Namenlose Jahre. Marina Scheske

Namenlose Jahre - Marina Scheske


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es denn in der DDR Berufsverbot!“

      „Keine Ahnung. Ich bin Schlosser, Handwerker braucht man immer.“

      „Lehrer auch. Auf jeden Fall ist sie nicht ganz koscher, das sag ich dir.“

      „Wenn du meinst. Ich lass mich sowieso mit niemand ein, ist nicht meine Art. Tschüs denn und vielen Dank!“

      Früh ist es dunkel geworden an diesem Herbstabend und dicht gedrängt stehen sie vor dem Balkon. Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Väter, es wird gelacht und gelärmt. Ein Ruf pflanzt sich fort über die Köpfe, immer lauter wird er, schwillt an zum vielstimmigen Chor, kraftvoll und fordernd schallt er über den Hof.

      „Rauskommen, rauskommen, rauskommen!“

      Doch dann ist es still. Es ist eine magische Sekunde, in der ein jeder die Energie des anderen spürt und sie mit der eigenen verbindet, um sie in Kraft umzuwandeln.

      Wie sie vor dem Balkon stehen und den Mann anschauen, der jetzt dort oben im Licht erscheint wie ein Messias. ... Sie ahnen bereits, dass endlich der Moment gekommen ist, der ihrem Warten ein Ende setzt.

      „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise ...“

      Der augenblicklich folgende Lärm schluckt jedes weitere Wort. Gerhard aber findet sich in den Armen eines Fremden wieder, der sich mit ihm jubelnd im Kreise dreht.

      Es wird geweint und gelacht und er denkt, wenn es wirklich wahr ist und wir alle ausreisen dürfen, dann hat dieser Mann auf dem Balkon mit seiner Verkündigung etwas Großes erreicht. Nie zuvor rüttelte jemand so vehement an den Grundfesten der DDR.

      „Das ist das Ende!“, ruft jemand. „Diesen Staat wird es bald nicht mehr geben, weil er keine Bürger mehr hat! Ein Staat ohne Bürger, ha! Wie gönne ich es ihnen!“

      Am nächsten Tag diskutieren sie über die Dinge, die da kommen sollen. Gerüchte machen die Runde. Sie werden alle mit dem Zug ausreisen, sagt man und die Fahrt wird über Dresden gehen. Er hört es und beschließt, dass er ganz sicher nicht in einen Zug steigen wird, der durch das Hoheitsgebiet der DDR fährt.

      „Überlege es dir gut“, sagt der junge Mann im Parka zu ihm, „vielleicht ist es unsere einzige Chance, keiner weiß, was kommt. Vielleicht marschieren schon morgen die Russen ein, so wie damals. Genau hier in Prag, du weißt schon, 1968.“

      „Quatsch“, mischt sich ein Dritter ein, „die Zeiten sind vorbei, da macht Gorbatschow nicht mit!“

      Die Diskussionen gehen hin und her, stundenlang werden allerlei Möglichkeiten in Betracht gezogen.

      „Und wenn sie nun den Zug stoppen“, meint eine Frau. „Stellt euch vor, sie holen uns da raus, dann sind wir auf ihrem Territorium und so gut wie vogelfrei! Die dürfen das, noch sind wir ja DDR-Bürger!“

      „Ach, das ist doch lachhaft“, ereifert sich der junge Mann im Parka, „das können sie sich gar nicht mehr leisten, die ganze Welt schaut ihnen jetzt auf die Finger. Wer nicht will, kann auch über Österreich raus, das habe ich heute Morgen gehört. Raus kommt auf alle Fälle jeder, es ist nur eine Frage der Zeit.“

      „Na klasse, also Weihnachten will ich hier nicht feiern.“

      „Geh doch Heiligabend zurück, das merkt doch keiner mehr, jetzt geht doch sowieso alles drunter und drüber. Dann kannst du in deinem geliebten Saalfeld Weihnachten feiern und nach Mitternacht, wenn alle schlafen, fährst du wieder retour.“

      „Mann, du bist dumm wie ein Konsumbrot!“

      „Danke gleichfalls.“

      Die größte Mühe gibt er sich, diesen fruchtlosen Diskussionen den Rücken zu kehren, doch das ist nicht leicht. Allein die räumliche Enge sorgt dafür, dass man alles hört und sieht, was in der Botschaft geschieht. So gut es geht, vermeidet er Kontakte und verliert auch nie die Beherrschung, wie es bei einigen Flüchtlingen in diesen Tagen durchaus vorkommt.

      Jetzt, nachdem das Schlimmste ausgestanden ist, liegen die Nerven blank und es wird nicht nur über die bevorstehende Ausreise diskutiert, es gibt auch oft genug Streit um banale Nichtigkeiten.

