Im März färbte sich der Frühling braun. Manfred Eisner
aber sicherheitshalber habe ich ein Blech mit Humintas in den Backofen geschoben«, berichtet die Omi.
»Das habe ich bereits beim Hereinkommen bemerkt, Abuelita, die duften ja himmlisch bis auf die Straße hinaus!«
»Gestern brachte mir Oliver zwei Kilo von seinem frischen Kuhmilch-Weißkäse, den sie neuerdings auf dem Holstenhof produzieren und der sehr gut bei der Kundschaft im Hofladen ankommt. Jedenfalls sagt er, dass sich zurzeit dieser von ihm getaufte ›Requesón Andino‹ eher als der Verkauf der Frischmilch an die Meierei rentiert. Sie überlegen ernsthaft, ob sie nicht ein Drittel ihrer siebzig Milchkühe abschaffen und ihre Erzeugnisse lieber nur noch in ihrem Hofladen direkt verkaufen sollen.«
»Ja, Milchbauern durchleben schwere Zeiten«, sagt Nili. »Die Supermärkte drücken derart die Preise, dass viele Bauern aufgeben müssen! Gut, dass Onkel Oliver und Vetter Hans-Peter rechtzeitig mit dem Eigenverkauf ihrer Milch, der Butter und des Käses begonnen haben. Aber woher hast du jetzt im März noch frische Maiskolben, Abuelita?«
»Die kluge Frau baut vor, Nili. Von der letzten Maisernte des Holstenhofes habe ich mir einige Dutzend schöner Kolben eingefroren. Die haben sich prächtig gehalten, du wirst schon sehen!«
»Du, ich hab da ’ne Idee.« Nilis Augen blitzen. »Ich ruf mal schnell meinen Waldi an, der war heute dienstlich in Pinneberg. Vielleicht schafft er es noch, auf dem Rückweg vorbeizukommen!«
Hocherfreut legt sie nach dem Telefonat ihr altertümliches Handy zur Seite – sie kann sich immer noch nicht für ein zeitgemäßes Smartphone entscheiden, weil ihr die ›ewigen Glotzer und Hin- und Herwischer‹, wie sie die Nutzer nennt, ein Dorn im Auge sind. »Hei kümmt!«, verkündet sie strahlend.
»Na, denn is ja dein Wochenende wieder gerettet!« Abuelita schmunzelt.
*
Nachdem sie die schmackhaften gebackenen Humintas aus ihren Maisblätterumhüllungen herausgeschält und genüsslich vertilgt haben, gibt es noch einen Martín Fierro zum Nachtisch.
»Ich habe von Olivers Requesón eine Portion zurückbehalten«, erzählt die Omi und stellt einen Teller des in kleinere Scheiben geschnittenen runden Käseklopses auf den Tisch. »Anstatt des traditionell dazugehörenden Bataten-, Quitten- oder Guaven-Zuckerbrots gibt es leider nur einige Löffel meiner letztjährigen dick eingekochten Quittenmarmelade. Ich hoffe, es schmeckt euch trotzdem!«
Waldi bestätigt mit Begeisterung in seiner Stimme: »Und wie, liebe Oma Clarissa, wirklich mal wieder eine gelungene Kombination! Aber wo kommt der seltsame Name her?«
»Eigentlich aus dem Buenos Aires der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts«, berichtet Ima Lissy. »Martín Fierro ist der Name einer epischen Dichtung des Journalisten José Hernández, der dafür den Stil der traditionellen ›Payadas‹ – das sind Stegreif-Reime, mit denen zwei Gauchos im abwechselnden Turnus zur eigenen Gitarre singen und sich damit auf Wettbewerben regelrecht wörtlich bekämpfen – verwendet hat. Allerdings weiß ich nicht, wieso die Nachspeise den Namen dieses berühmten Gauchos trägt.«
»Vielleicht, um seine typisch argentinische Herkunft zu unterstreichen, weil diese Zusammenstellung auch in anderen lateinamerikanischen Ländern sehr beliebt ist«, sinniert Nili. »Wir haben den ›Queso y Dulce‹ auch in Kolumbien gegessen.«
Nachdem Abuelita Clarissa für das gelungene Essen allerseits höchstes Lob bekommen hat, gehen sie gemeinsam ins Wohnzimmer und sitzen alle am gemütlich wärmenden Kaminfeuer. Während des Abendessens hat Nili bereits ausführlich über die beiden wieder aufgewärmten Vermisstenfälle berichtet.
»An das Verschwinden eines jungen Diskjockeys im letzten Jahr kann ich mich erinnern«, bestätigt Abuelita. »Ich habe davon im Courier gelesen, und Oliver erzählte auch noch, dass er sich die Woche vor Ostern bei Wiese eine neue Cordhose gekauft und der junge Verkäufer ihn sehr nett beraten hat.«
»Was kann den beiden nur passiert sein?«, überlegt Ima. »Noch wissen wir nicht mit Sicherheit, dass sie überhaupt zusammen verreist sind«, gibt Nili zu bedenken.
