Tödliche Zeilen. Uwe Schimunek

Tödliche Zeilen - Uwe Schimunek


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Wirt das Bier abstellte, nickte er höchstens kurz. Den Neuen konnte Kutscher noch nicht richtig einschätzen. Der hatte sich als Hans Pöttger, Pöttiger oder Pötticher vorgestellt. Anscheinend war er jahrelang zur See gefahren und gerade erst nach Leipzig zurückgekehrt, um eine Stelle als Kommiss anzutreten. Gedichte verfasste er zumeist nachts. Hartmann redete indes gern und sich häufig auch in Rage. Wenn er jetzt den Mund hielt, dann wohl nur, weil er noch weitere Details über den mysteriösen Tod des Literaturkritikers hören wollte.

      Also fuhr Kutscher fort: »Ich habe soeben noch einmal zu Hause nachgeschaut. Die Absage war in einem Ton verfasst, als handelte es sich um eine Amtssache. Immerhin hat der Herr mir zugesagt, dass ich ihm gelegentlich eine Arbeit zu einem anderen Thema einreichen dürfe.«

      Der Ober kam mit einem Tablett Bier. Kutscher leerte schleunigst seinen Humpen und nahm den neuen entgegen. Hartmann, der Neue und Lutemüller taten es ihm gleich.

      Kutscher hob den vollen Bierkrug in die Höhe und stieß mit den anderen Dichtern auf die Kunst an. Sie tranken und ließen anschließend die Humpen auf die Tischplatte krachen. Kutscher spürte, wie ihn die anderen erwartungsvoll anschauten, deshalb fügte er an: »Ansonsten kann ich nicht viel über Orlog berichten. Mit den Detektivromanen eines Tom Tock hätte der Herr sich in seinem feinen Blatt niemals beschäftigt. Bestimmt hatte er noch nie von ihnen gehört. Und wenn, dann ahnte er mit Sicherheit nicht, dass diese und meine Gedichte aus derselben Feder stammen.«

      »Nun ja …« Hartmann guckte auf seinen Krug, als wäre dort notiert, was er sagen wollte. »Über andere Kolportageautoren wusste er ziemlich gut Bescheid.«

      »Ich schreibe keine Kolportage«, knurrte Kutscher. »Meine Romane werden in ordentlichen Geschäften verkauft. Nur weil sie beliebt sind, handelt es sich noch lange nicht um Schund.«

      »Jaja.« Hartmann winkte ab. »Zu einer Fehde mit den Edelfedern bei den hochrangigen Blättern reicht es bei dir aber nicht.«

      Kutscher wusste nicht so recht, worauf Hartmann hinauswollte.

      »Hast du die Artikelserie über die Charakterschwäche des Schriftstellers Karl May nicht verfolgt?«

      Kutscher schüttelte den Kopf.

      »Mensch, Thomas! Orlog ist monatelang über den armen Kerl hergezogen, in übler Weise, wie über einen Todfeind. Ich habe die Zeitschriften zu Hause. Ich borge sie dir gern zur Lektüre.«

      »Unbedingt!«

      »Freilich lässt sich eine Feindschaft auch gar trefflich durch Ignoranz begründen«, warf der Neue ein und lächelte dabei milde. »Wenn der Kerl sich mit anderen einen Krieg leistet, wäre ich jedenfalls schwer beleidigt, wenn ich diesem Schnösel nicht einmal einen Verriss wert wäre.«

      »Feindschaft ist ein großes Wort«, murmelte Kutscher.

      »Wer soll das große Wort denn führen, wenn nicht wir Dichter!« Hartmann schlug mit der Faust auf den Tisch.

      »Nun, ich glaube kaum, dass Orlog außerhalb der Dichterkreise viele Freunde hatte«, erwiderte Kutscher. »Wenn beim Rollnik-Verlag oder in der verlagseigenen Buchhandlung das Wort auf Orlogs Kritiken kam, habe ich kaum Begeisterung vernommen.«

      »Viel Feind, viel Ehr!« Hartmann hob seinen Humpen und rief: »Darauf ein Prost!«

      Kutscher stieß mit den Freunden an. Während das Bier seine Kehle hinunterrann, dachte er nach. Wenn hier über Feinde eines Mordopfers – und ein solches war Orlog wohl – geredet wurde, sprachen sie dann auch über Verdächtige? Vermutlich hatte jeder an diesem Tisch mindestens eine Absage von Orlog in der Schublade des heimischen Sekretärs liegen.

