Geschwisterliebe. Stephan Hähnel
Dame, die zur Beerdigung ihrer Schwester eingereist war, hatte bei ihrem Bruder übernachtet. Offensichtlich war es der Steglitzerin gelungen, eine der seltenen Ausnahmegenehmigungen zu erhalten, die man in solchen Fällen erteilte. Passierscheine für den Besuch von Familienmitgliedern gab es schon seit 1966 nicht mehr. Wenn es nach Schwarz ging, konnte das so bleiben. Großzügigkeit führte nur dazu, dass wieder ein paar Unbelehrbare illegal die DDR verließen. Er notierte sich den Namen der Frau und das Datum des Grenzübertritts. Die Meldung von Nicht-DDR-Bürgern bei der Volkspolizei musste innerhalb von 24 Stunden erfolgen. Er würde das prüfen lassen.
Als Sonderbeauftragter einer Gruppe ausgesuchter Mitarbeiter war Major Schwarz der Abteilung Infiltration des Ministeriums für Staatssicherheit zugeordnet worden und koordinierte geheime Maßnahmen, die die Aktivitäten der Fluchthelferszene unterminierten. Offiziell existierte die Gruppe nicht. Regeln gab es auch keine. Die einzige Vorgabe, die er zu erfüllen hatte, war, Erfolg zu haben. Selbst innerhalb des MfS wusste kaum jemand von dieser Abteilung. Schwarz war allein dem Chef der Staatssicherheit Erich Mielke Rechenschaft schuldig.
Die Arbeit seiner kleinen Gruppe war überaus erfolgreich. Erst im März hatte ihn ein Kontaktmann aus Westdeutschland über die Fluchtabsicht eines renommierten Physikers informiert. Geplant gewesen war, dass der Mann am letzten Tag der Leipziger Messe im Gehäuse einer Werkzeugmaschine außer Landes gebracht werden sollte. Eine herausragende Kapazität, auf die der sozialistische Staat nicht verzichten konnte. Bei der Kontrolle des Lastzugs am Grenzübergang Wartha hatten Grenzschützer den Republikflüchtling scheinbar zufällig entdeckt. Tatsächlich war Major Schwarz bis ins kleinste Detail über den illegalen Grenzübertritt informiert gewesen. Datum, Uhrzeit, Wagentyp, Nummernschild und selbst der Führer des Lastzugs waren bekannt. Ein Wachhund hatte beim Vorbeigehen angeschlagen. Dass der trainierte Hund das immer tat, wenn er einen bekannten Summton hörte, der per Knopfdruck ausgelöst wurde, war eines der strenggehüteten Geheimnisse der Abteilung Infiltration. Bei der anschließenden Kontrolle hatten die Grenzschützer den Physiker aufgespürt. Er war mit erhobenen Händen abgeführt worden. Der Fahrer ebenfalls. Für den jungen Schwaben war es sein erster Auftrag gewesen. Der kaum Dreißigjährige wurde vor Gericht gestellt und bekam wegen verbrecherischen Menschenhandels zwölf Jahre aufgebrummt.
Als die Klingel kurz und energisch meldete, dass sein Gast vor der Tür stand, schlug Major Schwarz das Hausbuch zu, legte es auf die Anrichte und öffnete die Haustür. Sobald er den Besucher erkannte, blickte er unzufrieden auf die Uhr. «IM Gensfleisch, Sie sind spät dran! Gab es Probleme?»
«Den IM können Sie sich sparen!» Der Angesprochene holte tief Luft. «Lief alles wie abgesprochen. Fast.»
Schwarz wusste, dass sich sein Gast über die Begrüßung ärgerte. Zwar hatte dieser ihn mehrmals darum gebeten, niemals mit seinem echten Namen angesprochen zu werden, was der Major durchaus respektierte, aber ab und an erschien es Schwarz sinnvoll, den Spitzel an seine Abhängigkeit zu erinnern. Mit müder Geste bat er ihn herein. «Was meinen Sie mit fast?»
«Es gab eine kleine Schrecksekunde, weil der Grenzer meine Aktentasche durchsuchen wollte. Glücklicherweise hat sein Vorgesetzter mich durchgewunken.»
«Na, dann ist doch alles perfekt. Haben Sie die Ausweise dabei?»
«Warum sollte ich denn sonst hierhergekommen sein? So viel Grau – da bekommt man Depressionen. Und dieses Loch hier ist ja wohl das Letzte!» Angewidert schaute sich Gensfleisch um und schüttelte den Kopf. «Wenn ich auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs leben müsste, würde ich auch abhauen.» Dann legte er fünf Personalausweise auf den Tisch. Vier waren ausgestellt auf männliche Personen mittleren Alters, einer war für eine Frau, die im vergangenen Monat ihren 22. Geburtstag gefeiert hatte.
Langsam und gewissenhaft blätterte der Stasi-Offizier jeden einzelnen Pass durch. «Den hier behalte ich ein», entschied Major Schwarz in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. «Die der Männer können Sie verwenden.»
«Dachte ich mir», erwiderte Gensfleisch. «Manchmal glaube ich, in den einschlägigen Etablissements rund um den Kurfürstendamm arbeiten nur noch Kommunistinnen. Beine spreizen für den Sieg der Weltrevolution. Ich habe schon ernsthaft daran gedacht, ob ich einen freundlichen Gruß von Ihnen ausrichte und um Rabatt bitte», sagte er albern. Sein Lachen erstarb aber sofort wieder.