      Die rothaarige Frau sitzt eines Morgens im ersten Bus, der das Tor passieren soll und als er ihr blasses, müdes Gesicht sieht, bereut er seinen Verdacht. Sie winkt ihm zu und lächelt. Er sieht, wie hübsch sie ist, hübscher als alle jungen Frauen, die er auf diesem Hof gesehen hat und er winkt zurück. Dann wendet er sich ab, geht in sein Zelt und seine Gedanken weilen bei Susanne.

      Wie sie wohl jetzt aussehen wird, denkt er und vergisst dabei, dass sie sich erst vor zwei Monaten das letzte Mal gesehen haben. Es scheint ihm eine Ewigkeit her zu sein und jeder Tag hier in der Botschaft dehnt sich endlos. Er versucht, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen, aber es gelingt ihm nur schemenhaft. Es fehlt etwas, es fehlt das ganz Persönliche, das Unverwechselbare. Er kann es nicht mehr in seinem Gedächtnis finden und eine gewisse Schwermut breitet sich in ihm aus.

      Als er die Nachricht erhält, dass er schon am nächsten Tag über Österreich ausreisen kann, geht es ihm so wie es all denen erging, die mit dem Zug über Dresden längst ausgereist sind. Die Schwermut weicht einer Hyperaktivität. Unruhig wandert er umher, kramt sinnlos in seinem Rucksack, als gäbe es etwas zu packen. Doch außer seinem alten Parka hat er nichts dabei. Seufzend hält er inne und setzt sich auf seine Pritsche.

      „Ich habe nichts mehr“, murmelt er, „wie ein Bettler komme ich da rüber. Und mein Geld ist dort nichts wert.“

      Vielleicht will Susanne ihn gar nicht mehr, wenn er dort aufkreuzt. Sie ist sehr hübsch, die Männer werden nach ihr schauen. Vielleicht kommt einer, der ihr was bieten kann, einer, der schon immer da drüben war. Wie nannte es gestern die Frau aus dem Zelt nebenan. ... Einer, der auf der richtigen Seite der Elbe geboren wurde. ...

      In der letzten Nacht schläft er nicht. Sein Leben zieht wie ein Film an ihm vorbei. Szenen steigen in ihm auf, an die er sich längst nicht mehr erinnern konnte, Tage, die er lieber aus seinem Gedächtnis löschen würde und Erinnerungen, die seine Seele streicheln wie ein sanfter Sommerwind. Gerhard Erdmann zieht Bilanz und ihm wird klar, es war gut, dieses Leben, trotz aller Widrigkeiten. Er hat es richtig gemacht, auch wenn sie ihm immer einreden wollten, er wäre ein Außenseiter der Gesellschaft. Jemand, der nicht aktiv ist, wie sie es nannten, den sie nur so am Rande duldeten und der ihnen suspekt war. Der ihnen nicht nach dem Munde redete, nicht ihre Einheitskleidung trug und kein Parteiabzeichen an der Jacke hatte. Jemand, der amerikanische Schriftsteller las und die falschen Musiksender im Radio hörte.

      Er geht hinaus auf den Hof. Noch ist es dunkel, nur ein fahler Streifen am östlichen Horizont lässt den neuen Tag erahnen. Es ist der Tag Null, der Tag, an dem er in die andere Welt fährt. Es nieselt leicht und am bewölkten Himmel zeigt sich kein einziger Stern. Gerhard schaut auf das Botschaftsgebäude, in der ersten Etage sieht er Licht hinter einem Fenster, das einzige Licht an diesem frühen Morgen.

      Ein Mann kommt heraus und geht direkt auf ihn zu.

      „Sie können wohl auch nicht schlafen.“

      „Ich bin etwas aufgeregt, weil ich heute hier rauskomme. So ein bisschen neben der Spur, wissen Sie. Ich weiß nicht so recht, was da drüben auf mich zukommt.“

      „Das kann ich gut verstehen.“

      Sicher ist er ein Botschaftsmitarbeiter, denkt Gerhard. Er sieht so ordentlich aus. Der frisch rasierte Mann trägt einen gepflegten Anzug und ein hellblaues Oberhemd mit passender, dunkelblauer Krawatte.

      „Meine Verlobte ist schon drüben“, sagt er leise.

      Nun verspürt er den heftigen Drang, zu reden. So viele Gedanken und Gefühle bewegen ihn an diesem Morgen. Alles staute sich auf in den letzten Tagen. Es waren schweigsame Tage, er ging den Leuten aus dem Weg. Dieses Schweigen hatte er sich selbst auferlegt, um bloß nichts falsch zu machen.

      „Was wissen Sie über die BRD?“

      Der Mann schaut ihn an, sein Blick ist freundlich. Dennoch erscheint es ihm so, als würde von seiner Antwort


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