MORTIFERA. Markus Saxer

MORTIFERA - Markus Saxer


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woher wissen Sie es? Ist das nicht nur ein Detail?«

      »Nun, ich weiß es einfach, und es ist mehr als nur ein Detail.«

      »Inwiefern?« Er hatte mich neugierig gemacht.

      »Sehen Sie, die Passionsgeschichte muss im direkten Kontext zum Sündenfall betrachtet werden. Christi Kreuzigung war nicht ausschließlich das Werk von Menschen, denn die römischen Schergen handelten größtenteils fremdbestimmt, ohne sich aber dessen bewusst zu sein. Dysmas und Gestas, die beiden Leidensgenossen Jesu rechts und links von ihm, wurden mit Stricken an den Kreuzen fixiert. Christus hingegen nagelte man ans Holz … Aber wieso eigentlich diese unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Hinrichtung? Haben Sie sich diese Frage noch nie gestellt?«

      »Offen gestanden, nein«, sagte ich, worauf sein Blick verschlagen und rätselhaft wurde. Sodann fuhr er in einer Stimme, die niemals irrt fort: »Dann erkläre ich es Ihnen und Sie verstehen dann, warum Christus Gott um Vergebung für seine Peiniger bat, da diese nicht wüssten, was sie täten. Die Sache ist wie folgt: Nachdem Gott das erste Menschenpaar aus dem Paradies verbannt hatte, wandte er sich an die Verführerin, die Schlange. Er sagte zu ihr, er werde dereinst einen Mittler auf Erden senden, der ihr das Haupt zertreten würde. >Ach<, gab die Schlange zur Antwort, eifersüchtig bist du bloß auf mich, weil ich den Menschen die Erkenntnis über Gut und Böse verschaffte. Ohne diese Fähigkeit aber könnten sie sich immer nur für dich entscheiden. Ist es das, was du wolltest? Ihnen die Wahlfreiheit rauben? Was jenen Mittler anbelangt, Jesus, wie er heißen wird, er möge zu mir kommen. Ich werde auf ihn warten. Trachtet er danach, mir das Haupt zu zertreten, so will ich im Gegenzug Evas Tat ungeschehen machen, indem ich dir die Frucht darreiche, die sie vom Baum der Erkenntnis pflückte, indes auf meine Weise: Ich hänge sie in Gestalt deines Sohnes Jesus zurück an den Baum, aber dies wird der bittere Baum des Todes sein. Die Menschen werden ihn verspotten, geißeln und seine Fersen durchstechen‹.«

      Ich blickte auf das Kruzifix, dessen Längsbalken die Mittelachse einer strengen und vollkommenen Symmetrie im Chor- und Altarbereich bildete. In qualvoller, tödlicher Verzerrung blickte das Antlitz des Schmerzensmannes auf die vorderen, leeren Bankreihen. Von einer unbestimmten Unruhe ergriffen, drehte ich dem Fremden das Gesicht zu: »Verzeihung, wer sind Sie eigentlich? Und was wollen Sie von mir?«

      Kühl und abschätzend musterte er mich: »Mein Name ist nicht wichtig, Peter Gent.«

      »Woher wissen Sie wer ich bin?«

      »Peter, ich weiß so vieles. Aber wissen Sie, dass Ihre Frau im zweiten Monat schwanger war, als sie in ihrem Wagen in den Tod raste?«

      Ich erstarrte und stierte ihn fassungslos an. Das Herz pochte mir bis zum Hals.

      »Nun«, fuhr er wie amüsiert fort, »Ihr Blick spricht Bände. Sie wussten es mit Bestimmtheit nicht. Es war auch kein Unfall, sondern ein Suizid … Gewiss denken Sie noch ab und zu an die kokette junge Dame, der sie vor sechs Jahren den Florentiner Barockspiegel aus dem siebzehnten Jahrhundert verkauften. Immerhin wurde sie Ihre Geliebte. Doch Ruth, Ihre Frau, ist Ihnen auf die Schliche gekommen. Als sie Ihre ständigen Seitensprünge nicht länger verkraften konnte, brachte sie sich um, hinterließ Ihnen jedoch keinen Abschiedsbrief, denn sie wollte nicht, dass Sie sich bis an Ihr Lebensende mit Selbstvorwürfen quälen müssten.« Er hüstelte ostentativ.

      Mich fror es bis ins Mark und ich zitterte, währenddem er weiter ungehemmt auf dem Geheimnerv herumdrückte, den er in mir getroffen hatte: »Ihr toter Sohn wäre übrigens ganz nach Ihnen gekommen, Peter, Sie können also davon ausgehen, dass Sie der leibliche Vater des Jungen …«

      »Halten Sie den Mund, Sie dreckiges Schwein!« Die Wut hatte meine Erstarrung gelöst und ich wollte schon auf ihn einprügeln, doch die Kraft, die von seinen Augen ausging, ließ mich innehalten. Fest und gebieterisch ruhte sein Blick auf mir. »Bei der Kollision«, fuhr er gelassen fort, »wurde Ihrer Frau der Brustkorb eingedrückt. Sie verblutete und erstickte langsam und höchst qualvoll, während Sie sich zur selben Zeit mit Ihrer Gespielin vergnügten.«

      Seine Worte fuhren wie Hiebe auf mich herab, und um mich herum begann sich alles zu drehen. Wie angenagelt hockte ich auf der Bank, und mir wurde speiübel.

