Das Duell des Herrn Silberstein. Horst Bosetzky
glücklich darüber, ein Converso zu sein, war er allerdings nicht, zumal viele seiner jüdischen Freunde und Bekannten, wenn sie auch nicht gleich mit ihm brachen, zornig auf ihn waren, Tharah Seligsohn allen voran. Immer wieder brachte er es zur Sprache.
»Nu, erinnerst du dich nicht mehr an das, was in Spanien mit den Conversos passiert ist?!« Tharah Seligsohn meinte die Zeit um 1400, als infolge sozialer Unruhen und Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung viele tausend Juden zwangsgetauft wurden. Angeregt vom Gegenpapst Benedikt III., hetzten die Prediger die Spanier auf, die Juden zum Christentum zu zwingen. Viele der Conversos stiegen dann auch wirklich auf und bekleideten hohe Ämter in Kirche und Staat. Bekannt war der Dialog, den es zwischen Pedro de la Cavalleria, dem Finanzminister von Aragón und Berater von Alfonso V., und einem Juden gegeben hatte: »Warum warst du so erpicht darauf, ein Christ zu werden, obwohl du in unserem jüdischen Gesetz so bewandert bist?« – »Sei still, Dummkopf! Konnte ich als Jude hoffen, zu einer höheren Position als ein Rabbi aufzusteigen? Wegen eines Gekreuzigten erhalte ich jetzt solche Ehren, und ich befehle in der Stadt Saragossa. Wenn ich am Versöhnungsfest fasten will, wer kann mich daran hindern?« Und Tharah Seligsohn ließ es sich nicht nehmen, dem Freund seines Schwagers zu erzählen, wie übel die Sache ausgegangen war: »Unter den Altchristen gab es Neid und Missgunst, als die Conversos sich hoher Stellungen und großen Reichtums erfreuten – und was machten sie? Sie brachten viele um.« Insbesondere jene getauften Juden, die sie für Marranos hielten. Mit diesem Schimpfwort – abgeleitet von »Schwein« – belegten die Spanier während der Inquisition von 1481 die Neuchristen, die weiterhin heimlich ihrer alten Religion anhingen.
Aaron Silberstein kannte das und fühlte sich eher gelangweilt davon. »Und weißt du, was mein Schwager immer sagt, wenn wir auf dich zu sprechen kommen?«
»Klar.« Blumenow lachte. Dann musterte er Aaron mit einem spöttischen Blick. »Ich weiß genau, warum du nicht gerne hinhörst, wenn ich davon erzähle, überhaupt darauf zu sprechen komme, dass ich konvertiert bin … Na?«
»Keine Ahnung«, sagte Aaron, obwohl er genau wusste, worauf der Freund hinauswollte.
»Du möchtest es auch, wagst es aber nicht und freust dich klammheimlich, wenn dein Vater auf mich einschlägt. Warum? Weil du mir meinen Mut neidest und erbost über dich bist, denn immer nur zu zögern und zu zaudern ist wenig heldenhaft. Und du musst mein Verhalten grässlich finden, um ein Argument dagegen zu haben, es auch zu tun.«
Aaron wollte auffahren, besann sich aber, weil er sich eingestehen musste, dass der Freund nicht ganz im Unrecht war. Schnell wechselte er das Thema. »Ehe ich’s vergesse, abgelenkt von der Sache mit Rosentreter: Der Dr. Stieber war bei uns zu Hause.«
»Als Gast?« Blumenow sah ihn verständnislos an. »Dein Vater ist doch Baumeister und kein Lumpenhändler.«
»Nicht als Gast war Dr. Stieber bei uns, sondern zur Hausdurchsuchung – und ich bin mir sicher, dass er deinetwegen da war.«
Blumenow schmunzelte. »Ist doch schön, wenn man in einem solchen Maße ernst genommen wird. Je brutaler die Reaktion zuschlägt, desto größere Chancen haben wir. Die preußische Regierung riecht den Atem der Revolution inmitten der scheinbaren Apathie und greift an. Aber damit bewirkt sie nur, dass sich der passive Widerstand in einen aktiven wandelt.«
Aaron Silberstein war hellhörig geworden. »Das klingt mir aber sehr nach diesem … Marx – wie hieß er noch mit Vornamen?«
»Heißt! Noch lebt er ja. Wenn auch in England. Karl, Karl Marx.« Er erinnerte sich gern an die marxsche Polemik, die preußische Führung betreffend. Friedrich Wilhelm IV. hatte er von London aus einen »imbezillen König« genannt und Ferdinand von Westphalen, den Innenminister, einen »schwachköpfigen und fanatischen Reaktionär« und hinzugefügt, er habe genügend Gelegenheit gehabt, die Geisteskraft dieses Mannes richtig einzuschätzen, da er sein Schwager sei. »Und weißt du auch, wer beim Kölner Kommunistenprozess, über den Marx sich so aufgeregt hat, einen Meineid nach dem anderen abgelegt hat, um damit Karriere zu machen?«
