MORTIFERA. Markus Saxer

MORTIFERA - Markus Saxer


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auf den Boden. Die Möbel, größer als bei Tag, fleckten undeutlich das Dunkel. Er faltete die Hände über dem Bauch und starrte das schwarze Rechteck der Zimmerdecke an. Wie ein offenes Grab grinste die Decke herab. Er schloss die Augen, konnte aber nicht einschlafen. Ein unerträgliches Gemisch aus körperlicher Müdigkeit und dem Gefühl von etwas, das ihn innerlich aufzehrte, zermürbte ihn. Gedanken, bevölkert von abscheulichen Existenzen und Wesen ohne Leben, tobten auf einmal in seinem Gehirn. Etwas Unwägbares, Gestaltloses, das in der Finsternis zu lauem schien, peitschte seine Nerven zusätzlich auf, während sein Herz geradezu galoppierte. Er atmete mehrmals hintereinander tief ein und aus, versuchte es mit mentalen Entspannungsübungen. Es half nichts, der Schlaf floh ihn wie einen Verdammten, wies ihn ab, wie Ölzeug das Wasser. Er hörte die Zeit fallen, Tropfen um Tropfen.

      Als er dann doch kurz einschlief, hatte er ein unheimliches Traumbild: Das schmale, weiße Gesicht einer Fremden, das zitterte wie auf dem Grund eines Flusses. Zwei dunkle Augen mit starrem Blick …

      Gestern lag erneut ein Foto in seinem Briefkasten. Diesmal hatte der mysteriöse Fotograf seine Haustür abgelichtet. Zuerst regte er sich darüber auf, doch später bekam er Angst. Etwas Ungeheuerliches schien sich ihm auf leisen Sohlen zu nähern, unaufhaltsam pirschte es sich heran. Noch machte es Halt vor seiner Tür, aber wie lange noch?

      Nachdem er ein Bad genommen und sich mit dem Frottiertuch abgetrocknet hatte, griff er nach dem Rasiermesser und stellte sich vor den Spiegel, der noch beschlagen war. Er betrachtete sein verschwommenes Spiegelbild, die Schneide nahe am Hals. Jäh kam ihm die verrückte Idee, es hätte sich vielleicht gleichzeitig mit den beiden Aufnahmen ein unsichtbares Wesen in sein Haus eingeschlichen und beschlossen, sich in seinem Körper einzunisten, sich seine Stimme und seine Bewegungen anzueignen. Und nun war es vielleicht dieses Wesen, nicht er, das statt seiner das Rasiermesser hielt. Seine Hand zitterte so heftig, dass er sich eine kleine Schnittwunde zufügte. Blut troff ins Waschbecken und vermengte sich mit Wassertröpfchen zu einem purpurnen Rinnsal. Als er wieder in den Spiegel blickte, schien es ihm, als schaute dieser andere zurück.

      Oder diese andere?

      Er kniff die Augen zusammen, als könne er so besser sehen. Tatsächlich, es war das Gesicht aus seinen Träumen. Zwei stetig dunkler werdende Augen hefteten sich auf ihn, bis ihn das Grauen packte. Der Spiegel wurde klar, das Gesicht eisig scharf. Aus dem Mundwinkel der Frau rann ein Blutfaden. Ihr Blick verwandelte sich in quälendes Starren – der Blick einer Wahnsinnigen. Leise bewegte sie die aschfahlen Lippen, und wäre da nicht diese Totenstille gewesen, er hätte geglaubt, sie rede mit ihm. Ihr Antlitz war voll morbider Schönheit und schlug ihn in seinen Bann. Ihre stechenden Pupillen ließen ihn nicht mehr los. Mit einem Mal brach ein Stöhnen die Stille. Das Rasiermesser entglitt seinen Fingern und landete auf der Badematte neben der Wanne. Am ganzen Körper zitternd war ihm, als verfinsterte sich der Tag, als würde alles zerrinnen, als würde er selbst aus der Zeit herausfallen. Kalter Schweiß brach ihm aus, schlagartig hatte er Eiswasser in den Adern. Allmählich verflüchtigte sich ihr Gesicht und machte seinem Ebenbild Platz. Es erschien ihm fremd. Eine Weile sah er auf seine eigene Visage, ehe er langsam realisierte, wie ihm das Blut aus der Schnittwunde am Hals warm den Körper herunterrann. Ihm wurde schwindlig. Nach Atem ringend krallte er sich am Rand des Waschbeckens fest und sackte in die Knie.

      In derselben Nacht kauerte er auf dem Bett, überdachte alles nochmals und fühlte sich fix und fertig. Er nippte an der Teetasse und öffnete das Nachtschränkchen. Völlig überrascht war er, als neben den beiden ersten Fotos noch ein drittes lag. Darauf war seine Haustür einen Spaltbreit geöffnet, und durch diesen Spalt – es lief ihm eiskalt den Rücken runter – schaute das weiße Gesicht aus seinen Träumen. Er rang nach Atem. Wie hypnotisiert starrte er eine Weile auf die Aufnahme, ehe er sie durchs Zimmer schleuderte und hoffte, nicht den Verstand zu verlieren.

