Namenlose Jahre. Marina Scheske

Namenlose Jahre - Marina Scheske


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weiß nicht so recht. Sicher ist es auffällig. Wissen Sie, das lange Haar ist für mich so etwas wie ein Markenzeichen. Na ja, das klingt vielleicht blöd, schließlich bin ich ja keine siebzehn mehr. ... Aber irgendwie ist es auch ein Protest. Ich glaube, Sie verstehen das.“

      „Natürlich. Du willst damit ausdrücken, dass du ein Individualist bist.“

      „Ja“, sagt er hastig, „das bin ich vielleicht. Aber ich bin kein Einzelgänger.“

      „Aber nein, so meine ich es nicht. Ich denke, du bist jemand, dem seine Freiheit viel wert ist und sicher hast du dich deshalb dafür entschieden, dieses Land zu verlassen.“

      „Sie haben Recht, da ist was dran.“

      Nein, denkt er, mehr werde ich ihr nicht sagen. Kein Wort von Susanne und dieser ganzen Geschichte mit dem Ausreiseantrag. Es ist besser, wenn sie es nicht wissen.

      „Und? Was ist nun mit den Haaren?“

      „Ehrlich gesagt, es fällt mir schwer. Aber Sie haben mich überzeugt, es muss wohl sein.“

      Er hört das Geklapper der Schere, spürt den leichten Druck des Kammes auf seiner Kopfhaut und sieht, wie die Strähnen zu Boden fallen. Ein eigentümliches Gefühl breitet sich in ihm aus. Ihm scheint, als würde sich mit den fallenden Haaren auch sein altes Leben von ihm verabschieden. Seltsam ist ihm zumute und schuld daran sind nicht die Haare, die vor ihm auf dem Boden liegen, sondern die Erinnerung an eine Zeit, als zwischen ihm und Susanne noch nicht die Rede davon war, dieses Land zu verlassen. Sein Leben war überschaubar und er hatte es sich ganz bequem darin eingerichtet. Doch jetzt ist alles anders und kein Weg führt mehr zurück. Ihm ist nun klar, dass er mehr verliert als nur ein paar Büschel Haare.

      Sein altes Leben existiert nicht mehr und ein Neues ist noch nicht in Sicht.

      Frau Seewaldt hält ihm einen Spiegel vor.

      „Fertig! Na, was sagst du nun? Ich finde, es steht dir gut.“

      Im ersten Moment glaubt er, das Gesicht eines Fremden zu sehen. Dieser Fremde sieht aus wie der junge Mann auf dem Foto.

      Älter erscheint ihm nun sein Gesicht. Ein Gesicht mit herben Konturen sieht er, ein Gesicht, in dem das Leben erste Spuren hinterlassen hat. Er nahm sie bisher nicht wahr, wenn er sich im Spiegel anschaute, sein langes Haar verlieh seinem Äußeren eine gewisse jugendliche Unbeschwertheit.

      „Du musst dich erst daran gewöhnen, nicht wahr? Aber nun siehst du ganz anders aus und darum geht es ja! Wenn du jetzt noch was Anderes anziehst. ... Ich habe da eine Wetterjacke von meinem Sohn, die müsste dir passen.“

      Er folgt ihr in das Zimmer, in dem er schlief und sie öffnet den Schrank. Eine kleine Weile steht sie still davor, dann nimmt sie eine Jacke heraus.

      „Das ist eine gute Jacke“, sagt sie leise. „Ein englisches Fabrikat, die hält was aus. Mein Sohn hat sie in Prag gekauft.“

      „Ist ihr Sohn tot?“

      „Ja“, antwortet sie hastig, „das ist lange her, mehr als zwanzig Jahre. ... Aber so etwas trägt man immer, diese Jacke ist zeitlos. Es ist eine Barbourjacke. Gewachst, da geht nichts durch. Kein Regen, kein Wind, nicht einmal Feuer, wenn man dem Hersteller glauben darf.“

      „Es tut mir leid, das mit ihrem Sohn“, sagt er leise. Er sieht die Trauer in ihren Augen und er denkt an seine Mutter, von der er sich nicht verabschieden konnte.

      „Zieh sie an, sie müsste dir passen.“

      Er schlüpft in die Jacke und sie schaut ihm lächelnd zu.

