Tödliche Zeilen. Uwe Schimunek
notieren. Er hatte das Gefühl, Bollmann müsse nicht zum Weiterreden gedrängelt werden.
Tatsächlich fuhr Bollmann fort, so leise, dass die Worte beinahe im Redaktionsgemurmel untergegangen wären: »Allerdings, allerdings … Mir ist letztens noch etwas anderes zu Ohren gekommen. Man munkelt in der Leipziger Literaturwelt, die Bacchus-Blätter seien finanziell etwas in Schwierigkeiten geraten. Nur das Wohlwollen der Bank habe ihr Erscheinen gesichert. Doch ich betone: Das sind Gerüchte. Gerüchte. Schwer zu belegen.«
Wank schrieb das Wort Bank auf und klappte sein Notizbüchlein zu. »Das ist ein wertvoller Hinweis. Dem kann ich nachgehen.« Er streckte dem Kollegen seine Hand entgegen. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben! Vielleicht haben Sie ja in den nächsten Tagen noch einmal ein paar Minuten für mich. Bestimmt ergeben sich noch weitere Fragen. Doch jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten, Herr Bollmann.«
»Fragen Sie nur, fragen Sie nur – später«, sagte der Kulturredakteur und verabschiedete sich.
Wank eilte ebenfalls von dannen. Für die Bearbeitung der Papiere zu Karl May blieb ihm nicht mehr viel Zeit.
Das Pflaster der Blumengasse lag zu Thomas Kutschers Füßen. Nicht einmal 24 Stunden hatte es gedauert, und der Schneematsch war vollständig verschwunden. Der Blutfleck am Fundort der Leiche hatte zwar deutlich an Kontur verloren, zeichnete sich aber immer noch auf den Steinen ab.
Kutscher blickte über die Fassade des Hauses vor ihm. Die Druckerei des Verlags Rollnik leuchtete rot. Der Klinkerbau mochte fünf bis sechs Jahre alt sein, höchstens zehn. Eigentlich sollte das Dach nach so kurzer Zeit noch intakt sein, und es dürften sich keine Ziegel lösen, überlegte er. Andererseits gingen Dinge manchmal vor ihrer Zeit kaputt. Doch das ließe sich leicht überprüfen. Er musste nur auf das Dach der Fabrik gelangen. Dort würde sich zeigen, ob ein Ziegel fehlte oder nicht.
Das Druckereigebäude zog sich über etwa zwanzig Meter an der Blumengasse entlang. Kutscher schlenderte über das Trottoir und blickte immer wieder an der Hauswand empor. Der Bau mochte so hoch sein wie ein zweigeschossiges Wohnhaus. Es drangen kaum Geräusche von den Maschinen nach draußen. Allenfalls leises Zischen und Klackern ließen ahnen, dass im Innern gearbeitet wurde. Vom Schornstein stieg eine graue Rauchwolke auf. Zart entschwand sie in den heiteren Winterhimmel, wie der Rauch aus einer zu groß geratenen Tabakpfeife. Nichts wirkte bedrohlich. Und doch beschlich Kutscher ein seltsames Gefühl. Wenn ein Ziegel vom Dach gefallen war, konnte sich dann nicht auch ein weiterer lösen? Vielleicht genau zu dem Zeitpunkt, an dem er über den Fußweg lief? Zwar erschien ihm das unwahrscheinlich, dennoch beschleunigte er seine Schritte.
Eine Hofeinfahrt trennte die Druckerei vom Verlagsgebäude. Neben der schmucklosen Werkhalle wirkte das Verlagshaus wie eine fürstliche Residenz: Freitreppe vor der tiefbraunen Flügeltür mit Klopfringen, Stuck an den Fenstersimsen, eine Engelsstatue mit einem Buch in der Hand an der Traufe der Dachrinne. Das Haus strahlte Noblesse aus – hier wurde gedacht, die niederen Arbeiten erfolgten im schlichten Nebengebäude.
Kutscher blickte in den Hof. Aus einer Mülltonne quoll Papier, unter einem Holzverschlag ruhte ein Kohlenhaufen. Kein Mensch war zu sehen. Kutscher schlich durch die Einfahrt und nahm die Rückseite des Druckereigebäudes in Augenschein. An der Rückwand der Halle führte eine eiserne Feuerleiter an einem Fenster vorbei nach oben. Von dort würde er auf das Dach gelangen, ohne die Werkhalle betreten zu müssen. Sollte er es wagen?
Um diese Uhrzeit arbeiteten sicher Dutzende Arbeiter in der Halle. Und im Verlagshaus weilten Lektoren und Buchhalter zuhauf, vermutlich auch Rollnik selbst. Wie sollte er seine Neugier erklären, wenn er zur Rede gestellt wurde? Bevor er das Für und Wider abwägen konnte, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.
»Herr Kutscher, Sie sind einen Tag zu früh.« Fräulein Helene Seidel stand in der Hintertür des Verlagsgebäudes und strahlte ihn an.
