Namenlose Jahre. Marina Scheske

Namenlose Jahre - Marina Scheske


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seltsamen, metallischen Geschmack hat er im Mund, es ist der Geschmack des Blutes. Hastig spuckt er seinen Speichel aus und schaut zu Boden. Offensichtlich hat er einen Backenzahn verloren.

      „Den habe ich nicht einfach so verloren, meine Zähne sind in Ordnung. Den haben sie mir ausgeschlagen, diese Schweine“, murmelt er.

      Schnell schaut er sich um, doch niemand nimmt Notiz von ihm. Die Wut mildert seinen Schmerz und er schließt erneut die Augen. Die Sonne tut ihm gut und er beschließt, noch eine Weile zu bleiben. Einfach nur dasitzen will er und an nichts denken.

      Am Marktstand gegenüber steht eine ältere Dame. Während sie wartet, bis sie an der Reihe ist und ihr Korb mit Äpfeln gefüllt wird, lässt sie ihren Blick über den Platz schweifen. Sie sieht den jungen Mann auf der Bank. Ein seltsames Gefühl steigt in ihr auf. Übermächtig freudig und gleichzeitig schmerzvoll überfällt es sie. Sie denkt an Herfried, an ihren toten Sohn.

      Die Verkäuferin reicht ihr den Korb und wieder schaut sie hinüber zur Bank. Sie sieht, wie der Mann die Augen aufschlägt, sich reckt und streckt und dann zusammenfährt. Mit beiden Händen hält er seinen Kopf fest, sein Gesicht ist schmerzverzerrt.

      Unter einer Linde bleibt sie stehen. Sie hofft, dass er sie im Schatten des Baumes nicht bemerkt. Nachdem er die Augen geöffnet hat, ist sie sich ganz sicher, wer dieser junge Mann ist, der ihrem Sohn so sehr ähnelt.

      „Gerhard Erdmann“, flüstert sie, „du bist Gerhard, Annelieses Sohn.“

      Ihre Gedanken überstürzen sich. Es kann nur einen Grund geben, weshalb Gerhard Erdmann in Dresden ist und aussieht, als hätte er ein Problem. Er will raus, so wie all die anderen, die jede Nacht durch die Stadt ziehen. Und es ist etwas passiert mit ihm, es geht ihm nicht gut.

      Er sieht nicht aus wie ein Tourist, der gemütlich durch die Stadt bummelt und den Zwinger besuchen will. ... Doch vielleicht irrt sie sich und es handelt sich um einen Fremden, der Herfried zufällig ähnlich sieht, so etwas gibt es ja. Aber wenn er es wirklich ist, was sagt sie zu ihm, wie soll sie ihn ansprechen nach all den Jahren? Er kennt sie ja gar nicht mehr, er war ein Kleinkind, als sie ihn das letzte Mal sah.

      Kurz entschlossen geht sie zu ihm, fragt hastig, ob sie auch nicht stören würde und setzt sich lächelnd. Dabei hofft sie, dass er nicht bemerkt, wie aufgeregt sie ist.

      Während sie ihren Blick über den Markt schweifen lässt und nach Worten sucht, mustert er sie verstohlen. Es scheint keine Gefahr von ihr auszugehen. Eine sympathische, gut gekleidete ältere Dame sitzt neben ihm und sicher wäre es absurd zu denken, man hätte sie geschickt, um ihn zu beobachten.

      Inzwischen ist es weit nach Mittag, die Händler bauen ihre Stände ab und die Käufer haben den Platz verlassen. Seine rechte Wange pocht schmerzvoll, erneut füllt sich sein Mund mit Blut. Hastig schluckt er es hinunter.

      „Geht es Ihnen nicht gut, haben Sie Schmerzen?“

      Sie beugt sich zu ihm und berührt flüchtig seinen Arm.

      „Ich glaube, ich habe gerade einen Backenzahn verloren“, nuschelt er verlegen.

      Er schaut auf das, was vor ihm im Schmutz liegt und offensichtlich sein Zahn ist.

      „Es sieht wohl so aus“, sagt sie hastig, nimmt ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und bückt sich. Geschickt klaubt sie mit Hilfe des Tuches den vermeintlichen Zahn auf und betrachtet ihn.

      „Mein Mann ist Zahnarzt, wissen Sie. Es macht mir nichts aus.“

      Beide schauen sie nun auf das blutverschmierte Bröckchen.

      „Die Wurzel muss noch drin sein. Sie haben sicher große Schmerzen, nicht wahr?“

      Er nickt stumm. Sicher will sie wissen, wie das passiert ist, denkt er. Ich hätte lieber gleich gehen sollen, als sie kam.

      „Ich bin nur auf der Durchreise“, sagt er hastig. Dabei legt er seine Hand auf die rechte Wange und fühlt eine deutliche Schwellung.