      „Perfekt! Und vor allem nicht so auffällig wie der Parka. Damit meine ich, mit dem Parka ist es so wie mit den langen Haaren.“

      „Ich weiß. ... Und Sie haben ja recht. Aber werden Sie die Jacke nicht vermissen? Ich meine, weil es doch die Jacke Ihres Sohnes war.“

      „Ach ... Eine Jacke ist nur eine Jacke! Ich glaube, Herfried würde sich sehr darüber freuen, dass diese Jacke noch eine Verwendung findet.“

      „Wenn Sie es so sehen, dann nehme ich sie gern. Sie haben recht, ich sehe mit den kurzen Haaren und dieser Jacke ganz anders aus. Ich möchte mich noch einmal für alles ganz herzlich bedanken.“

      Ihre Blicke treffen sich im Spiegel. Herr Seewaldt kommt herein und bringt einen Schuhkarton mit.

      „Na? Wird das hier eine Modenschau? Die Jacke sitzt ja wie angegossen. Aber mit deinen Turnschuhen wirst du nicht weit kommen! Hier, zieh die mal an, das sind Wanderschuhe und sie sind so gut wie neu. Ich denke, sie werden dir passen.“

      „Ja, das ist genau meine Größe.“

      „Na dann, worauf wartest du noch!“

      Er schlüpft in die robusten Schuhe und schnürt die Senkel. Dann richtet er sich auf und setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

      „In neuen Schuhen in ein neues Leben“, sagt Herr Seewaldt und es klingt seltsam feierlich.

      „Unser Sohn würde sich freuen, wenn er wüsste, dass du in seinen Schuhen in eine bessere Zukunft gehst. Und nun setz dich und hör gut zu.“

      Herr Seewaldt reicht ihm einen Zettel.

      „Wo du über die Grenze gehst, haben wir ja besprochen. Du meldest dich bei dieser Adresse und fragst nach Hans Rosenbaum. Sag ihm, dass dich Eva schickt und du möchtest einen Fiaker mieten. Der Fiaker ist das Kennwort. Natürlich könntest du auch auf eigene Faust über den Zaun der Botschaft steigen. Aber wieso solltest du dich unnötig in Gefahr begeben, das ganze Viertel wimmelt nur so von Stasi-Leuten. Hans Rosenbaum kennt sich gut aus. Du bist nicht der Erste, dem er hilft. Er wird dich unbemerkt in die Botschaft bringen. Hier hast du unsere Adresse und die Telefonnummer. Melde dich, wenn du drüben bist, wir würden uns freuen!“

      Herr Seewaldt kramt eine Klarsichthülle aus seiner Westentasche und schiebt einen kleinen Zettel hinein. „Unsere Telefonnummer. Die legst du in den Schuh, unter die Einlegesohle. Man weiß ja nie ...“

      Gerhard steht am Torweg und schaut unschlüssig die Straße hinauf.

      Frau Seewaldt drückt seine Hand. „Und grüß mir das goldene Prag“, flüstert sie. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

      An der Ecke wechselt er die Straßenseite und weicht den Menschen aus, die vor einem kleinen Geschäft in langer Schlange anstehen. Schnell hat er die kopfsteingepflasterte Straße hinter sich gelassen, passiert eine Elbbrücke und läuft den Weg hinauf in die Berge. Noch einmal schaut er hinab ins Tal, dort liegt die Stadt im warmen Licht des Spätsommertages.

      „Du hast mir Glück gebracht, Elbflorenz“, flüstert er. „Es ist nur schade, dass ich keine Zeit habe, um dich richtig kennenzulernen.“

      Am anderen Ufer sieht man all das, was er schon immer mal sehen wollte, den Zwinger, das Grüne Gewölbe, die Trümmer der Frauenkirche, die Semperoper. Nun war er in Dresden und hat nichts von all dem gesehen.

      Während sein Blick über die Elbe schweift, denkt er daran, welche Konsequenzen diese Flucht für ihn hat. Wenn sich das Tor der Botschaft hinter ihm schließt, dann wird die Welt hinter diesem Tor für ihn in Zukunft unerreichbar sein. Für immer? Das kann nicht sein, denkt er. Es kann doch nicht sein, dass ich nie wieder zurückkommen kann. Er denkt an seine Heimatstadt, an all die Plätze, die er liebt. Hilflosigkeit paart sich mit Wut, er schließt die Augen und spürt wieder den pochenden Schmerz in der rechten Schläfe. Herrn Seewaldts Worte fallen ihm ein.

      „Die Dinge sind in Fluss“, sagte er in der Nacht zu ihm. „Glaube mir, dieser Fluss wird zum reißenden Strom. Nichts kann ihn mehr aufhalten.“

      Was meinte er mit seinen dunklen Andeutungen? Vom Strandgut sprach er, das der Fluss an die Ufer spülen wird und von einer neuen Zeit ohne Mauern und Stacheldraht. ...

      Schnell wendet er sich ab und läuft hinauf in den Wald. Eintauchend ins dunkle Tannengrün läuft er höher und höher, bis hinauf zur Kuppe des Berges. Er orientiert sich am Stand der Sonne und


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