Namenlose Jahre. Marina Scheske

Namenlose Jahre - Marina Scheske


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Ja, es leuchtet in der Dunkelheit grell und schrill im Licht eines Scheinwerfers. Das laute Geheul einer Sirene fällt ein in die Stille. Sie schaut hinauf zum Himmel und dann dreht sich plötzlich die Erde unter ihr. Sie dreht sich schnell, immer schneller, bis eine mächtige Kraft sie zu Boden schleudert. ...

      Als sie erwacht, ist weit nach Mitternacht. Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer. Lauschend steht sie am Fenster. Nein, denkt sie, sie sind nicht da, heute nicht. Aber wo sind sie? Sind sie wirklich alle am Bahnhof oder durchkämmen sie mit ihren Hunden den Wald. ... Herrgott im Himmel, bitte hilf, dass sie ihn nicht finden.

      Sie geht zum Sekretär. Mit fliegenden Fingern öffnet sie ihn hastig und findet das kleine Kästchen, in dem sie die Briefe aufbewahrt, deren Botschaft ihr bis zum heutigen Tag absurd erscheint. Obwohl sie weiß, dass Herfried tot ist, lässt sie es nur selten zu, dass die Wahrheit sich wie ein Dolch in ihr Herz bohrt.

      „Euer Schmerz ist auch unser Schmerz. Wir haben Herfried geliebt wie unseren eigenen Sohn. Seid stolz auf ihn, er war ein wunderbarer Mensch, ein Held des Prager Frühlings und alle, die ihn kannten, liebten ihn. Hans und Martha.“

      Sie lässt den Briefbogen sinken und schließt die Augen.

      „Keiner wird mehr sterben, weil er ein freier Mensch sein will“, sagt sie leise, „Adrian hat recht, ihre Zeit ist abgelaufen.“

      Er läuft über die Karlsbrücke und vergisst dabei den Grund seiner Reise nach Prag. Die Angst der letzten Nacht, die gefahrvolle Fahrt im überfülltem Zug, all das ist ausgelöscht in dieser Stunde, verdrängt vom staunenden Bewusstsein hier auf dieser Brücke zu sein. Er folgt dem Strom der Fußgänger, doch ab und an hält er inne, um den Straßenmalern über die Schulter zu schauen. Schnell skizzierte, elegante Porträts sieht er auf ihren Staffeleien, duftige Aquarelle und großformatige Acrylbilder, auf denen man die Prager Burg vielfarbig leuchten sieht.

      Verlockend der Gedanke, selbst hier zu sitzen und zu malen. Ihm scheint, als würde es am Ufer der Moldau ewig Sommer sein und jeder Tag ein Ferientag, wenn man sich hinsetzt, malt und alles andere vergisst. Und abends geht man angeln, weiter stromaufwärts ... Und dann ein Feuerchen machen, um den Fisch zu braten.

      Ich kann auch malen, denkt er, und sogar ganz gut. Wenn ich mich nur trauen würde, wie als Kind mit dem Tuschkasten. Zeichnen war mein Lieblingsfach in der Schule und Mutter hat meine Bilder einrahmen lassen, auch wenn Vater sich darüber mokierte. Weshalb war er eigentlich immer so sauer, wenn ich lieber malen oder lesen wollte, statt mit ihm auf den Sportplatz zu gehen? ... Weil ich Offizier werden sollte, so wie er.

      Am Ende der Brücke setzt er sich auf eine Bank und während er die Schokolade isst, die ihm Frau Seewaldt fürsorglich eingepackt hat, betrachtet er die flanierenden Touristen. Fremde Sprachfetzen dringen an sein Ohr, er schnuppert dem Parfüm einer eleganten Frau nach und bestaunt das extravagante Aussehen zweier Männer. Sie tragen Schottenröcke, Kniestrümpfe und derbe Wanderschuhe.

      Er schließt seine Augen und spürt eine übermütige Freude in sich aufsteigen. Ich werde mir die Welt anschauen, denkt er. Alles werde ich sehen und es dann malen. Ja, malen werde ich wieder, jetzt habe ich Lust drauf. Und niemand kann mir mehr verbieten, irgendwohin zu gehen, um zu leben, wie es mir passt. So wie damals, als ich nach Berlin wollte und sie mir die Zuzugsgenehmigung verweigerten.

      Im Strom der Touristen lässt er sich treiben und steht schließlich vor dem Veitsdom, umringt von einer Gruppe junger ausländischer Touristen. Ihre Fröhlichkeit ist ansteckend, doch der Anblick eines grimmig dreinschauenden Polizisten erinnert ihn daran, warum er nach Prag gekommen ist. Der Gedanke, dass die Freiheit dieser Stadt nur eine trügerische Illusion ist und er den Ort, wo Freiheit für ihn greifbar sein wird, noch nicht erreicht hat, überfällt ihn mit kalter Nüchternheit. Seine Euphorie fliegt so schnell fort wie ein Schwarm Tauben vom Platz. Schnell verlässt er den belebten Ort und geht zu einem kleinen Geschäft, dessen Auslage verrät, dass hier außer mit Tabakwaren auch mit anderen nützlichen und weniger nützlichen Kram gehandelt wird. Im altmodisch dekorierten Schaufenster entdeckt er zwischen neongrünen Dauerlutschern, vergilbten Zeitschriften und aufgetürmten Zigarrenkisten, wonach er sucht. Landkarten und Stadtpläne liegen dort zwischen toten Fliegen und einem Sortiment nostalgisch anmutender Pfeifen.

