Tödliche Zeilen. Uwe Schimunek

Tödliche Zeilen - Uwe Schimunek


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      Kutscher ging durch den Kopf, dass er solch ein Ungetüm von Satz niemals niederschreiben würde. Kein Leser würde glauben, dass tatsächlich jemand derart spricht. Doch Fräulein Radas Satz verwunderte ihn weniger als die Mimik, die ihn begleitete. Das Fräulein flötete regelrecht und feixte wie am Geburtstagstisch, obwohl das Gesagte doch Ärger ausdrückte. Diese Diskrepanz zwischen Form und Inhalt irritierte Kutscher. Er antwortete: »Wie ich Ihren Dramaturgen kenne, wird bei ihm nichts so heiß gegessen, wie er es gern kochen würde. Davon abgesehen: Das Stück, an dem Zeitlitz nichts auszusetzen hat, muss erst noch geschrieben werden.«

      »Ach, mein lieber Herr Kutscher, Sie können die Sache leichtnehmen. Sie haben es ja rechtzeitig geschafft, sich aus der Reichweite von Zeitlitz’ harter Hand zu entfernen.« Die Rada zog die Augenbrauen zusammen und schaute ihn forschend an. »Vermissen Sie den Trubel am Theater nicht manchmal?«

      »Ich kann ja jederzeit zum Theaterplatz schlendern und ins Haus gehen«, antwortete er. »Meist reicht mir Ersteres schon.«

      »Ach, darum beneide ich Sie.« Die Rada seufzte. Der Kellner trat an den Tisch, stellte Kutscher den Kaffee vor die Nase und fragte, ob alles zu ihrer Zufriedenheit sei. Kaum trabte der Ober davon, quasselte die Rada schon weiter. »Ach nein, wenn ich’s mir genau überlege, würde mir etwas fehlen, wenn mein Name nicht mehr auf den Plakaten stünde und die Zuschauer mir keine Blumen mehr schenken würden.«

      »Blumen erhielt ich nicht, als mein Stück am Alten Theater aufgeführt wurde. Und mein Name war in derart winzigen Lettern auf dem Plakat abgedruckt, dass ich ihn selbst beinahe übersehen hätte.«

      »Immerhin war es Ihr Name.« Die Schauspielerin lachte. »Aber ich gebe gern zu, dass sich der Schriftzug Tom Tock auf Ihren Romanen ausgesprochen gut macht.«

      Kutscher nippte an seinem Kaffee. Er brauchte einen Moment, um eine Antwort auf die Neckerei der Rada zu finden. Glücklicherweise schwieg sie lange genug. Schließlich stellte er die Tasse ab und sagte: »Jedenfalls bereitet mir die Arbeit Freude. Das scheint mir bei Ihnen nicht uneingeschränkt der Fall zu sein, meine Liebe.«

      Die Schauspielerin seufzte und schaute ihn mit einem Blick an, der sogar bei einem Scharfrichter Mitleid ausgelöst hätte. »Da sagen Sie etwas, mein lieber Herr Kutscher. Noch vor ein paar Jahren hätte ich mich als ungebundene junge Schauspielerin einfach um ein anderes Engagement bemüht. Doch nun möchte ich die Stadt und vor allem Ihren Freund Edgar nicht mehr missen.« Sie senkte den Blick. »Was soll ich nur tun?«

      »Am besten, Sie reden mit Edgar darüber«, schlug Kutscher vor. Dabei kam ihm die Leiche wieder in den Sinn. Auch er verspürte das dringende Bedürfnis nach einer Konversation mit seinem Freund Edgar Wank. Gleich nach dem Kaffee wollte er ihn aufsuchen.

      Edgar Wank verließ das Redaktionsgebäude der Leipziger Zeitung und trat auf die Poststraße. Obwohl es erst kurz nach halb fünf Uhr nachmittags war, dämmerte es schon. Wank schloss seinen Überzieher bis zum Kragen, dennoch kroch die Kälte unter den Stoff. Zum Glück hatte er es nicht weit, seit er in das Zimmer in der Karlstraße gezogen war. Nun musste er sich auf dem schmalen Gehweg durch die Passanten kämpfen, die zum Feierabend gen Augustusplatz strömten. Manch einer kehrte nach getaner Arbeit noch in eine Gastwirtschaft in der Innenstadt ein. Die meisten Arbeiter und Angestellten stiegen allerdings in die Bimmel und fuhren nach Hause.

      Ein paar Meter vor ihm löste sich ein Mann von der Hauswand. Er kam Wank seltsam bekannt vor. Dieser Gang, der Mantel, der auch im Zwielicht noch schimmerte, die langen Haare unter der Melone … Wie kam Thomas Kutscher hierher?

      »Da bist du ja endlich«, rief der Freund.

      Wank blieb stehen und wartete, bis Kutscher bei ihm war und ihm die Hand entgegenstreckte.