      „So können Sie nicht reisen, junger Mann, vorher müssen Sie sich behandeln lassen. Kommen Sie mit mir, mein Mann ist ein guter Zahnarzt.“

      Er schweigt und vermeidet es, sie anzuschauen.

      „Vertrauen Sie mir“, flüstert sie, „ich bin mir sicher, Sie wollen nicht lange in Dresden bleiben, aber erst muss Ihr Zahn behandelt werden. Kommen Sie, wir wohnen nicht weit von hier. Sie sind nicht der Erste, der unsere Hilfe in Anspruch nimmt. Damit meine ich Hilfe in einer besonderen Situation. Verstehen Sie?“

      Auch er steht nun auf. „Ich weiß nicht, ob ich einfach so mitkommen kann. Heute ist doch Sonnabend, haben Sie da nicht geschlossen?“

      Er mustert sie verstohlen und bemerkt, dass sie ganz anders aussieht als die älteren Frauen in seiner Heimatstadt. Ihr weißes, korrekt geschnittenes Haar schmiegt sich wie ein Helm um ihr feines Gesicht, ihre Lippen sind dezent geschminkt. Sie trägt einen marineblauen Blazer, einen grauen Kostümrock und feine Wildlederpumps. Sehr elegant erscheint sie ihm.

      „Aber sie sind doch ein Notfall, machen sie sich keine Gedanken! Ach, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Frau Seewaldt. ... Und Sie, junger Mann, mit wem habe ich das Vergnügen?“

      „Ich heiße Gerhard Erdmann.“

      Sie versucht, ihre Erregung zu verbergen und beugt sich über den Apfelkorb, als würde sie die Qualität der Äpfel prüfen. Dann schaut sie ihn an, ein strahlendes Lächeln zeigt sich auf ihrem Gesicht. Es geht ihm ins Herz und er fühlt sich wunderbar geborgen.

      Er nimmt ihr den Korb ab und folgt ihr. Sie überqueren den Markt und biegen in eine schmale Seitenstraße ein. Vor einem Torweg hält sie inne. Er öffnet ihr die schwere Tür und sie gehen hinein. Eine weitere Tür führt zum Hof. Sie steht offen und lässt die Sonne in den düsteren Hausflur scheinen. Zwei kleine Jungen jagen einem Ball hinterher. Er hört das scheppernde Geräusch einer Mülltonne und schreckt nervös zusammen.

      „Es ist alles in Ordnung.“ Frau Seewaldt legt ihre Hand sacht auf seinen Arm. „Das sind nur die Kinder.“

      Eine steile Treppe führt hinauf in den zweiten Stock und endet vor einer weiß lackierten Wohnungstür. Sein Blick gleitet über ein kleines Bogenfenster im oberen Teil. Es zeigt ein elegantes Buntglasmotiv. Auf blauem Grund sieht man die schlanke Silhouette einer Frau. Ihr blondes, gewelltes Haar fällt herab bis zur Taille. Sie spielt auf einer Harfe und eine winzige Elfe schaut ihr dabei zu.

      „Gefällt es Ihnen? Es ist original Jugendstil, mein Mann hat es aus einem Abbruchhaus gerettet.“

      Er nickt wortlos, während er auf das Namensschild schaut.

      So ein Zufall, sie heißen Seewaldt, denkt er. Das ist der Mädchenname meiner Mutter. Sicher ist das ein gutes Omen, ich kann jetzt jede Menge Glück gebrauchen.

      Frau Seewaldt führt ihn ins Wartezimmer.

      „Machen Sie es sich bequem, setzen Sie sich! Ich sage nur schnell meinem Mann Bescheid.“

      Er ist allein und schaut sich um. Auf einmal ist ihm zumute, als hätte er alle Angst und Hast draußen vor der Tür gelassen. Die dunkle Holzvertäfelung, das alte Parkett und die gemütlichen Korbsessel, all das hat einen liebenswert altmodischen Charme und gibt ihm das Gefühl einer Auszeit. Nun spürt er auch keinen Schmerz mehr, entspannt schließt er seine Augen und öffnet sie erst wieder, als er Schritte nahen hört. Ein älterer Herr im weißen Kittel steht vor ihm und reicht ihm die Hand.

      „Sie sind also Herr Erdmann. ... Herzlich Willkommen, junger Mann. Meine Frau sagte mir, Sie hätten da ein kleines Zahnproblem. Eigentlich ist die Praxis am Sonnabend um diese Zeit schon geschlossen, aber für Sie machen wir mal eine Ausnahme. Kommen Sie gleich hier entlang, bitte sehr.“

      „Es tut mir leid, dass ich Ihnen Umstände mache, aber da ich auf der Durchreise bin, wäre es besser, wenn Sie mal nachschauen. Es blutet andauernd.“

      „Entspannen Sie sich erst einmal. Lehnen Sie sich einfach zurück und machen Sie den Mund auf. ... In der Tat, da haben wir


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