Der junge Häuptling. Liselotte Welskopf-Henrich
alles versoffen? Bist du noch bei Sinnen?«
»Ganz bei Sinnen!«
»Wird das mit dem Strom hier in den kommenden Tagen besser oder schlechter?«, fragte der fremde Herr den Fährmann.
»Schlechter. Die nächsten zwölf bis vierzehn Tage ist’s bestimmt nichts mehr mit dem Überfahren. Kein Schiffer und kein Steuermann, der organisiert ist, übernimmt das Risiko.«
»Du bist nicht organisiert? So mache dein Schiff klar! Ich zahle für uns alle den geforderten Preis.«
»Und für die Pferde? Und für das Maultier?«
»Wie willst du sie rechnen?«
»Jedes Tier gleich vier Männern. Ärger machen die uns noch viel mehr!«
Der Herr mit der Brieftasche ließ sich nicht abschrecken. Das schien allen verwunderlich, denn er hatte zarte Hände, kränkliche Züge und graues, weiches, gepflegtes Haar. Er wirkte nicht wie ein Mann des großen Risikos. Irgendein Wunsch oder irgendeine Idee musste ihn so stark beseelen, dass er bereit war, eine Gefahr auf sich zu nehmen, der er nicht gewachsen schien.
Während er zahlte, führte Pitt seinen Braunen schon auf die Fähre, sehr befriedigt von diesem Fortgang der Angelegenheit. Es war nicht leicht, die Tiere auf das Schiff zu bringen, denn sie witterten die Gefahr. Der Indianer mit der kostbaren Halskette hatte seinen eigenen Schecken und den Apfelschimmel des Weißen am Zügel. Bob sprang ihm bei und übernahm das Maultier mit dem Gepäck. Mit Mühe wurden auch diese Tiere auf die schaukelnde Fähre gebracht.
Inzwischen hatte der Herr in der Cowboykleidung gezahlt. Bob half ihm auf die Fähre. Der Fährmann selbst und einer der Jungen kamen auf das Schiff; der Kessel wurde angeheizt, die Schaufelräder begannen zu arbeiten. Der zweite Junge löste die Taue und sprang gleichzeitig mit dem Ponka auf das Fährschiff, das flott wurde.
Das Schiff hatte sofort starke Abdrift. Niemand spürte Neigung, viel Worte zu machen. Alle beobachteten den Strom und den Fährmann am Steuer. Am Ufer sammelten sich etliche Leute, um die Überfahrt zu beobachten. Die Bewohner des Stromufers waren gespannt, wie sich das Fährschiff unter den schwierigen Verhältnissen von Hochwasser und Eisgang bewähren würde.
Als die Pferde und das Maultier sich beruhigt hatten und die Fahrt gut vonstatten zu gehen schien, fragte der Herr mit dem grauen Haar Bobby freundlich: »Wo soll’s hingehen?«
»Nach Fort Randall!«
»Aha.« Der Herr wechselte mit seinem indianischen Begleiter einen Blick. »Auf einem kleinen Umweg.«
Das Fährschiff begann sich zu drehen. Der Strom spielte damit. Das Gesicht des Steuermanns wurde finster.
Die Maschine kämpfte das Schiff aus dem Wirbel hinaus. Die Strommitte wurde gewonnen und durchquert. Das Schiff steuerte schon auf das Westufer zu, als es unter Wasser einen heftigen Stoß erhielt. Alles Weitere spielte sich mit einer erschreckenden Schnelligkeit ab.
Das Steuer funktionierte nicht mehr. Während das Schiff steuerlos abwärtstrieb, bekam es Schlagseite. Plötzlich saß es fest und neigte sich. Eisschollen stauten sich sofort, und es bildeten sich neue Wirbel. Der Strom wandte seine unheimliche Gewalt an, um das Hindernis in seinem Lauf zu beseitigen.
Die beiden jungen Burschen verließen den Kessel und die Maschine, die nicht mehr arbeitete. Keuchend und spuckend kamen sie auf Deck. Der Fährmann krampfte die Hände noch um das untaugliche Steuer. Endlich kam es aus ihm heraus: »Rette sich, wer kann!«
Boote waren nicht vorhanden.
Der grauhaarige Fahrgast riss die Jacke herunter, um besser schwimmen zu können. Eine Woge brach gestautes Eis auseinander, schwemmte über Deck, schreckte mit ihrer Kälte und nahm die Lederjacke mit sich fort.
Bob hängte den einzigen Rettungsring, den das Fährschiff mitführte, ab und reichte ihn stillschweigend dem Fremden. Dieser wurde verlegen, nahm aber den sichernden Ring.
