Geschwisterliebe. Stephan Hähnel
sich, den Gedanken an den Sohn zu verscheuchen, und las verärgert den Aufruf dieser Fanatiker. Die Zeitschrift war keine zwei Wochen alt. Verständnislos überflog Kappe den Artikel und verharrte beim letzten Satz: Mit dem bewaffneten Widerstand beginnen!
Keunitz, der seinem Blick folgte, sagte, noch immer aufgebracht: «Aber deswegen habe ich Sie nicht hergebeten.» Er nahm das Machwerk mit spitzen Fingern und ließ es in einem Schubfach verschwinden. «Der Grund, warum ich mit Ihnen reden möchte, hat mit dem leidigen Thema Fluchthilfe zu tun. Willy Brandt und Walter Scheel sind intensiv mit Moskau im Gespräch, um den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und den sogenannten Entspannungsprozess zu fördern. Außerdem munkelt man, dass unser Kanzler in Erfurt mit dem Ministerpräsidenten der DDR, Willi Stoph, über künftige Besuchserleichterungen gesprochen hat. Sieht so aus, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch. Da geht es um viel mehr als nur um ein befristetes Passierscheinabkommen für uns West-Berliner.»
Erstaunt schauten sich Kappe und Galgenberg an. Fluchthilfe war für die meisten West-Berliner immer noch eine ehrenwerte Handlung. Zwar drehte sich langsam der Wind. Dennoch, niemand in der eingemauerten Stadt empfand es als Verbrechen, jemandem in die Freiheit zu verhelfen. Außerdem war es ein offenes Geheimnis, dass die Bundesregierung die Fluchthilfe bisher, wenn auch verdeckt, unterstützt hatte. Selbst der Verfassungsschutz hatte seine Finger im Spiel und warnte Fluchthelfer, wenn ihm bekannt wurde, dass die Staatssicherheit der DDR ihnen auf die Spur gekommen war. Es fiel nicht in den Aufgabenbereich der Mordkommission, sich um derartige Angelegenheiten zu kümmern.
Als könnte Keunitz Kappes Gedanken lesen, hob er beschwichtigend die Hand. «Sie bearbeiten doch beide den Fall der unbekannten Toten von Nikolskoe?»
Kappe, der immer hellhörig wurde, wenn es um neue Details für nasse Fische ging, wie ungeklärte Fälle intern genannt wurden, schaute erst den Chef aller Mordkommissionen und dann Galgenberg an. «Mein letzter Stand ist, dass wir alle diesbezüglichen Ermittlungen einstellen sollten. Das war Ihre Anweisung! Wenn ich mich nicht täusche, ist das nicht einmal ein halbes Jahr her», bemerkte er gereizt. Nur mit Grausen erinnerte er sich an den ungelösten Mordfall. Sie hatten weder die Identität der Leiche klären noch den Mörder überführen, geschweige denn auch nur ansatzweise ein Mordmotiv ermitteln können. Stattdessen hatte seine intensive Beschäftigung mit dem Fall zu einer bedrohlichen Ehekrise geführt.
«Bis auf Weiteres – das waren meine Worte gewesen. Das gilt immer für derartige Verbrechen. Außerdem, was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?», zitierte Keunitz Konrad Adenauer gereizt und ergänzte: «Die Herren vom Verfassungsschutz haben uns freundlicherweise einen Hinweis zukommen lassen. Wir sollen doch mal einem Herrn Wilfried von Thalmann genauer auf die Finger schauen. Fluchthelfer und Lebemann. Dürfte Ihnen kein Unbekannter sein. Eine nicht näher benannte Quelle habe den Hinweis gegeben, dass zwischen der Toten von Nikolskoe und diesem Herrn eine Verbindung bestehen könnte.»
«Der schöne Willi?», fragte Galgenberg verwundert. «Finger dreckig machen ist eigentlich keine Stärke dieses Herrn.»
Kappe, dem die Wut das Gesicht rot färbte, konnte sich nur mit Mühe beherrschen. «Sehe ich das richtig, wir sollen möglichst viel Dreck aufwühlen, damit die Herren Politiker ungestört mit den Kommunisten verhandeln können?»
Keunitz lehnte sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. «Ich würde das nicht so formulieren und öffentlich auch niemals zugeben, aber ja, es trifft wohl den Kern der Sache. Mir ist allerdings mehr daran gelegen, dass das Verbrechen in Nikolskoe aufgeklärt wird. Das ist unsere Aufgabe oder, besser gesagt, Ihre. Also, noch mal das ganze Programm!»
«Ick gloob, mein Schwein pfeift! Sind wa von de Mordkommission jetzt der Stadtreinigung zujeordnet?», empörte sich Galgenberg, der offensichtlich vergessen hatte, dass er vor seinem Chef stand, und seine Bemerkung sofort bereute.
«Kollege Galgenberg, ein bisschen mehr Gelassenheit, wenn ich bitten darf! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der Mörder der Toten von Nikolskoe überführt worden ist, ja dass überhaupt irgendeine Erkenntnis in diesem Fall vorliegt. Also reißen Sie sich bitte zusammen! Und kommen Sie mir nicht mit irgendwelchem Stammtischgezeter. Sie sind Polizist, vergessen Sie das nicht!»