Er trat auf die Vorzimmerdame zu. »Es ist nur …« Vier, fünf Schritte blieben ihm noch, sich eine Antwort einfallen zu lassen … »Nun ja, eigentlich bin ich wegen des gestrigen tragischen Vorfalls noch einmal in die Blumengasse gekommen.«
»Sie wissen schon davon?«
»Ich selbst habe den armen Kerl gefunden.«
»Oh!« Das Lächeln wich aus Fräulein Seidels Antlitz. »Das war sicher schrecklich.«
»Herr Orlog sah wahrlich nicht gut aus«, bestätigte Kutscher. Er nahm ihre Hand und deutete einen Handkuss zur Begrüßung an.
Fräulein Seidel schlug die Augen nieder. Sie rang offensichtlich nach Worten, sodass Kutscher ihr am liebsten ein Stichwort gegeben hätte. Doch er schwieg, und die Zeit schien so langsam zu verrinnen wie ein zäher Lavafluss.
Schließlich sagte Fräulein Seidel leise: »Nicht einmal eine halbe Stunde, bevor Sie das Verlagshaus verließen, habe ich den Herrn noch verabschiedet.« Sie seufzte und fügte mit belegter Stimme hinzu: »Herr Orlog war, weiß Gott, nicht nur ein Freund des Verlags Rollnik. Dennoch, so ein Ende hat niemand verdient. Zumal er auch ein Kunde unserer Druckerei war und seine Zeitschrift bei uns herstellen ließ.«
Kutscher zog ein Taschentuch aus seinem Jackett und reichte es der Dame. Dabei sprach er immer noch kein Wort. Weinende Frauen verschlugen ihm stets die Sprache.
Fräulein Seidel schluchzte ein »Danke« und tupfte sich die Augen ab. »Wenn Sie mit der Polizei zu tun hatten, wissen Sie sicher auch um unsere missliche Situation.«
Kutscher schüttelte stumm den Kopf.
»Seit gestern Nachmittag kommen immer wieder Polizisten zu uns in den Verlag. Sie befragen die Angestellten und Arbeiter. Vor allem aber untersuchen sie unser Dach. Zeitweise mussten wir sogar die Druckmaschinen abstellen.« Fräulein Seidel gewann mit jedem Wort ein bisschen mehr die Fassung zurück. Schließlich klang ihre Stimme beinahe trotzig. »Ich möchte mir lieber nicht ausmalen, was es für unseren Verlag bedeutet, wenn die Beamten uns wegen des tödlichen Dachziegels eine Fahrlässigkeit attestieren würden.«
Kutscher schaute zur Werkhalle hinüber. Ob die Polizisten auch jetzt auf dem Dach Untersuchungen betrieben? Nicht auszudenken, wenn sie ihn beim Herumschnüffeln erwischt hätten! Er wandte sich wieder der Dame zu. »Bitte seien Sie sicher, dass meine Gedanken bei Ihnen sind. Ich werde Sie nicht weiter behelligen. Zumindest bis morgen.«
»Vielen Dank, Herr Kutscher.« Fräulein Seidel reichte ihm das Taschentuch zurück und verabschiedete sich.
»Das ist er«, flüsterte Edgar Wank und wies mit seinem Notizbuch in der Hand Richtung Tür.
Sein Freund Thomas Kutscher saß neben ihm im großen Saal des Reichsgerichts und murmelte: »Tatsächlich, der Schriftsteller Karl May.«
Ein Raunen ging durch die Reihen, als May den Gang entlangschritt. Er trug einen hochgeschlossenen schwarzen Anzug, im Kragen steckte ein sorgfältig gefaltetes Tuch. Den Hut hielt er in der Hand. Über seiner hohen Stirn fiel das Haar in grauen Strähnen bis über die Ohren. Obwohl er gebeugt ging, strahlte er eine enorme Autorität aus. Das lag aber vielleicht nur daran, dass ihm in gemessenem Abstand ein Anwalt in schwarzer Robe und weitere Gäste folgten.
Der Schriftsteller schaute sich im Saal um. Für einen Moment blickte er Wank an. Trotz der tiefen Tränensäcke sahen Mays Augen wie die eines viel jüngeren Mannes aus. Wank nickte dem Schriftsteller zu, und auch May bewegte den Kopf ein kleines bisschen. Dann ließ er seinen Blick wieder schweifen.
Der Anwalt berührte Mays Arm und wies ihm den Weg zur Bank, an der die Kläger ihren Platz hatten.
»Ich wünsche ihm so sehr, dass er gegenüber diesen Halsabschneidern sein Recht bekommt«, zischte Kutscher.
Es war nicht nötig, besonders leise zu sprechen. Denn immer noch strömten Menschen in den Gerichtssaal, und in den Rängen tuschelten die Zuhörer.
Auf der Anklagebank umringten mehrere Herren eine ältere Dame. Wank konnte sie kaum sehen, da die Männer ihm die Sicht versperrten. Es musste sich um Pauline Münchmeyer handeln, die Witwe des bereits vor fünfzehn Jahren verstorbenen Verlegers Heinrich Gotthold Münchmeyer.
Wank