MORTIFERA. Markus Saxer

MORTIFERA - Markus Saxer


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Die Gliedmaßen gebrochen, überall blutend, als hätte man ihm die Haut heruntergerissen. Von diesem Anblick zutiefst verstört, fing er an, wie ein in die Enge getriebenes Tier zu schnaufen, stürzte ins Bad und kühlte sein Gesicht mit kaltem Wasser. Tropfnass blickte er in den Spiegel, direkt in sein neues Ebenbild: ein schmales, totenbleiches Gesicht mit dunklen Augen, die ihn wahnsinnig anstarrten. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Einerseits lag sein Körper tot und verstümmelt im Schlafzimmer, andererseits war er auf gespenstische Weise noch am Leben.

      Aber er war jetzt sie, war das Opfer des teuflischen Spiels, das sie mit ihm trieb!

      Langsam öffnete sich sein Mund, er wollte schreien, brachte aber keinen Laut hervor. Er blickte wie aus dem Helm eines Tiefseetauchers, dem man gerade den Luftschlauch durchgeschnitten hatte. Eine Träne quoll ihm aus dem Auge und tropfte auf den Grat seines Wangenknochens. In dem Moment wurde er Zeuge eines erschreckenden Phänomens: Er sah im Spiegel, wie sie auch innerlich von ihm Besitz ergriff, schaute zu, wie er sich gegen seinen Willen mit dem Handrücken den grotesken Blutfaden aus dem Mundwinkel wischte und danach seine blassen Brüste in den Händen wog. Mit Abscheu bemerkte er, wie das schöne Antlitz einen sinnlichen Zug bekam.

      Wie ferngesteuert holte er seine Digitalkamera und knipste sich vor dem Spiegel. Vom Blitz geblendet rieb er sich die Augen, legte den Fotoapparat auf den Wäschekorb und ließ mechanisch ein heißes Bad einlaufen. Vielleicht musste er tun, was sie wollte, vielleicht war er nur noch ihre Marionette. Er setzte sich in das dampfende Nass, flocht die Finger um die Knie und merkte, dass sie ihn einlullen wollte. Sein Wille wurde schwächer, aufgesaugt von ihrem Willen, der langsam in ihm wuchs. Der vollständige Verlust seiner eigenen Identität war nur noch eine Frage der Zeit.

      Doch noch regte sich Widerstand in ihm. Aus dem Augenwinkel sah er das Rasiermesser auf der Badematte links von sich. Was, wenn er … Sofort spürte er, wie sie sich wütend in ihm aufbäumte, wie sie ihm Schläge versetzte, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er bündelte all seine schwindende Energie, sein letztes Häufchen eigenen Willen. Es gelang ihm, seine innere Feindin ein paar Sekunden lang niederzuringen, das Rasiermesser zu ergreifen und sich damit die Pulsadern aufzuschneiden. Sie kreischte und tobte in ihm wie eine verrückte Gefangene, die wütend an den Gitterstäben ihres zu engen Käfigs rüttelt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wartete er ab, bis ihre Kräfte nachließen und verebbten. Diesen Kampf hatte er für sich entschieden. Sein letzter Kampf …

      Zitternd betrachtete er seine blutüberströmten Unterarme. Völlig erschöpft schloss er die Lider, stöhnte, lehnte sich zurück und wartete auf die Agonie. Unaufhörlich floss der Lebenssaft aus seinen Adern. Er röchelte, sein Bewusstsein schwand, dabei sank er immer tiefer in die Wanne, um schließlich ganz unterzutauchen. Sein schwarzes Haar fächerte sich im Wasser auf, die Haarspitzen trieben gleichzeitig mit einigen Luftblasen aufwärts. Seine Lider öffneten sich. Noch ein letztes Aufbäumen, dann war er ertrunken.

      Weiß schimmerte sein Gesicht auf dem Grund der Badewanne durch das rötliche Wasser hindurch. Zwei dunkle Augen mit starrem Blick.

      Draußen tobte ein Schneesturm und die sakrale Stätte, in der ich mich zum Schutz niedergelassen hatte, war für mich wie das ruhige Auge eines Zyklons. Um diese Tageszeit war die dreischiffige Kathedrale von Saint Belem menschenleer. Die Kirchenorgel strahlte in den ganzen Raum und brachte die kalte Luft zum Vibrieren, während die Steinwände den Weihrauch von Jahrhunderten ausdünsteten.

      Mit einem Knarren öffnete sich plötzlich hinter mir das Südportal. Ich spürte den eisigen Luftzug im Nacken und hörte Schritte. Man kann sich meine Überraschung vorstellen, dass sich gleich darauf ein älterer Herr direkt neben mich auf die Bank setzte, wo es doch mehr als genügend freie Plätze gab. Er zog seinen Hut vor mir, und ich nickte ihm zu. Beide lauschten wir in der Folge andächtig der majestätischen Musik, während ich den Mann aus dem Augenwinkel beobachtete. Er schien das spitzbogige, mit Maßwerk verzierte Buntglasfenster in der linken Wandfläche zu betrachten. Es zeigte, wie ich nun bemerkte, den Sündenfall von Adam und Eva.

