Der Jungbrunnen-Effekt. Margit Fensl
Stoffwechselvorgängen in lebenden Organismen. René Descartes (1595–1650), einer der verdienstvollen Väter der Aufklärung, sah Lebewesen, ganz im Sinne des damals aufkommenden mechanistischen Weltbildes, als reduktive Automaten, die ganz ähnlich erklärbar seien wie Maschinen.
,Die Konstruktion der berühmten „mechanischen Ente“ durch Jacques de Vaucanson (1738), die vermeintlich Körner verdauen und in Kot verwandeln konnte, ist ein Bild jenes Verständnisses von Lebewesen, welches das Zeitalter der Aufklärung geprägt hat. Die Ente hat natürlich nie wirklich funktioniert.
Die mechanische Ente (1738)
Antoine Lavoisier (1743–1794), einer der Pioniere der modernen Chemie, glaubte Ende des 18. Jahrhunderts, die Antwort auf die Fragen der Lebensenergie und der menschlichen Energiebilanz gefunden zu haben. Er entdeckte die entscheidende Rolle des Sauerstoffs in Verbrennungsvorgängen und veröffentliche 1777 seine Kalorientheorie. Lavoisier war der Ansicht, dass die Stoffwechselvorgänge in Lebewesen im Prinzip gleich funktionieren würden wie die Verbrennungsvorgänge in Maschinen – beide benötigen Treibstoff und Sauerstoff, erzeugen Wärme und Abfallstoffe. Und er war der Ansicht, dass die Natur dieser kalorischen Prozesse in lebendiger und toter Materie gleich wäre und man sie deshalb in Maschinen wie in Lebewesen gleich messen und quantifizieren könne.
Etwas mehr als hundert Jahre später folgte der vermeintliche Beweis für diese Theorie: Die thermodynamischen Gesetze wurden erforscht und Francis Benedict (1870–1957) und Wilbur Atwater (1844–1907) machten sich daran, den menschlichen Energiekreislauf mit den ersten Respirationskalorimetern zu vermessen. Sie konnten damit den aufgenommenen Sauerstoff und das abgegebene Kohlendioxid messen (die Ergebnisse sollten allerdings nur bis zum Aufkommen genauerer Messmethoden in den 1970-Jahren gelten) – und errechneten daraus eine theoretische Energiemenge. Das Ergebnis verglichen sie mit der tatsächlich produzierten Energiemenge ihrer Versuchspersonen. Sie berechneten die Durchschnittswerte ihrer Ergebnisse und sahen, dass sich direkte Kalorimetrie (Messung der Wärmeentwicklung) und indirekte Kalorimetrie (Messung der Atemluft) innerhalb einer gewissen Messtoleranz deckten. Das war es, was die Vertreter des mechanistisch-materialistischen Weltbildes hören wollten: Der Mensch ist eine, wenn auch komplexe, Verbrennungsmaschine.
Basierend auf diesen Erkenntnissen entwickelten Francis Benedict und James Arthur Harris (1880–1930) die bis heute gültige Harris-Benedict-Formel zur Errechnung des sogenannten Grundumsatzes, also der Menge an Kalorien bzw. Joule, die der Mensch im Ruhezustand bei 28 Grad Celsius pro Tag benötigt. Diese Formel beruht allerdings nur auf statistischen Mittelwerten und dementsprechend handelt es sich nicht um exakte Wissenschaft, sondern um reine Vorhersagen, wie bei der eingangs erwähnten Waage, die nicht exakt misst, sondern sagt, was „man“ im gleichen Alter und bei gleicher Größe durchschnittlich wiegt. Das tatsächliche Gewicht kann mehr oder weniger deutlich davon abweichen.
Der Kalorienverbrauch im menschlichen Körper ist tatsächlich sehr variabel. Dass die nach der Harris-Benedict-Formel errechneten Voraussagen zum Grundumsatz richtig sind, unterliegt wahrscheinlich einer Verteilung nach der Gauß’schen Glockenkurve. Das bedeutet, dass der errechnete Kalorienverbrauch für viele Menschen in etwa stimmt und je weiter wir auf der Kurve nach außen gehen, desto weiter weicht der tatsächliche Kalorienverbrauch ab (was dann auch weniger Menschen betrifft). Bis zu welchem Extrem diese Abweichungen reichen, lässt sich nicht sagen. Die Dokumentation „Am Anfang war das Licht“ zeigt einige Individuen, die offensichtlich mit extrem geringer Kalorienzufuhr über sehr lange Zeit bei bester Gesundheit leben können (siehe „Lichtnahrung“, Seite 22). Am anderen Ende der Skala finden wir Menschen, die trotz enormer Kalorienmengen kaum oder gar nicht zunehmen.
