür zum Büro. Er hört den Lärm im Hof und schaut auf die Uhr.

      Drei Busse stehen draußen fahrbereit und nun klopft ihm sein Herz bis zum Hals und seine Gedanken überschlagen sich. Er weiß jetzt, wer die Seewaldts sind, er ist sich ganz sicher.

      „Das ist der Wahnsinn“, murmelt er, „der blanke Wahnsinn.“

      „Genau“, meint der Mann neben ihm, „ein einziger Wahnsinn ist das!“

      „Stell dir vor, ich habe gerade meinen Onkel und meine Tante wiedergefunden. Wir hatten keinen Kontakt mehr, seit ich ein kleiner Junge war. Sie hatten sich mit meinem Vater zerstritten, der kann so ein richtiger Stoffel sein.“

      „Sind die auch hier?“

      „Nein, sie wohnen in Dresden.“

      „Das versteh ich nicht.“

      Gerhard lässt sich grinsend in den Sitz fallen.

      „Musst du auch nicht. Das ist nämlich ganz schön kompliziert, ich kann es selbst noch nicht fassen.“

      Die durchwachte Nacht fordert ihren Tribut. Er schläft ein und erwacht erst, als der Bus hält.

      „Mensch“, sagt sein Nachbar zu ihm, „du bist mir ja ein Kunde, du hast alles verpennt. Wir sind schon längst drüben!“

      Er schaut aus dem Fenster und sieht einen hässlichen Betonbau, der ihn fatal an die Schwedter Plattenbauten erinnert. Jedoch die bunte Leuchtreklame über dem Eingang gibt ihm Aufschluss darüber, dass der Bus vor einer westdeutschen Raststätte hält. Es ist Mittagszeit und man rüstet sich zum Aussteigen. Wie er von seinem Nachbarn erfährt, ist eine kleine Pause angesagt, eine Toilettenpause, danach soll es Kaffee geben. Verpflegungsbeutel werden auch gleich ausgeteilt, aber die heißen ja hier Lunchpakete, meint er und vielleicht wäre es besser, wenn man Englisch lernen würde, ständig diese englischen Worte. ... Er redet ohne Punkt und Komma.

      Als das Gedränge an der Tür aufhört, verlässt auch er den Bus. Er beschließt, sich von nun an allein durchzuschlagen, vielleicht hat er Glück und kommt als Anhalter weiter. Auf keinen Fall wird er mit den anderen in ein Lager gehen. Er kann sie alle nicht mehr sehen, die Frau aus Sachsen, die ihm mit ihrem furchtbaren Dialekt auf die Nerven geht, den dicken Mann, der sich überall vordrängelt und auch nicht die ewig quengelnden Kinder.

      „Ich muss hier weg, sonst platze ich“, sagt er zu seinem redseligen Nachbarn, der nicht von seiner Seite weicht, während sie den Parkplatz überqueren.

      „Weg? Wie meinst du das?“ Verständnislos schaut er ihn an.

      „Hör zu. Ich fahr jetzt allein weiter, jemand wird mich schon mitnehmen, ich bin schon öfter getrampt.“

      „Aber wir müssen doch ins Aufnahmelager! Du kannst doch nicht einfach machen, was du willst!“

      Gerhard schaut ihn an und er sieht, was er in Schwedt jeden Tag sah. Da steht jemand vor ihm, der stets darauf wartet, dass andere ihm sagen, wo es langgeht.

      „Pass auf, wenn alle wieder im Bus sind, dann sagst du dem Obermacker da vorn, dass ich mich abgesetzt habe. Ich muss nicht in ein Lager, meine Verlobte wartet auf mich in Freiburg. Susanne Riedel, Hartkirchener Straße 8, das ist ihre Adresse. Wenn irgendetwas ist, dann können sie mich dort erreichen. Kannst du dir das merken?“

      Der Mann zieht ein Notizbuch aus der Tasche und schreibt sich die Adresse auf. Er tut es langsam und bedächtig. Gerhard schaut hinüber zum Bus, die Ersten haben bereits wieder ihre Plätze eingenommen. Hastig verabschiedet er sich.

      „Erdmann, Gerhard“, murmelt der junge Mann vorn im Bus, „ja, der fehlt. Alle anderen sind da.“ Wieder schaut er auf seine Liste. „Es tut mir leid, aber unter diesen Umständen können wir nicht weiter. Schließlich trage ich hier die Verantwortung.“

      „Aber


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