      Er ging ins Bad, schluckte eine Valiumtablette, legte sich anschließend aufs Bett und knipste die Nachttischlampe aus. Ein Streifen Mondlicht lag wie ein hell leuchtendes Band auf dem Boden. Als er endlich in die Anderwelt zwischen Traum und Wachen glitt, hörte er am Rande seines Bewusstseins das regelmäßige Atmen eines Schläfers.

      Sein eigener Atem?

      Wie schon am Morgen im Bad, vernahm er wieder dieses Stöhnen. Sofort war er hellwach und blickte panisch auf das Foto, das im Zimmerwinkel schimmerte.

      Was, wenn das darauf abgebildete Wesen Gestalt annehmen und ihm entgegentreten würde?

      Wie ein ängstlicher Junge zog er sich die Decke über den Kopf und verscheuchte diesen Gedanken. Glücklicherweise ließ ihn das Schlafmittel sachte wegdämmern. Während er schlief, sah er zeitgleich die Dinge um sich herum so klar wie im Wachzustand, sah sich durch eine unerklärliche Verdoppelung selbst in seinem Bett liegen. Ganz weiß war sein Gesicht, so wie das der Fremden. Leise bewegten sich seine Lippen, er beugte sich quasi über sich selbst und merkte mit Schaudern, dass sie seinen Platz eingenommen hatte. Schreiend spürte er, wie ihm das Blut mit grässlichen Geräuschen durch den Kopf schoss. Er hielt sich die Ohren zu, versuchte die Augen zu schließen, konnte es nicht, wollte wegblicken – es gelang ihm nicht.

      Erst als sie die Hände hob, wurde es still in seinem Kopf. Wie durch Zauberei fiel auch die Angst von ihm ab. Er überlegte, ob er sie nach den Fotos fragen sollte.

      »Du selbst hast diese Fotos gemacht.«

      Hatte sie das eben gesagt, oder hatte es ihm ein Gedanke ins Gehirn geflüstert?

      Während er darüber sinnierte, wurde ihm bewusst, wie schön sie war und wie selbstsicher sie nackt auf den Laken ruhte. Auf ihrem schmalen Gesicht kämpften fahles Mondlicht und Schatten miteinander. Trotz ihres zwingend-fordernden Blicks war er jetzt ganz entspannt, was ihm unter den gegebenen Umständen sehr merkwürdig erschien. Seine Furcht war wie weggeblasen, jegliche Müdigkeit von ihm abgefallen. Er war gar so kühn, sich neben sie aufs Bett zu setzen, woraufhin ein Lächeln ihre Mundwinkel verzog. Es war das Lächeln eines nichtmenschlichen Wesens, doch ging ein solcher Zauber von dieser Gestalt aus, dass er auf unerklärliche Weise angezogen wurde. In seinem Taumel wagte er es, ihr behutsam eine Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. Sie schloss die Augen und seufzte genießerisch. Langsam glitten seine Finger in die dichte schwarze Masse ihres Haars. Ein Duft wie von vermodernden Blumen lag in der Luft.

      »Wer bist du?«, flüsterte er.

      »Komm …«, las er von ihren Lippen ab.

      Er beugte sich über sie und schaute sie an. Sie schlug die Augen auf und es schien, als würde die anbrechende Morgenröte darin glimmen. Sacht berührten seine Lippen die ihren – sie waren kalt. Blitzartig umschlang sie ihn mit Armen und Beinen, krallte sich fest wie eine Ertrinkende. Schlagartig wurde ihm klar: Er war ihre Beute und nicht ihr Meister. Trotz oder gerade wegen dieses vollständigen Ausgeliefertseins, packte ihn eine widernatürliche, tierische Begierde. Wild vollzog er mit ihr den Liebesakt – gierig und sehnsüchtig. Auf dem Höhepunkt der Wollust erstickte er seinen Lustschrei keuchend in ihrem Haarschwall. Dann versuchte er, sich von ihr zu lösen, aber sie gab ihn nicht frei. Gesättigt und ernüchtert wollte er sein Fleisch von ihrem Fleisch reißen, aber sie hielt ihn im Schraubstock ihrer Glieder fest. Er hielt still in der Hoffnung, sie würde ihn freilassen. Sie hielt jedoch noch fester, verdrehte lauernd die Augen und öffnete ein wenig die Lippen. Wieder erklang dieses Stöhnen, das sie zwischen den Zähnen hervorpresste.

      Bestürzt hatte er das Gefühl, mit ihr in die Tiefe zu stürzen, mit ihr sterben zu müssen. Ein glühender Schmerz durchzuckte ihn, als sie ihm schlagartig die Zähne in die Schulter bohrte. Sich aufbäumend hörte er sich selbst schreien, während er seine Hand auf die blutende Wunde drückte. Sobald ihr Körper unter ihm erschlaffte, sprang er mit einem Satz vom Bett auf, obwohl der Schmerz in seiner Schulter wütete. Bebend, aber fasziniert, sah er im Zwielicht des heranreifenden Tages ihren schmalen, zarten Körper wie tot auf dem Bett liegen. Ein dünner Blutfaden rann ihr vom Mundwinkel. Nie zuvor hatte er etwas Grausigeres und zugleich Schöneres gesehen.

      In diesem Moment wurde die Schlafzimmertür aufgerissen.

      Er wirbelte herum, doch da war niemand. Vor ihm klaffte nur schwarz der leere Türrahmen. Unschlüssig überlegte er, ob die Tür nicht vielleicht die ganze Zeit


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