Geschwisterliebe. Stephan Hähnel

Geschwisterliebe - Stephan Hähnel


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an der Grenze wissen Bescheid. Wir ziehen den Kerl aus dem Verkehr. Und Gensfleisch, die West-Berliner Kontaktnummer rufen Sie nur an, wenn ein Notfall vorliegt!»

      Gensfleisch schien erleichtert zu sein.

      «Viel Spaß im Hotel Unter den Linden. Sie nächtigen doch an der Friedrichstraße, oder? Ach, übrigens, die meisten jungen Damen, denen sie da begegnen, spreizen – wie formulierten Sie so treffend? – auch die Beine für den Sieg der Weltrevolution. Also Finger weg! Ihre Aufgabe ist die Schaffung operativer Voraussetzungen zur Kompromittierung der Führungskader der Feindorganisationen. Mit anderen Worten, die Damen akquirieren neues Personal.»

      Gertrud Kappe nannte ihren Mann gern einen Süßschnabel, obwohl Otto Kappe selbst keineswegs der Meinung war, dass diese Bezeichnung auf ihn zutraf. Tatsächlich aber konnte er zu Kuchen schlecht Nein sagen. Erst recht nicht zu Schwarzwälder Kirschtorte.

      Das Café Kranzler war gut besucht, und nur mit etwas Glück gelang es Otto Kappe, einen Tisch zu ergattern. Das Pärchen in dem bayerischen Trachtenverschnitt schaute pikiert auf den Berliner, der unerwartet flink das Geschirr der Vorgänger zusammenschob. Die bereits länger wartenden Touristen ignorierend, setzte sich Otto an den freien Tisch, stellte die Teller und Tassen gekonnt aufeinander, reichte sie dem Kellner und grinste frech über das ganze Gesicht. «Dit jeht hier nach de Müllermethode: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.»

      «Saupreuß!», war der kurze und abfällige Kommentar des verärgerten Schluchtenjodlers – so, erinnerte sich Kappe, pflegte Galgenberg gern die Bayern zu bezeichnen. Otto ignorierte die Bemerkung wie auch Gertruds Kopfschütteln. Seine Frau schien zwar für den Tisch dankbar, schämte sich aber offenbar ein wenig für ihren Mann. Verärgert verließ das Trachtenpärchen die Terrasse, und Otto war sich sicher, dass die beiden an den Berlinern im Allgemeinen wie an ihm im Besonderen kein gutes Haar lassen würden. «Und grüß Jott, wennan seht!», murmelte Otto der Vollständigkeit halber.

      «Du berlinerst doch sonst nicht so», stellte Gertrud erstaunt fest und deutete bittend auf die Speisekarte. «Seitdem Galgenberg sich verstärkt um die Bewahrung des Berlinerischen verdient macht, färbt das wohl auch auf dich ab.»

      Otto zuckte mit den Schultern, reichte seiner Frau die Karte und überlegte, ob er zur Schwarzwälder Kirschtorte eine Extraportion Schlagsahne nehmen oder doch lieber auf die Vernunft hören sollte. Der Griff an den Bauch ließ die innere Waage zugunsten der Warnung ausschlagen, der Blick zum Nachbartisch die Bedenken ob der kalorienreichen Verführung indes als überzogen abtun.

      Von der Terrasse aus konnten sie genüsslich die vorbeischlendernden Passanten beobachten. Herausgeputzte Damen. Keck, nach Art der Hippie-Mode gekleidete junge Mädchen, bauchfrei und mit Sandaletten, die nur aus Lederschnüren zu bestehen schienen. Halbstarke mit hochtoupierten Haaren und bunten Hemden, die den Mädchen hinterherschauten. Touristen aus fernen Ländern. Und Geschäftsleute, denen nicht aufzufallen schien, dass Wochenende war. Auf dem Kudamm feierte West-Berlin seine Unbekümmertheit. Nichtstun, Kaffeetrinken, Kuchenessen und zwischen Bewundern und Wundern hin- und herschwanken. So sah nach Gertruds Meinung ein perfekter Sonnabendnachmittag aus.

      «Gibt es etwas Neues im Fall der Toten von Nikolskoe?», erkundigte sie sich.

      Otto, der mit seiner Kuchengabel die Reste der Schlagsahne zusammenkratzte, wusste sofort, dass Gertrud mit ihrer Frage soeben den schönen Nachmittag verdorben hatte. Augenblicklich waren wieder all die Probleme und Ungereimtheiten präsent, wegen denen er sich den Kopf zermarterte. Schlimmer noch, Gertrud durchschaute ihn. Als wäre ihm schlagartig der Appetit vergangen, schob er den Teller zur Seite, wischte sich mit der Serviette den Mund ab, legte sie auf den Teller und beschwerte sie anschließend mit der Gabel, damit der Wind sie nicht wegwehte. Wie ein Schüler, der beim Abschreiben erwischt worden war, schaute er über den Tisch. Woher wusste Gertrud, dass er erneut diesem Fall nachging?