Wie viel Nahrung braucht der Mensch? – Das Diät-Drama
Die reduktive, mechanistische Sichtweise der Natur ermöglichte den Siegeszug der Naturwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Wir verdanken ihr die Segnungen der modernen Technik und Medizin, aber auch eine gewisse Geringschätzung gegenüber dem Mysterium des Lebens, das bis heute nicht im Entferntesten enträtselt ist. Spätestens seit der Einführung der Quantenphysik ist dieses Weltbild auf dem Müllplatz der Wissenschaftsgeschichte gelandet – weil es aber das Leben verständlich macht, ist es nach wie vor sehr „erfolgreich“ und treibt in unseren Köpfen weiterhin seine Blüten!
Trotz der kaum zu übersehenden Mängel im klassischen Konzept des menschlichen Energiesystems als Verbrennungssystem wurde die Idee lange nicht hinterfragt. Es dauerte rund zweihundert Jahre, bis vier wissenschaftliche Institute gemeinsam wagten, die ketzerische Frage zu stellen, wie viel „Treibstoff“ der Mensch denn nun wirklich brauche. 1973 veröffentlichten das Physiologische Institut der Universität Glasgow, das National Institute for Medical Research in London, die Abteilung für menschliche Ernährung der London School of Hygiene and Tropical Medicine und das Institut für Ernährung am Queen Elizabeth College in „Nature“, dem angesehensten wissenschaftlichen Journal der Welt, den Artikel „How Much Food Does Man Require?“ – „Wie viel Essen braucht der Mensch?“ Kurz gefasst hieß die Antwort der Autoren: Wir wissen es nicht, weil es von Mensch zu Mensch und von Situation zu Situation so unterschiedlich ist. Genauer schreiben sie: „Wir glauben, dass die Energiebedürfnisse des Menschen und das Gleichgewicht zwischen Aufnahme und Verbrauch unbekannt sind … Die Ergebnisse von genauen Studien in einer Reihe von Ländern legen nahe, dass manche Menschen gesund und aktiv mit einer Energiezufuhr leben, die man nach derzeit gültigen Standards als ungenügend betrachten würde … Diese Studien unterstreichen das Ausmaß unserer Unwissenheit über die Mechanismen, mit denen unser Energiehaushalt aufrechterhalten wird.“
Auch wenn in der Öffentlichkeit oft ein anderer Eindruck vermittelt wird – die menschliche Energiebilanz ist für die Wissenschaft ein Buch mit sieben Siegeln. Die einfache Formel „Kalorienbedarf minus Kalorienzufuhr ist gleich Änderung des Körpergewichts“, funktioniert in der Praxis in den wenigsten Fällen. Wer 3.000 Kilokalorien verbraucht, aber nur 2.500 Kilokalorien zuführt, sollte in der Theorie das Defizit von 500 Kilokalorien in Form von rund 55 Gramm Fett verlieren. Fast jeder, der einmal versucht hat, mit dieser Art Diät dauerhaft Gewicht zu reduzieren, weiß, dass sie zum Scheitern verurteilt ist. Die Theorie klingt zwar plausibel, weil wir uns den Menschen als „Heizkessel“ vorstellen, aber der Mensch ist eben keine Maschine. Er steckt voller mysteriöser unerforschter Variablen, die vom Individuum und der Lebensweise abhängig sind.
Die erste Unbekannte in der Formel ist schon die Energiezufuhr, also die Kalorien selbst. Kalorie ist nicht gleich Kalorie: Ein Glas Cola mag vielleicht die gleiche Kalorienanzahl wie ein Stück Obst aufweisen, ihre Wirkung im Körper ist aber vollkommen unterschiedlich. Der Energieverbrauch ist bestenfalls als statistischer Mittelwert fassbar und schon der Grundumsatz, also der Kalorienbedarf eines Menschen im Ruhezustand, ist individuell so verschieden wie die Energiespeicherung.
„Je genauer wir messen, desto größer sind die Energiemengen, die wir nicht erklären können“, beschreibt der Stoffwechselforscher Paul Webb das Dilemma der Wissenschaftler, wenn es um den menschlichen Metabolismus geht. Webb entwickelte in den 1950er- und 60er-Jahren für die NASA hochsensible Kalorimeter, mit denen es ihm im Laufe der Jahrzehnte gelang, den Stoffwechsel immer genauer zu vermessen. Er entdeckte gewaltige Fehlbeträge in der menschlichen Energiebilanz. Wie schon Atwater und Benedict verglich auch Webb direkte und indirekte Kalorimetrie. Aus dem Sauerstoffverbrauch und der Kohlendioxidabgabe seiner Versuchspersonen errechnete er die theoretische Energiemenge, die durch die „Verbrennung der Kalorien“ entstehen müsste – und verglich sie dann mit der tatsächlich produzierten Energiemenge der jeweiligen Versuchsperson. Mit seinen modernen und genauen Messmethoden machte er eine verblüffende Entdeckung: Beim Vergleich von direkter und indirekter Kalorimetrie kam es erstens zu großen individuellen Unterschieden und zweitens zu Unterschieden, die nicht mehr als Messtoleranzen erklärt werden konnten. Während bei manchen Personen direkte und indirekte Kalorimetrie mehr oder weniger übereinstimmten, betrug die Differenz bei anderen bis zu 23 Prozent. Rund ein Viertel der Energie dieser Personen war also kalorisch nicht erklärbar