Namenlose Jahre. Marina Scheske

Namenlose Jahre - Marina Scheske


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den Kutscher entlohnt, schaut Gerhard sich um. Man könnte meinen, in einem der alten, prachtvollen Häuser findet ein großes Treffen statt, ein Treffen der Einwohner des Nachbarstaates DDR. Aus allen Bezirken sind sie nach Prag gekommen, man sieht es an den Kennzeichen der geparkten Wagen.

      „Lassen sie die Autos einfach hier stehen?“

      Hans Rosenbaum nickt.

      „Aber das kann man doch nicht machen, die kosten ein Heidengeld. Und auf einen Trabant muss man sechzehn Jahre warten, wenn man keine Beziehungen hat. Einen Gebrauchten kann man sich erst recht nicht leisten, die werden immer teurer auf dem Schwarzmarkt. Die können sie doch nicht einfach hier stehenlassen, das sind doch Werte!“

      „Werte, na du hast Nerven! So manch einer hat sein Leben gelassen, weil er noch schnell sein Hab und Gut vor dem großen Brand retten wollte. Da könnte ich dir Geschichten erzählen. ... Nun, vielleicht ein andermal, mein Lieber, wir werden uns gleich verabschieden. Pass auf, von jetzt an sagst du kein Wort mehr. Nicht nur die Miliz durchkämmt regelmäßig die Straßen, am gefährlichsten sind die in Zivil. Du weißt schon, wen ich meine. Siehst du die Mauer dort vorn? Gleich bist du drin.“

      Hans biegt in eine Seitengasse ein. Es ist absolut still, sie begegnen keiner Menschenseele. Gerhards Herz klopft so laut, dass er sein Blut in den Ohren rauschen hört.

      Schließlich bleibt Hans vor einem Tor stehen. Hinter einem kunstvoll geschmiedeten Gitter stehen kleine Apfelbäumchen, an denen rotbackige, reife Früchte leuchten. Es duftet nach Jasmin. Morgentau glitzert im Gras und man hört den Gesang einer Amsel.

      „Das ist schön“, murmelt Gerhard, „ein richtiges kleines Paradies.“

      Hans öffnet den linken Flügel des Tores und bittet ihn mit einladender Geste herein.

      „Trau dich! Worauf wartest du noch? Ein Paradies ist es nicht, da muss ich dich enttäuschen. Aber es ist ja nur eine Durchgangsstation.“

      Er zieht einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schließt hinter ihnen ab. Sie gehen einen schmalen Kiesweg entlang, der an einer Mauer endet. Seine Hand gleitet über einen bronzenen Türklopfer. Er stellt einen grimmigen Löwenkopf dar, aus dessen Maul ein Ring baumelt. Nun erst sieht Gerhard, dass sie vor einer kleinen Pforte stehen, die man im Gemäuer kaum wahrnimmt. Sie verschwindet fast ganz hinter Efeu. Verblüfft schaut er zu, wie Hans einen Schraubendreher aus seiner Tasche holt und den Löwenkopf abmontiert.

      Eine Sprechanlage kommt zum Vorschein und Hans drückt auf einen Knopf. Seltsame Geräusche dringen an Gerhards Ohr und er ist sich nicht sicher, ob er ein Flugzeug hört oder einen Insektenschwarm.

      „Hörst du sie? Es werden jeden Tag mehr, sie haben schon Zelte im Hof aufgebaut.“

      Gerhard nickt stumm. Alles erscheint ihm nicht real, nicht zu ihm gehörig. Ihm ist, als würde er einen Film sehen.

      Ein Mann steht plötzlich vor ihnen und redet mit Hans. Er spricht von chaotischen Zuständen und sagt, dass er nur noch damit beschäftigt wäre, die Schäden zu begrenzen.

      Gerhard erwidert seinen Willkommensgruß mit einem schüchternen „Guten Tag“, mehr fällt ihm nicht ein.

      Hans verabschiedet sich von ihm.

      „Wenn du mal in Wien bist. ... Kann ja sein, Junge, jetzt wo du in die große weite Welt kommst. ... Dann miete dir einen Fiaker und denk an den Alten in Prag!“

      „Ich vergesse Ihnen das nie“, flüstert Gerhard, „was Sie für mich getan haben, werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Vielen tausend Dank noch mal!“

      Hans umarmt ihn. „Ist ja gut“, sagt er, „nicht übertreiben. Los, geh endlich rein.“

      Sein Blick wird dunkel und bevor er sich abwendet, murmelt er etwas. Gerhard versteht es nicht, doch es klingt, als würde Hans Rosenbaum ihm einen Segen mit auf den Weg geben.

