MORTIFERA. Markus Saxer

MORTIFERA - Markus Saxer


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der Geblendeten, kamen Melzi und Salai angerannt. Mit Blick auf die halb ohnmächtigen, sich am Boden wälzenden Männer befahl Da Vinci eine Kutsche herbeizuschaffen und seine gesamte Habe aufzuladen.

      Nachdem dies geschehen und alles verladen war, kehrte der Maler Rom für alle Zeiten den Rücken.

      Viele Jahre später, in einer eiskalten Winternacht, öffnete Da Vinci das Fenster in seiner Mailänder Werkstatt, ehe er das Kaminfeuer mit Holzscheiten nährte. Als er mit einem Krug Wein aus dem Keller zurückkehrte, fand er Milana vor, die in einem dunklen Kleid mit Stickereien und senkrechten Brokatfalten am Sims des offenen Fensters lehnte. Der Vollmond über ihr sah aus wie eine bleich leuchtende, in den Himmel emporgeschleuderte Diskusscheibe. Der alte Maler lächelte glücklich.

      Die nächtliche Besucherin schloss das Fenster und trat näher. In ihren Augen, die im Laufe der Jahrhunderte viel gesehen hatten, lag eine Spur von Trauer. Sie nahm Da Vincis Gesicht ganz sanft in ihre Hände, und der Alte spürte einmal mehr den unbeschreiblichen Zauber, der von dieser Frau ausging.

      »Meine Zeit ist gekommen, Leonardo. Noch ehe der Monat im Zeichen der Mondesverbrennung steht, muss ich Euch für immer verlassen. Ich habe Euch an die Grenzen des Wissens und darüber hinaus geführt. Mehr vermag ich Euch nicht zu lehren.«

      Da Vinci nickte und schwieg eine Weile. Dann, mit einem traurigen, matten Glanz in den Augen bat er: »Gestattet mir, Teuerste, vorher noch Euer Porträt zu vollenden. Bitte, setzt Euch ein letztes Mal auf den Stuhl hinter der Staffelei, ich will mich beeilen …«

      Fieberhaft und mit fliegendem Pinsel arbeitete Meister Leonardo in den nachfolgenden Stunden das Porträt Milanas zu Ende, während sie ihm geduldig Modell saß. Als er ihr stumm zunickte stand sie auf: »Es ist Zeit, Abschied zu nehmen, mein Lieber.«

      Der Maler seufzte und ein Schatten verdüsterte sein müdes, alterszerfurchtes Gesicht. Ein letztes Mal umarmten sie sich innig, ehe die Magierin seine Werkstatt verließ.

      Mit Tränen in den Augen setzte sich da Vinci in den Armsessel, strich sich eine lange weiße Haarsträhne aus dem Gesicht und trank Wein. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels die Augen trocken, betrachtete das Ölporträt Milanas, ergötzte sich an den Hintergrundmotiven, die er über die abgerundete Silhouette ihres Gesichts gemalt hatte: Eine zerklüftete, von Bächen durchkreuzte Landschaft, die sich in der Ferne vor einem grünblauen Himmel verlor; Nebelschwaden, die zwischen den Klippen geheimnisvoll auf- und abwogten.

      Ein neuer Tag war angebrochen. Eine blasse Sonne drang durch die hohen, schmalen Fenster in den Raum. Der Feuerschein des Kamins mischte sich in das weiße Winterlicht. Da Vincis Augen ruhten auf dem Antlitz der Magierin – auf dem langen, in der Mitte gescheitelten Haar, den fleischigen Lidern, von denen das zähflüssige Licht eines Lächelns ausging. Dieses Lächeln flutete über die weichen Flächen ihres Gesichts zu dem kleinen, festen Mund mit der geschwungenen Oberlippe, die sich an das korallenrote Lächeln der Unterlippe dicht anschloss.

      Der Maler konnte nicht wissen, dass dieses Porträt ihm dereinst Weltruhm verschaffen sollte, und nachfolgende Generationen es irrtümlicherweise für das Abbild einer gewissen Lisa La Gioconda, besser bekannt unter dem Namen Mona Lisa, halten würden.

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