Aaron Silberstein wusste es. »Ja, unser lieber Dr. Stieber. Und gleich nachdem er in Berlin Polizeidirektor geworden ist, Hinckeldeys rechte Hand, hat er alle verhaften lassen, die Kalabreserhüte aufhatten, weil er geträumt hatte, daran würde man die Revolutionäre erkennen.«
»Die nächste Revolution wird etwas auf sich warten lassen«, sagte Blumenow. »Erst wird es ein paar Kriege geben. Preußen als Großmacht – wie soll das gut gehen?«
Aaron Silberstein winkte ab. »Du, es gibt schlimmere Länder.«
Blumenow lachte. »Wenn du Glück allein als die Summe des Unglücks verstehst, dem man entgangen ist, dann schon. Aber wenn man unser Dasein an den Utopien misst, an Bacon, Morus, Campanella … Ich kämpfe jedenfalls dafür!«
»Und ich bin der Advokat, der dich dann wieder aus dem Gefängnis holt.«
Damit verabschiedeten sich die Freunde, und Aaron Silberstein machte sich daran, die letzten Meter bis zum Eingang seiner kleinen Kanzlei zurückzulegen. Das Fenster war etwas geöffnet, und er sah Menuchim Halbleib, seinen Schreiber und Gehilfen, weit nach vorn gebeugt am Pult stehen und eifrig die Feder ins Tintenfass tunken, um lange Sätze zu Papier zu bringen. Er liebte den alten Kauz, der alleinstehend war und eine kleine Wohnung in der nahen Sperlingsgasse gemietet hatte. Sie begrüßten sich und besprachen einen Rechtsstreit, bei dem es um das Zugangsrecht zu einer Wiese am Stralauer Thor ging. Gerade wollte er sich in sein kleines Bureau zurückziehen, da stand Katharina Rosentreter in der Tür. Er eilte auf sie zu.
»Ist dein Vater wieder … hat er sich wieder …« Er stockte, weil er das rechte Wort so schnell nicht fand. »Angefunden« hätte merkwürdig geklungen.
»Nein.« Katharina Rosentreter setzte sich auf den Besucherstuhl.
»Dürfen wir Ihnen etwas reichen, mein Fräulein?«, fragte Halbleib mit einer so tiefen Verbeugung, dass es in seiner Wirbelsäule hörbar knackte.
»Danke, mir ist jeglicher Appetit vergangen.«
»Vielleicht ein Glas Wasser?«
»Nein, erst wenn ich in Ohnmacht falle.«
Aaron Silberstein setzte sich neben sie, dabei aber um so viel Abstand bemüht, dass kein Außenstehender auf die Idee kommen konnte, hier würden Brautleute miteinander plaudern. Nichts drängte ihn auch, ihr nahe zu sein und ihren Körper zu umfangen. Zu hager und knochig war sie ihm und roch irgendwie nach Mottenpulver statt nach Pariser Parfum. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«
»Bei der Polizei haben sie mich sehr herablassend behandelt.«
»Ich muss nachher sowieso zur Polizeidirektion, da werde ich sehen, was ich für dich tun kann. Wann hast du ihn denn zum letzten Mal gesehen?«
Katharina Rosentreter überlegte einen Augenblick. »Am Dienstagnachmittag gegen drei. Da ist er aus dem Haus gegangen. In dringenden Geschäften. Mehr hat er mir nicht gesagt.«
»Und du kannst dir auch nicht denken, zu wem er wollte?«
»Nein, darüber hat er nie mit mir gesprochen. Und an wen er Geld verliehen hat, das steht in einer dicken Kladde, die er immer in seinem Rock stecken hat.«
Halbleib drehte sich zu ihnen herum. »Eine Reise hat er nicht antreten wollen?«
»Nein, nicht dass ich wüsste.«
Die Sache war mysteriös, und Aaron Silberstein konnte sich keinen Reim auf Rosentreters Verschwinden machen. Er wusste nur: Geldverleiher wie er leben stets gefährlich.
DIE FÜNFZIGERJAHRE des 19. Jahrhunderts waren geprägt vom Scheitern der deutschen Revolution von 1848. Die Blütenträume vom liberalen Verfassungsstaat waren ausgeträumt, die Reaktion hatte auf ganzer Front gesiegt. König Friedrich Wilhelm IV. indes war, bedingt durch seine Geisteskrankheit, immer weniger in der Lage, das Land zu regieren. Es verfiel in eine Art Winterschlaf.
In Berlin hatte sich die demokratische Linke, organisiert in der »Volkspartei« und den »Demokratischen Volksvereinen« und mit Benedikt Waldeck als Galionsfigur,