      Er sitzt auf einer Bank im Flur des Seitenflügels und wundert sich, wie erstaunlich ruhig es hier drinnen ist. Draußen auf der Wiese tobt das Leben und soeben stieg er eine Treppe hinauf, auf der die Leute dicht an dicht hockten und Suppe aus Plastikschalen löffelten. Warten soll er hier, hat man ihm gesagt. Gleich käme jemand, um ihn einzuweisen. Er schaut aus dem Fenster, sein Blick schweift über die Dächer der Zelte. Kinder spielen zwischen ihnen Verstecken und Frauen hängen Wäsche auf. Ein Toilettenhaus sieht er, davor stehen sie in langer Schlange an und ihre Füße versinken knöcheltief im schlammigen Boden. Vom gepflegten Rasen ist nichts mehr übriggeblieben.

      „So ist das“, sagt plötzlich eine Frauenstimme hinter ihm, „nun stehen sie nicht mehr nach Bananen an, sondern um ihre Notdurft zu verrichten. Wie nennt man so etwas? Vielleicht Ironie des Schicksals. Und Sie? Worauf warten Sie?“

      Er mustert sie überrascht, ihr Kommen hat er nicht bemerkt. Eine kleine zierliche Frau steht neben ihm am Fenster, ihr rotes Haar fällt wie eine Feuerlohe über ihre Schultern.

      „Ich bin neu hier und warte auf meine Einweisung.“

      Ihr Blick irritiert ihn. Ich lasse mich nicht auf ein Gespräch ein, denkt er. Bloß nicht so viel reden, sie sind überall, sicher auch hier.

      „Na dann ... Dann warten Sie mal schön. Man sieht sich.“

      Eine Stunde später hat er alles geklärt und läuft mit zwei Wolldecken im Arm über den Hof, um sein Zelt zu suchen. Vorn ist es laut, ein Kind schreit und Frauen kreischen. Jemand wuchtet gerade einen Kinderwagen über den Zaun. Er schaut schnell weg. Ich will das nicht sehen, denkt er, ich muss mich jetzt ausruhen, ich kann nicht mehr.

      Obwohl es noch heller Nachmittag ist, legt er sich auf seine Pritsche. Er ist allein, alle sind am Zaun. Die Bilder seiner Flucht steigen in ihm auf. Wieder liegt er im nächtlichen Wald in einem alten Schützengraben und hört das knackende Geräusch von Holz, gefolgt von Tönen, die sich anhören wie menschliche Stimmen.

      An Schlaf ist jetzt nicht zu denken. Er steht auf, zieht seine Schuhe an und während er am Eingang des Zeltes steht, erinnert er sich an die Zigaretten in seiner Tasche. Diesmal raucht er mit Genuss und er spürt die beruhigende Wirkung des Tabaks.

      Die Stimme der rothaarigen Frau reißt ihn aus seinen Gedanken. Sie sitzt vor dem Zelt gegenüber auf einer Kiste, umringt von einer Schar Kinder und erzählt ihnen etwas. Vorsichtig geht er ein paar Schritte näher, um sie zu verstehen, dabei achtet er darauf, nicht von ihr gesehen zu werden. Ihre Stimme klingt warm und melodisch. Sie erzählt mit guter Betonung, nicht ohne eine gewisse Theatralik und er denkt, vielleicht ist sie Schauspielerin. Viele Künstler verlassen jetzt das Land. Es soll Auftrittsverbote geben, wenn sie sich nicht regimetreu verhalten. Er erinnert sich an ein Fernsehinterview im ZDF mit einer in den Westen geflüchteten DDR-Schauspielerin.

      Ein kleines Mädchen klatscht in die Hände, die anderen Kinder machen es ihr nach. Den Sinn ihrer Worte hat er nicht verstanden, er lauschte dem Klang ihrer schönen Stimme und sah auf ihre Hände, deren anmutige Gesten ihre Erzählung begleiteten.

      „Und nun das Märchen vom Feuervogel! Erzähl doch noch mal vom Feuervogel, bitte!“

      Wieder klatscht das kleine Mädchen in die Hände. „Bitte, bitte, das ist so schön.“

      „Aber das habe ich doch heute schon erzählt, wollt ihr nicht lieber etwas anderes hören?“

      „Es ist aber so schön! Du brauchst ja nur den Schluss zu erzählen, der ist am allerschönsten!“

      „Na gut, noch mal den Schluss:

      Endlich fand Marlene mitten im tiefsten Wald ihren geliebten Feuervogel. Wie schmerzlich hatte sie ihn vermisst und wie groß war ihre Freude! Doch was war mit ihm geschehen? Ihr fröhlicher Feuervogel, der sonst den lieben, langen Tag die wundervollsten Melodien zwitscherte, steckte müde den Kopf in sein Gefieder und nicht ein einziger Laut drang aus seinem Schnabel. Marlene nahm ihn auf den Arm und streichelte behutsam sein buntes Federkleid.

      Mein herzallerliebster Feuervogel, so sprach sie zu ihm, endlich habe ich dich gefunden. Überall habe ich nach dir gesucht. Warum hast du mir das angetan, warum hast du mich verlassen?


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