      Sie schien seine Gedanken lesen zu können. «Unser Sohn Peter hat Hans-Gert gestern vor der Stadtbibliothek getroffen. Dein Kollege wollte dort in alten Zeitungen stöbern. Es gebe neue Entwicklungen im Fall Nikolskoe. Offensichtlich ein Auftrag von dir. Erst habe ich geglaubt, Peterchen hat sich verhört. Ich habe das für ein Missverständnis gehalten. Aber nachdem du heute freiwillig vorgeschlagen hast, mit mir zum Schaufensterbummel auf dem Kudamm zu flanieren, und sogar bereit warst, im Kranzler einzukehren, weiß ich, er hat sich nicht verhört.»

      «Peter ist in Berlin?», fragte Otto erstaunt.

      «Ja, er hat ein paar Tage frei und erkundigt sich nach Möglichkeiten sich weiterzuqualifizieren.»

      «Er will noch mal studieren? Wieder an der FU?»

      Gertrud zögerte einen Moment, bevor sie antwortete: «Nein, nicht, was du denkst. Er will sich beruflich weiterentwickeln. Genaues weiß ich auch nicht. Aber du versuchst nur abzulenken. Wir sprachen über den Fall Nikolskoe. Wann gedachtest du denn, mir die Neuigkeit mitzuteilen?» Sie betrachtete kurz sein kummervolles Gesicht und starrte dann in die Ferne. «Otto, erspare mir diesen Dackelblick!»

      Sie war ernsthaft verärgert. Zu Recht, wie Otto sich eingestand. Natürlich hätte er sie darüber informiert, dass er wieder an dem Fall Nikolskoe arbeitete, aber erst in der kommenden Woche. Möglicherweise wären die neuen Ermittlungen schon in ein paar Tagen abgeschlossen.

      Der Mordfall Nikolskoe hatte ihre Beziehung erschüttert. Während dieser Zeit war er sehr dünnhäutig gewesen, schnell gereizt und genervt von den Anforderungen des Alltags sowie den Erwartungen seiner Frau. Er hatte es sie nicht nur spüren lassen, sondern es ihr auch in einem Augenblick der Wut gesagt.

      Sie hatte ihn damals zum Mittagessen gerufen, und nachdem er bei der dritten Aufforderung immer noch nicht reagieren wollte, hatte sie erbost gefragt: «Übertreibst du nicht ein bisschen? Ich nehme meine Arbeit ja auch nicht mit nach Hause.»

      Ohne zu überlegen, hatte er ungehalten reagiert. «Du mit deinen kleinen Buchhalterproblemen und Bürobefindlichkeiten hast doch von dem, was ich tue, keine Ahnung! Das Schlimmste, was dir als Prokuristin passieren kann, ist, dass eine Sarotti-Rechnung nicht stimmt. Das lässt sich aber korrigieren, das bringt niemanden um.»

      Gertrud hatte nichts erwidert und ihn nur wie einen Fremden angestarrt. Schweigend hatten sie gegessen, schweigend den Rest des Tages verbracht.

      Am nächsten Morgen war Gertrud zu einer Freundin gezogen. Abstand war die einzige Nähe, die sie zusammenhielt. Es dauerte eine Woche, bis Gertrud zurückkehrte. Otto hatte sie angefleht zurückzukommen, ihr versprochen sich zu ändern und sich als verbohrt, ungerecht und egoistisch bezeichnet. Sie hatte ihn angeschaut und still und vorsichtig erwidert: «Versuchen wir es.»

      Inzwischen waren die Wunden vernarbt. Er bemühte sich. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die er ihr seitdem entgegenbrachte.

      Verlegen räusperte Otto sich. «Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen. Keunitz selbst hat angeordnet, den Fall wieder aufzurollen. Wir haben neue Informationen erhalten. Wir müssen dem nachgehen. Glaub mir, ich habe mich nicht darum gerissen.» Er legte seine Hand auf ihren Arm.

      Sie zog den Arm nicht weg, schaute ihren Mann aber auch nicht an. «Otto, ich respektiere deine Arbeit. Das habe ich immer getan. Ich kann einschätzen, was sie dir bedeutet. Aber niemand weiß besser als ich, was sie mit dir macht. Ich bin diejenige, die dich nachts festhält, wenn Albträume dich plagen. Immer habe ich dir den Rücken freigehalten. Ich liebe dich, weil du bist, wie du bist. Es gibt aber noch ein Leben neben deiner Arbeit. Vergiss das nicht wieder. Ein zweites Mal kehre ich nicht zurück.»

      Beide schwiegen. Mehr gab es nicht zu sagen. Eine weitere Entschuldigung wäre unglaubhaft gewesen, und deutlicher hätte sie ihre Warnung nicht formulieren können.

      «Wird Peter bei uns übernachten?», fragte Otto und hoffte, gemeinsam mit seinem Sohn das WM-Spiel Deutschland gegen Uruguay um Platz drei sehen zu können.

      Gertrud schüttelte bedauernd den Kopf. «Er ist nur kurz in Berlin und schläft bei Freunden.»

      Die Bar im Hotel Unter den Linden in Ost-Berlin war so früh am Abend noch nicht gut besucht. Gensfleisch saß auf einem der Hocker und quälte sich mit einem Whisky Made in GDR. Normalerweise


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