      „Trafik“ steht auf der Fensterscheibe und er erinnert sich an Herrn Seewaldts Worte: „Geh in einen Tabakladen, die Inhaber sprechen meist deutsch. Dort fragst du, wie du in die Josefstadt kommst. Du sagst einfach, dass du ein Tourist bist und zum jüdischen Friedhof willst. Aber bevor du hineingehst, schau dich genau um, du musst vorsichtig sein.“

      Der Ton des Ladenglöckchens reißt ihn aus seinen Gedanken. Ein junger Mann kommt heraus, er trägt einen hellen Sommerblouson, sein fahles, blondes Haar ist akkurat gescheitelt. Beim Anblick der dezenten Farblosigkeit des Fremden steigt ein gewisses Unbehagen in ihm auf. Ihre Blicke begegnen sich. Hastig öffnet der Fremde die eben erworbene Packung Zigaretten und sucht in seinen Taschen nach dem Feuerzeug. Während er das würzige Aroma des aufsteigenden Qualms riecht, hat er auf einmal wieder große Lust, zu rauchen. Susanne zuliebe gewöhnte er es sich ab. Ich geh jetzt endlich da rein, denkt er. Ich kaufe Zigaretten, das ist ganz unauffällig. Und dann frage ich nach der Josefstadt. Mehr so beiläufig. Es nützt ja nichts, ich darf jetzt keinen Schiss haben.

      Der Fremde überquert die Straße, anscheinend hat er nur auf das Signal der Ampel gewartet. Wieder läutet das Glöckchen an der Tür, ein älterer Mann kommt aus dem Hinterzimmer und nickt ihm freundlich zu.

      Gerhard zeigt auf eine Packung der DDR-Marke „F6“.

      „Eine Schachtel bitte und ein Feuerzeug.“

      „Sehr wohl, der Herr.“

      Er überlegt, ob er mit Ostgeld oder lieber mit den Kronen zahlt, die ihm Frau Seewaldt beim Abschied in die Jackentasche steckte. Schließlich legt er die Kronen auf den Tresen.

      „Haben Sie vielleicht ... Ich brauche einen Stadtplan. Ich will in die Josefstadt.“

      Der hellwache Blick des alten Mannes irritiert ihn, Unbehagen steigt in ihm auf. Er wendet sich ab und schaut durch die kleine Schaufensterscheibe. Draußen ist niemand, kein Mann im hellen Sommerblouson, keine Menschenseele.

      „Selbstverständlich, der Herr, nehmen Sie diesen, der ist gut. ... Große Schrift und es ist alles eingezeichnet. Der hier ist zwar billiger, aber ein bisschen ungenau, wenn ich das mal so sagen darf.“

      „Ich dachte, die sind alle gleich, liegt das nicht in der Natur der Sache?“

      Der Alte macht eine abwägende Handbewegung.

      „Oh nein, mein Herr, da gibt es schon gewisse Unterschiede. Aber bei mir haben Sie noch die Auswahl. Am Bahnhof sind sie bereits alle ausverkauft.“

      Natürlich ahnt er, weshalb Stadtpläne zurzeit in Prag ausverkauft sind, doch nun will er so schnell wie möglich weg und geht nicht auf die Anspielung des alten Mannes ein.

      „Nehmen sie auch Ostmark?“

      Der Alte nickt, er schaut dabei aus dem Fenster. Eine Gruppe junger Leute hat sich vor seiner Schaufensterscheibe versammelt. „Deine Landsleute“, sagt er leise. Er streicht das Geld ein, gibt das Wechselgeld heraus, dann beugt er sich über den Tisch und auf seinem gemütlichen Gesicht zeigt sich ein breites Grinsen. „Sie sehen alle gleich aus.“

      „Mag sein“, antwortet Gerhard, nickt ihm zu und verlässt schnell den Laden.

      Während das Glöckchen hinter ihm klingelt, geht er durch die einförmig gekleidete Menge. Jeanshosen und Jacken, blau verwaschen, soweit das Auge reicht. Im Stillen dankt er Frau Seewaldt für die Verwandlung, die sie ihm angedeihen ließ. Sicher hat ihn nur das Ostgeld verraten.

      An der Ecke bleibt er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Sie schmeckt ihm nicht, ihm wird schwindelig und er wirft sie in den Rinnstein.

      Er nimmt die Straßenbahn. Der alte Mann im Laden hat recht, dieser Stadtplan ist gut, da kann nichts schief gehen. Hinter dem Altstädter Ring steigt er aus und liest das Straßenschild, „Staromeski Namesti“. Er beschließt, von hier aus zu Fuß weiterzugehen.

      An


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