Pitt hatte sich nach niemandem mehr umgesehen. Er war schon im Wasser und begann zu schwimmen. Das Maultier, das ungenügend festgemacht war, folgte dem Beispiel, begab sich samt Gepäck ins Wasser und schwamm stromabwärts davon. Bob und der Indianer mit der kostbaren Halskette machten die Pferde frei. Sie wollten sie vom Schiff ins Wasser drängen, aber die Tiere rutschten, brachen ein, bäumten sich und schlugen aus vor Angst. Der Ponka, der abseits gestanden hatte, kam mit einem Sprung herbei. Er wies den gutgekleideten Indianer durch eine Handbewegung an, sich um den grauhaarigen Herrn zu kümmern, und übernahm selbst mit Bob zusammen die Pferde. Der Grauhaarige sprang gleichzeitig mit seinem indianischen Begleiter in den Strom. Der Ponka, der mit Bob zusammen noch zurückgeblieben war, ließ jetzt seine Kräfte spielen und zeigte, was er von Pferden verstand. Es dauerte keine halbe Minute mehr, und schon waren die Tiere alle drei im Wasser. Jack selbst glitt in die schlammgelben Wogen und hielt sich schwimmend in der Nähe der Tiere. Er hatte es nicht für notwendig befunden, etwas von seinen Kleidungsstücken abzulegen; sogar den hinderlichen Poncho hatte er noch um.
Mit Bob zusammen verließen die beiden Jungen, die als Maschinist und Heizer gearbeitet hatten, das Schiff.
Der Fährmann selbst stand noch immer am unbrauchbaren Steuer; das strömende Wasser reichte ihm schon bis über die Hüften. Er ließ das Steuerrad nicht los. Am Ostufer, von dem das Schiff abgefahren war, sammelten sich immer mehr Menschen und gestikulierten. Wahrscheinlich schrien sie auch, aber über den breiten Strom waren ihre Stimmen kaum zu hören. Die Wirbel verstärkten sich und verschlangen Schiff und Steuermann. Die Schwimmer im Strom konnten nicht darauf achten; sie hatten genug mit sich selbst zu tun.
Pitt gelangte als erster an das Westufer. Triefend stieg er heraus und schaute sich nach den Übrigen um. Sie schwammen zerstreut im Wasser. Jack hielt sich bei den Pferden. Die beiden Fremden schwammen nebeneinander. Es schien, dass der Indianer mit der kostbaren Halskette und Bob den grauhaarigen Herrn im Rettungsring noch mit allen Kräften unterstützten, damit er nicht vom Strom einfach mitgenommen wurde. Die Jungen holten diese letzte Gruppe rasch ein.
Pitt rannte zu der Stelle hin, an der die Pferde an Land kommen mussten. Er wartete nur kurze Zeit, da kletterten die angsterfüllten Tiere schon ans Ufer und hangaufwärts. Es gelang Pitt sofort, die Zügel seines Braunen zu fassen. Der Ponka war schon im Wasser auf den Schecken des fremden Indianers hinaufgeglitten. Den Apfelschimmel griff er jetzt am Zügel. Pitt und Jack erkannten stromabwärts das Maultier, das samt Gepäck ans Ufer stieg und südwärts davongaloppierte. Pitt begann, Jagd nach dem Tier zu machen.
Auch der grauhaarige Herr, der ihn begleitende Indianer und Bob konnten sich retten. Mit den beiden Jungen zusammen kamen sie an das Ufer. Durchnässt, vor Kälte schlotternd, stolperten sie den Hang hinauf. Die Jungen liefen zu einer Rindenhütte am Hochufer. Diese Behausung, die wahrscheinlich dem Fährmann als Notunterkunft zu dienen pflegte, suchten auch die beiden Fremden auf.
Der Ponka und Bob blieben für sich allein im Freien. Sie sammelten sich Holz, machten ein Feuer und zogen sich aus, um sich selbst, die Waffen und die Kleider im Winde und am Feuer zu trocknen. Doch legte der Ponka das Baumwollhemd auch jetzt nicht ab; er wollte es am Körper trocknen lassen.
Bobby schaute sich nach der Rindenhütte und nach den Pferden um. Der fremde Indianer war wieder herausgekommen und begann, den Schecken und den Apfelschimmel, die ebenso erbärmlich froren wie die Menschen, trockenzureiben. Pitt kehrte von seiner Jagd auf das Packtier ohne Erfolg zurück. Das schlaue Maultier war in dem Augenblick, in dem es eingefangen werden sollte, wieder ins Wasser gegangen. Der Kurznasige pflockte seinen Braunen an und verschwand, durchnässt, wie er war, in der Rindenhütte. Bald kam er in trockenen Kleidern wieder heraus. Er hatte sich offenbar einen Arbeitsanzug des ertrunkenen Fährmanns angeeignet, schlenderte herbei und blieb bei Bob stehen.
»Schöne Schweinerei!« Pitt pflanzte sich breitbeinig auf. »Alles nass! Nicht einen einzigen Schuss könnte man jetzt abgeben! Aber die Briefe hab ich gerettet. Wasserdichter Überzug! Bobby, hör mal, hast du wirklich alles versoffen, oder kannst du für den Anzug, den ich angezogen habe, den beiden Jungen was zahlen? ’s war ihr Vater, der ertrunken ist. Der Herr mit der Brieftasche ist pleite. Er hatte sein Geld