Galgenberg hob entschuldigend beide Hände. Kappe stand wie versteinert vor dem Schreibtisch. Dass man sie beauftragte, einen Fall neu aufzurollen, der noch vor Kurzem als hoffnungslos eingestuft worden war, empfand auch er als Kritik an ihrer Arbeit.
Keunitz ahnte offenbar, dass es tief im Innern des Kriminaloberkommissars Kappe rumorte. «Anfang September muss ich turnusmäßig eine Leistungsbeurteilung abgeben, die darüber entscheidet, ob Sie und Ihr Kollege Galgenberg höhergestuft werden. Die Zeiten, in denen nach Alter und Gewicht befördert wurde, gehören glücklicherweise längst der Vergangenheit an. Es gilt das Leistungsprinzip – für alle Mitarbeiter der Mordkommissionen.» Freundlich, wenn auch wenig überzeugend fügte er hinzu: «Politik ist nicht meine Besoldungsstufe und, da stimmen Sie mir sicherlich zu, Ihre erst recht nicht. Außerdem bin ich zu alt für derartige Spiele! Also tun Sie mir den Gefallen, und gehen Sie dem Hinweis unserer Staatsschützer nach. Möglicherweise bringt das was. Ach ja, und reden Sie zuerst mit der Gerichtsmedizin. Es gibt interessante neue Informationen. Im Gerichtsmedizinischen Institut hat es übrigens eine Personalaufstockung gegeben. Ich bin überzeugt, Sie werden begeistert sein.»
Das Telefon klingelte. Keunitz deutete mit einem Nicken an, dass die Unterredung beendet war. Er legte die Hand auf den Hörer, nahm ihn aber noch nicht ab. «Und, Herr Kappe – wie sagten Sie so treffend? –, wühlen Sie möglichst viel Dreck auf!»
Kaum hatten Otto Kappe und Hans-Gert Galgenberg das Büro ihres Chefs verlassen, verkündete Galgenberg mit empörter Stimme: «Otto, ick gloob dit nich! Bei dem müssen ja die Nerven blank liegen. Kann mich nich erinnern, dit der mir mal so anjefaucht hat.»
Kappe entfuhr nur ein zischender Laut. Wieder auf jenen Fall angesetzt zu werden, der ihn monatelang erfolglos beschäftigt hatte, löste in ihm Wut und Verzweiflung aus. Gertruds Beschwerden über die vielen Überstunden und darüber, dass er sogar Arbeit mit nach Hause genommen hatte, klangen ihm noch immer in den Ohren. Einmal hatte sie wütend erklärt, dass sie nicht mehr gewillt sei, sich hinter einer Leiche anzustellen, bis der geliebte Göttergatte bereit war, mit ihr über die täglichen Probleme ihres gemeinsamen Lebens zu reden.
Tatsächlich hatte sich Kappe derart in den Fall der Toten von Nikolskoe verbissen gehabt, dass er auf jede Störung aggressiv reagiert hatte. Selbst das Faustballtrainig hatte er monatelang ausfallen lassen, und auch die Kegelabende bei den Rattenkönigen Charlottenburg in jener Zeit konnte er an fünf Fingern abzählen. Zwischen Otto und Gertrud kriselte es seitdem bedenklich. Noch dazu hatte sein Sohn im Spätsommer des letzten Jahres völlig unerwartet Berlin den Rücken gekehrt. Ausgerechnet Hermann Kappe, der Großonkel und Oberkriminaler der Familie, der seinen Lebensabend am Gümser See im Wendland verbringen wollte, schien Peter sozusagen abgeworben zu haben. Alle in der Familie hatten von der Entscheidung seines Sohnes, Berlin zu verlassen, gewusst, nur Otto nicht. Als Peter schließlich doch mit ihm hatte reden wollen, hatte er nur kurz von seinen Unterlagen aufgeschaut und lapidar bemerkt: «Reisende soll man nicht aufhalten.»
Seitdem arbeitete Peter in der Wendland-Klinik, in einer eher übersichtlichen Abteilung, die psychisch Erkrankte behandelte. Die Familie drohte auseinanderzubrechen, und Otto war daran nicht unschuldig. Erst nachdem er die Akte Nikolskoe auf Keunitz’ Anweisung im Schubfach hatte verschwinden lassen, hatte sich die Situation mit Gertrud wieder zum Besseren gewendet. Das war nun kaum ein Vierteljahr her.
«Wir können unmöglich einfach beim schönen Willi klingeln und behaupten, es gebe da so einen Hinweis von jemandem, der obergeheim ist, quasi de facto nicht existiert. Demnach solle er etwas mit einer Leiche zu tun haben, zu der wir aber leider überhaupt nichts sagen können», unterbrach Galgenberg Kappes Gedankengang.
Wieder einmal stellte Kappe fest, dass der ehrenwerte Kollege immer dann zu berlinern aufhörte, wenn die Situation ernst wurde.
Um die Absurdität ihrer Aufgabe zu verdeutlichen, schlug sich Galgenberg mehrfach kräftig mit der flachen Hand gegen die Stirn. «Wat solln der schöne Willi darauf antworten? Der lacht sich