      Er stieß mich an und holte dann aus der Tasche seines Mantels einen Apfel hervor, den er mir unter die Nase hielt: »Sehen Sie, einen solch prächtigen Apfel pflückte Eva einst von meinem Baum … Wissen Sie, so wie euer Gotte brauche auch ich ab und zu einen Menschen als Zeuge meiner erhabenen Werke. Einstein hat einmal gesagt, Gott würfelt nicht, und er findet meine Zustimmung. Gott hat niemals gewürfelt, aber er spielt seit jeher mit mir Schach. Und wir werden wohl noch viele Züge ziehen. Und Sie, Peter, sind nur einer jener unbedeutenden Bauern auf unserem Schachbrett, der leicht geopfert werden kann. Wahrlich, noch ehe der Winter dem Frühling weichen muss, werden Sie sich mir ergeben, das garantiere ich Ihnen. Der Geruch Ihres Blutes wird wie köstlicher Weihrauch zu mir herabsteigen. Ihr Schicksal ist besiegelt!«

      Als er mich aus engen Pupillen tückisch anfunkelte, überkam mich eine irre Furcht. Stumm schaute ich zu, wie er in den Apfel biss. Saft spritzte mir ins Gesicht und jäh fühlte ich mich auf eine nicht zu benennende Weise besudelt. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, stand der Versucher auf und verließ die Kirche. Ehe das Portal ins Schloss krachte, hörte ich noch den Schnee knirschen.

      Der Sturm schien sich gelegt zu haben. Genau genommen hatte er sich mitten in meine Seele verlagert, um sich dort weiter auszutoben. Zusammengekauert wie ein wirbelloses Tier saß ich da und bebte. Und zum ersten Mal in meinem Leben fing ich an zu beten.

      Die Besucher der Abendmesse setzten sich auf die Bänke. Mein Blick schweifte zu der Eule, die sich gerade auf dem Kruzifix niederließ. Seltsamerweise schien außer mir keiner der Kirchgänger von dem Todesvogel Notiz zu nehmen.

      Die Flammen der Talgkerzen ließen Milanas Antlitz wie Bernstein erstrahlen. Ihre Augen funkelten wie die erlesenen Diamanten an ihren Fingerringen. Als sie sich über die Phiole beugte und dem rötlich-braunen Fluidum zerriebene Bärengalle beimischte, fiel ihr das schwarze Haar übers Gesicht. Beißender Gestank stach ihr in die Nase, sodass sie sich abwendete. Nachdem die Sanduhr abgelaufen war, füllte sie das blubbernde Elixier in eine Flasche ab. Die rußgeschwärzte Kammer, die Leonardo da Vinci für sie gemietet hatte, war bis unter die Decke vollgestopft mit Kisten und Kästen, mit Tiegeln und Töpfen, in denen sich Alraune, Arsenik, Quecksilber und dergleichen befanden.

      Milana eilte mit dem Elixier aus dem Haus, schwang sich auf den Rücken des Wallachs und ritt mit flatterndem Kapuzenumhang am Tiber entlang zu einem von Roms Galgenplätzen. Der Mond puderte das violette Dunkel des Flusses mit silberner Helligkeit. Der Inhalt des von Meister Leonardo in Spiegelschrift abgefassten Pergaments schoss ihr im Stakkato durch den Kopf:

       Das von mir untersuchte Linnen mit dem Fischgrätmuster zeigt die Blutspuren eines Gekreuzigten, haut Pabst Leo X. wurde das Linnen bei Grabungsarbeiten in einem geheimen Bogengrab in Jerusalem entdeckt, und über Umwege gelangte es in die Hände des Heiligen Stuhls. Die Nagelwunden auf dem Tuch verlaufen über Fußrücken und die Handgelenke, die Unterschenkel weisen Brüche auf. In einer Ecke auf der Geweberückseite befindet sich die Inschrift Jesus Nazarenus Rex Iudaeorum (…) Weshalb ich von Euch ein Elixier erbitte, das die Blutgerinnung einer frischen Leiche um ein paar Stunden verzögert, da Tote, wie Ihr ja wisst, üblicherweise nicht zu bluten pflegen (…) Mein Schüler Boltraffio wird Euch eine Stunde vor Sonnenaufgang bei dir Blutbuche erwarten.

      Der Eure, L

      Giovanni Boltraffio, der Malerlehrling da Vinics, wartete bereits am vereinbarten Treffpunkt. Unruhig trat der Rotschopf von einem Fuß auf den anderen, als Milana auf dem Pferd heranpreschte. Sie stieg ab, händigte dem Jungen das Elixier aus und wies ihn an: »Boltraffio, höchste Eile ist geboten! Donadini muss die ganze Flasche noch in seiner Zelle austrinken, sonst kann das Mittel die Wirkung nicht voll entfalten, verstehst du?«

      Er nickte eifrig: »Gewiss, Milana, gewiss.« Und schon hatte er sich mit der Flasche aus dem Staub gemacht.

      Die Magierin hörte den Wallach wiehern.


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