Der Stasi-Offizier wippte ein wenig auf den Zehenspitzen und schaute sein Gegenüber abfällig an. «Lieber Freund, unterlassen Sie diese dummen Bemerkungen! Für wen sind die Pässe gedacht?», erkundigte er sich und wies auf die verbliebenen vier Ausweise. Aus seinem Aktenkoffer nahm er einen kleinen Fotoapparat und begann, jeden einzelnen Pass abzulichten. Den Zettel mit den Namen beachtete er vorerst nicht. «Gensfleisch, ich frage mich, was Sie mit den Ausweisen anfangen wollen. Die Grenze ist dicht. West-Berliner können schon seit Jahren nicht in die Hauptstadt der DDR. Einem Bürger der DDR den Ausweis eines West-Berliners zu geben, der ihm ähnlich sieht, damit er widerrechtlich die Grenze passieren kann, ist schon lange nicht mehr möglich. Private Besuche haben wir aus gutem Grund unterbunden. Abgesehen davon, heute verwenden wir Visa.»
Gensfleisch schien die Bemerkung zu amüsieren. «Wer redet denn vom kleinen Grenzverkehr? Ein bisschen mehr Fantasie, Genosse Major! Die Welt ist groß. Kein West-Berliner verbringt seinen Urlaub freiwillig in Ost-Berlin oder gar in Ihrer geliebten DDR. Glücklicherweise gibt es eine Menge Ostblockstaaten, die sich über devisenstarke Urlauber freuen. Zollbeamte lernen dazu, Fluchthelfer aber auch. Visastempel nachzumachen ist nun wirklich kein Problem. Über den Versuch Ihrer Behörde, das Fälschen von Pässen durch den Wechsel der Stempelfarbe zu erschweren, können Fluchthelfer nur lachen. Es gibt keine Farbe, die nicht gefälscht werden kann. Das Informationssystem ist perfekt. Welche Farbvariante ungarische, bulgarische oder jugoslawische Beamte morgens auch immer festlegen, sie ist spätestens eine Stunde später bekannt.»
Einen Augenblick lang hörte Major Schwarz auf zu fotografieren. Er ließ sich die Informationen durch den Kopf gehen. Dass die Stempel erst kurz vor der Ausreise gefälscht wurden, war ihm neu. «Interessant, Ihnen zuzuhören!», bemerkte er erfreut und lichtete den nächsten Ausweis ab. Als er fertig war, gab er Gensfleisch die Pässe zurück und hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen.
«Hat nicht euer Marx auch von Angebot und Nachfrage gefaselt? Ausweispapiere bringen auf dem Schwarzmarkt inzwischen gut und gern eine vierstellige Summe. Ein Pass weniger schmälert meinen Gewinn erheblich. Ein kleiner Abschlag wäre angemessen, oder?», bemerkte Gensfleisch. Offensichtlich wollte er die gute Laune seines Führungsoffiziers ausnutzen. «Einen Ausweis einzubehalten und trotzdem die gesamte Prämie zu verlangen empfinde ich nicht gerade als fairen Handel.»
«Seien Sie nicht so kleinlich! Wenn die Preise steigen, profitieren Sie schließlich davon. Zur Erinnerung: Wir haben genug Material gegen Sie in der Hand. Oder verlangt es Sie nach einer Einraumwohnung im ‹Gelben Elend› wegen verbrecherischen Menschenhandels, Gensfleisch?», drohte der Major beiläufig.
Der Hinweis auf das berüchtigte Gefängnis in Bautzen ließ den inoffiziellen Mitarbeiter einen Augenblick verstummen. «Mit Ihnen zu verhandeln ist immer wieder eine große Freude», sagte er schließlich betont gelassen und legte den verlangten Umschlag in die Hand von Major Schwarz. Dann schob er den Zettel über den Tisch, auf dem jene Personen aufgelistet waren, für die die Pässe gedacht waren. «Wäre schön, wenn das klappt.»
«Wir prüfen das», bemerkte der Major lakonisch. Sorgfältig steckte er den Umschlag mit dem Geld in den Aktenkoffer, nahm anschließend die Liste mit den Namen und überflog sie kurz. Lächelnd legte er sie ebenfalls in den Koffer, den er dann ordentlich schloss. «Vier Ausweise. Zwanzigtausend D-Mark. Möglicherweise mehr. Klingt nach einem guten Geschäft. Was machen Sie eigentlich mit dem ganzen Geld?»
Gensfleisch zuckte mit den Schultern. Die Frage war rhetorisch gemeint, eine Antwort erwartete Major Schwarz nicht. Er war zufrieden und im Begriff zu gehen. Dann erinnerte er sich daran, dass das Hausbuch noch auf der Anrichte lag. «Ich kann mich doch auf Sie verlassen, wegen des leidigen Problems?», fragte Gensfleisch mit ernster Miene.
Der Offizier der Staatssicherheit drehte sich langsam um und schaute sein Gegenüber mit unverhohlener Abscheu an. Er sprach es nicht aus, aber Verräter betrachtete er als Abschaum,