      Mein Name ist Peter Gent, ich handle mit Antiquitäten und bin seit vier Jahren verwitwet. Meine Frau Ruth starb bei einem Autounfall. Als ich sie damals im pathologischen Institut identifizieren musste, schien ihr Leichnam von einem flirrenden Glanz umgeben. Ich griff nach ihrer Hand, dabei verrutschte das Leintuch und gab den Blick frei auf ihren zerfetzten Oberkörper.

      Dieser Anblick, der mir rasch das Bewusstsein nahm, verfolgt mich bis zum heutigen Tag. Mit Ruth war auch ein großer Teil von mir gestorben, und im Nebel der Depression bin ich noch immer unfähig, ein neues Lebenskapitel aufzuschlagen.

      Die Musik war verstummt. Der Fremde wandte sich mir zu und fragte: »Kommen Sie oft hierher und beten?«

      »Nein, ich bete nie. Allein der Schneesturm trieb mich hierher«, sagte ich.

      »Warum beten Sie nie?«

      »Weil mir der alte Knabe da oben ohnehin nicht antworten würde.«

      »Wie recht Sie haben«, sagte er gemessen lächelnd und deutete auf den Sündenfall. »Haben Sie schon darauf geachtet? Kein Mensch weiß heutzutage mehr, dass dieses Werk von Gérard Garouste stammt. Unfähige Kunsthistoriker ordneten es einer falschen Epoche zu.«

      Darauf wusste ich nichts zu erwidern.

      Er blickte mich durchdringend an und ich sah in seine wachen, listigen Augen, über denen buschige Brauen thronten. Sein Gesicht erschien mir kraftvoll. Er war in Ehren ergraut und wirkte sehr gepflegt, vielleicht an der Grenze zur Dekadenz. Ich schätzte ihn um die fünfundsechzig. Auf mich machte er den Eindruck eines erfolgreichen Geschäftsmanns. Der schwere, holzige Geruch seines Aftershaves stieg mir in die Nase und machte mich fast ein wenig trunken. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben. Die baldachinartigen Rippengewölbe mit dem Sternenmuster schienen in himmlische Sphären entrückt. Ich hatte das Gefühl eines rauschartigen Emporgehobenwerdens. Die dünnen, in die Höhe schießenden Rundpfeiler weckten in mir die Imagination von Antennen des Glaubens. Ich blickte zum Chor, in dessen Mitte befand sich ein monumentales Triumphkreuz, das mit Vogelkot beschmutzt zu sein schien.

      Der Alte neben mir räusperte sich und sagte: »Darf ich Ihnen vielleicht eine kleine Geschichte erzählen?«

      Ich zuckte mit den Achseln. »Warum nicht? Es würde uns ein wenig die Zeit verkürzen, nicht wahr?«

      »Genau das dachte ich mir auch … Dann also los. Wie Sie wissen, mein Herr, schuf Gott am Anfang Himmel und Erde und setzte danach die Sterne ans Firmament. Aber man muss sich fragen, was einem Schöpfer all seine Werke nützen, wenn niemand zugegen ist, der sie betrachtet und sich daran erfreuen kann. Gott wird zur selben Einsicht gekommen sein, denn bald schon formt er aus den Elementen der Natur den ersten Menschen und haucht ihm seinen Odem ein. Er muss jedoch feststellen, dass Adam sich mit der Zeit sehr einsam fühlt. Daher stellt er ihm ein Weib namens Eva zur Seite …«

      So erzählte er mir die Schöpfungsgeschichte, die einige mir unbekannte Aspekte hervorhob, und ich lauschte ihm mit Zurückhaltung. Am Ende heftete er den Blick auf das große Kruzifix und wollte von mir wissen, was ich über die genauen Todesumstände Christi wüsste.

      »Nun, Sie wissen selbst, dass er gekreuzigt wurde. Da fällt mir gerade ein, dass ich neulich eine Sendung über das Turiner Grabtuch …«

      »Ach«, fiel er mir ins Wort, »verschonen Sie mich bloß mit diesem mittelalterlichen Fetzen Stoff, bei dem es sich nur um eine Fälschung Leonardo da Vincis handelt.« Er winkte verächtlich ab. »Sie müssen wissen«, führte er fort, »dass dieses Linnen mit dem geisterhaften Abdruck eines Gekreuzigten ein Auftragswerk für den damals amtierenden Pabst war. Damit sollten die Pilger in Scharen angelockt werden, auf deren Spenden die Kirche erpicht war. Leonardo fertigte also diese falsche Reliquie an, aus den Evangelien wusste er ja genau um die Verletzungen, die Jesus auf seinem Leidensweg zugefügt wurden. Er hat die Fälschung auch recht gut hingekriegt, muss man sagen. Mit Ausnahme der Fußwunden, die bei ihm über den Rist verlaufen. Aber woher hätte er auch wissen sollen …«

      »Was?«

      »Dass


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