      Noch während des Handschlags sagte der Freund: »Ich muss dir unbedingt etwas zeigen. Komm mit!«

      »Können wir das nicht bei mir besprechen?« Wank stellte den Kragen seines Mantels hoch. »Es herrscht eine Hundekälte, und ich wohne gleich um die Ecke, wie du weißt.«

      »Glaub mir, du willst das sehen.« Kutscher klang aufgeregt und zog ihn am Ärmel die Poststraße hinunter.

      »Wo, um alles in der Welt, willst du mich denn hinschleppen?«, fragte Wank und schüttelte die Hand des Freundes ab.

      »Nur noch ein kleines Stück. Es liegt fast auf deinem Heimweg, Edgar.«

      Inzwischen hatten sie die Querstraße erreicht. Kutscher bahnte sich wortlos einen Weg zwischen den Menschen hindurch. Wank hatte Mühe, ihm zu folgen. Die wenigen Meter bis zum Johannisplatz japste er hinter Kutscher her. Die Johanniskirche warf lange Schatten in Richtung der Dresdner Straße, in die Kutscher ohne Umschweife einbog. Das Gedränge auf dem Trottoir ließ langsam nach.

      Wank schloss zum Freund auf und zischte: »Nun sag mir endlich, wo wir hingehen und warum!«

      »Hab doch Geduld, Edgar! Es sind nur noch ein paar Hundert Meter. Du wirst Augen machen!« Kutscher flitzte die Dresdner Straße stadtauswärts, als wäre er auf der Flucht vor dem Leibhaftigen. Über dem Johannisfriedhof leuchtete schon die Mondsichel und verlieh der Dämmerung eine gespenstische Note.

      Kutscher überquerte die Inselstraße und rief: »Gleich da vorn ist es!«

      Auf den zwanzig Metern bis zur nächsten Straßenecke begegnete ihnen lediglich eine Gruppe von Arbeitern. Kutscher bog in die Blumengasse und zeigte auf das Portal eines Geschäftshauses. »Dort vorn war es. Da habe ich den Kerl gefunden.« Aufgeregt berichtete er über den toten Literaturkritiker, dessen zertrümmerten Schädel und die Polizisten, denen er bereits Rede und Antwort gestanden hatte. Schließlich deutete er auf den Blutfleck, der immer noch auf dem Pflaster zu erkennen war. »Seltsamerweise wehte kaum ein Lüftchen. Wie soll sich da ein Ziegel vom Dach gelöst haben?«

      Wank betrachtete das Blut und murmelte: »Hier lag dann wohl der Kopf. Wo waren die Füße? Wie herum lag der tote Herr?«

      »So herum«, antwortete Kutscher und deutete an, dass der Leichnam mit den Füßen in Richtung Dresdner Straße gelegen habe.

      Etwas an Kutschers Beschreibung erschien Wank seltsam, so als würde ein Detail aus einem anderen Bild stammen. Wank hob den Hut und kratzte sich an der Stirn. Die Kopfbedeckung, das war es! »Der Hut des Herrn war völlig unversehrt?«

      »Der Hut wird ihm wohl vom Kopf geweht worden sein, bevor der Stein ihn traf.«

      »Sagtest du nicht, es herrschte Windstille?«, entgegnete Wank.

      »Hm«, brummte Kutscher. »Das ist in der Tat seltsam.«

      »Und wo, meintest du, lag der Hut des Herrn?« Kutscher zeigte ein paar Meter weiter in Richtung Dresdner Straße. »Dort.«

      »Ach du lieber Gott! Hast du das auch Machuntze gesagt?«

      »Was?« Kutscher blickte drein wie ein Bengel, der von der Mutter beim Stibitzen eines Bonbons erwischt worden war. »Der Kommissar hat mich nicht danach gefragt. Warum willst du das wissen?«

      »Stell dir vor, der verblichene Herr hat jemanden getroffen und seinen Hut gezogen, bevor ihn der Stein traf. Und während er dann stürzte, ließ er ihn fallen. Wo wäre der dann gelandet?«, fragte Wank, tippte an seine Krempe und hob dann seinen Hut. Er zeichnete mit der Hand in der Luft die Fluglinie der Kopfbedeckung nach.

      Kutscher drehte den Kopf und folgte Wanks Handbewegung – hin zu der Stelle, an der er den Hut gefunden hatte.

      Wank merkte, wie bei seinem Freund der Groschen fiel.

      »Wenn Orlog jemandem begegnet ist, vor dem er den Hut gezogen hat, dann hat der ihn vielleicht auch mit dem Stein angegriffen«, murmelte Kutscher. »Das wäre Mord.«

      »Es sieht so aus«, bestätigte Wank.

      »Stellt euch vor, meine Freunde, ich habe dem Verblichenen im vergangenen Jahr eines meiner Gedichte angeboten!«, rief Thomas Kutscher. Er musste ziemlich laut sprechen, um das Gemurmel in der »Elster-Klause« zu übertönen, denn zu dieser Abendstunde war in der Schankwirtschaft jeder Platz besetzt.


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