Waldi küsst sie auf die Nase. »Allerdings spricht so einiges dafür. Nili zeigt sich wie immer bescheiden, das wissen wir ja!« Er sieht ihr in die Augen und spricht sie direkt an: »Und ich setze wieder einmal auf das besondere Gespür deines ausgesprochen schönen Riechorgans.«
»Jedenfalls werden wir mit Sicherheit schon bald mehr erfahren«, verkündet Nili. »Ich habe von unterwegs Boie Hansen angerufen und treffe ihn mitsamt den ehemaligen Kollegen morgen um zehn auf der Dienststelle.«
»Wenigstens einmal eine christliche Zeit!«, lässt Waldi zufrieden verlauten.
»Nix da, du Faulpelz! Um sieben wird aufgestanden, und dann geht’s auf die Joggingpiste, um Abuelitas üppige Maiskuchen wieder abzuarbeiten. Du hast immerhin drei Humintas verdrückt, vom Martín Fierro ganz zu schweigen!«
Waldi lacht. »Was kann ich denn dafür, dass die so unverschämt gut schmecken!«
*
Sehr herzlich begrüßen Hauptkommissar Boie Hansen und seine drei Mitarbeiter der Polizeidienststelle Oldenmoor Nili und Waldi.
»Also, liebe Nili, sehr viel können wir dir leider über den Fall des vermissten Dominik Baumann nicht berichten. Das passierte etwa zwei Wochen nach deiner Versetzung nach Kiel. Nachdem sein Arbeitgeber Wilfried Wiese und danach seine Vermieterin Frau Wendlandt mit der Vermisstenmeldung zu uns kamen, haben wir uns natürlich sofort auf die Suche gemacht. Wie wir erfuhren, war wohl sein letzter Auftritt als Diskjockey am vorigen Ostermontag bei einer Geburtstagsfeier im Elbmarschen Hof. Am Tag darauf verabschiedete er sich von seiner Wirtin, wie sie aussagte, für eine Tour durch Schleswig-Holstein und das angrenzende Gebiet von Dänemark. Diese sollte bis Ende des Monats dauern, denn so lange hätte er Urlaub. Dies bestätigte gleichlautend sein Arbeitgeber. Danach verliert sich jegliche Spur, niemand hat Baumann seitdem gesehen. Leider hinterließ er hier nicht viel Verwertbares, Oldenmoor war ja nur sein zweiter Wohnsitz. Anscheinend hat er das Wesentliche seiner Habe entweder bei den Eltern in Elmshorn aufbewahrt oder in seinem mit Pinneberger Kennzeichen versehenen Bulli mitgeführt, zusammen mit seiner gesamten Beschallungsausrüstung. So gelang uns auch nicht näher nachzuvollziehen, wo er sich seit seinem Verschwinden aufgehalten haben könnte, jedenfalls war in seinem möblierten Zimmer nichts darüber zu finden.« Boie Hansen klappt die Akte wieder zu. »In Absprache mit der Itzehoer Staatsanwaltschaft und Kripo haben wir schließlich den Fall an die Elmshorner Kollegen abgegeben.«
»Mmm, lass mich mal raten, Boie: Kriminaloberrat Thumann oder Stöver?«
»Nee, Nili. Jetzt, wo du das sagst, keiner von beiden. Da war niemand so richtig federführend. Thumann hatte doch gerade einen Herzinfarkt erlitten und Stöver war erst im Anflug. Da war damals ein Kriminalhauptkommissar zuständig, und ich glaube, sein Namen war Neumann.«
»Ja, das stimmt.« Waldi nickt. »Den hat’s tatsächlich gegeben. Also muss die Sache zwischen zwei Stühle gefallen sein.«
»Wie ist das gemeint?«, fragt Polizeimeister Willi Seifert.
»Da muss ich also ein wenig weiter ausholen, liebe Freunde.« Nili berichtet von den beiden Fällen, die sie und ihr neues Team von LKA-Sonderermittlern gerade aus der ›Aktenversenkung‹ des Kieler Archivs herausgepickt haben und deren Lösung sie nun forciert anstreben.
»Ihr solltet euch auf jeden Fall eine Kopie der Akte aus Elmshorn kommen lassen!«, meint Waldi.
»Ich habe den Dominik ein wenig gekannt«, berichtet plötzlich Polizeimeister-Anwärterin Helga Timm. »Wir waren einige Male mit meiner Freundin Anja Bartels im ›Colo‹ zur Disco, wo DJ Mario – so hieß er doch? – für die Musik zuständig war. Er war wirklich gut und sah auch noch toll aus mit seinen rotblonden Haaren. Und er hatte flotte Sprüche drauf! Wir haben uns später des Öfteren gefragt, warum er auf einmal hier nicht mehr aufgetaucht ist.«
»Hattet ihr näheren Kontakt zu ihm?«, will Nili wissen.
»Nö, nicht wirklich! Anja war ja ’n