      Kutscher stellte seinen Bierkrug ab und sagte: »In diesem Falle könnte es auch heißen: Viel Feind, sehr tot.«

      »Ein paar von meinen Gedichten hat der Knilch immerhin abgedruckt«, warf Hartmann ein und wandte sich an den Neuen. »Deinen Namen habe ich in den Bacchus-Blättern auch schon lesen dürfen.«

      »Mag sein.« Der Neue sprach so leise, dass er im Kneipenlärm gerade kaum noch zu verstehen war. »Dennoch, auf hoher See kannten wir nur zwei Sorten von Fieslingen.«

      »Ach«, sagte Kutscher verwundert, »und welche?«

      »Nun, die einen waren skrupellose Kapitäne oder Steuermänner. Sie regierten auf den Schiffen mit eiserner Faust. Denen kam keiner zu nahe. Die anderen jedoch …« Der Neue grinste und machte eine kurze Pause. »Die anderen hatten keine Macht. Und die gingen häufig nachts bei einem tragischen Unfall über Bord.«

      Kutscher bemerkte, dass Hartmann und Lutemüller den Seefahrer anguckten wie zwei Kinder den Märchenonkel.

      Dann fuhr der Neue mit gesenkter Stimme fort: »Da war zum Beispiel dieser Matrose, der sich jeden Mittag eine doppelte Portion nahm. Die ganze Mannschaft war erbost über ihn. Eines Nachts hörte ich vom Achterdeck einen Schrei und dann ein Platschen … Da hatten die Fische etwas zu futtern. Niemand hat je erfahren, was genau passiert ist.«

      Kutscher lachte und nahm seinen Humpen in die Hand. »Das ist ja ein hübsches Seemannsgarn.« Er zögerte einen Moment. »Oder?«

      »Wenn ich das verraten würde«, antwortete der Neue mit einem Spitzbubenlächeln, »bräuchte ich ja keine Geschichten mehr zu erzählen.«

       Wie einfach das ist! Ich bin nicht das kräftigste Geschöpf unter Gottes Himmel. Doch ein Schlag mit dem rechten Werkzeug reicht. Schon geht ein Mensch zu Boden und steht nie wieder auf. Bis vor wenigen Stunden habe ich mir vorgestellt, wie ich wieder und wieder auf einen Kopf einhaue. In Wahrheit ist das gar nicht nötig. Es kommt nur auf die Schärfe des Hiebinstruments an.

       Bis vor Kurzem hätte ich zudem erwartet, dass mein Gewissen mich hernach quält. Doch nun verspüre ich keinerlei Schuldgefühle. Es hat den Rechten getroffen. Ich tat, was zu tun war.

       Es geht mir gut. Selten fühlte ich mich derart rechtschaffen müde. Was für ein schöner Tag!

      Mittwoch, 9. Januar 1907

      Lassen Se mich schaun«, sagte Machuntze in seinem breiten Sächsisch und blätterte die Unterlagen auf seinem Schreibtisch durch. Auch wenn der Beamte vor einem Jahr zum Polizeikommissar befördert worden war, oblag ihm weiterhin die Aufgabe, Edgar Wank mit Informationen für die Rubrik Polizeiliches aus Leipzig zu versorgen. Dafür war der Redaktionsdirektor höchstpersönlich in der Behörde vorstellig geworden. Machuntze tippte auf ein Blatt und fuhr fort: »De Welt wird immer verrüggder, mei Liebor. Hörn Se sich de Geschichte von dem Mädchen an.« Er berichtete, dass ein zwölfjähriges Mädchen in der Eisenbahnstraße kleinen Kindern das Geld abluchste, mit dem sie zum Einkaufen geschickt worden waren. »’ne Zwölfjährige! Um so was müssn mer uns nunne gümmern. Als wärn mir’n Gindergarden.«

      »Was trug die kleine Gaunerin denn für Kleidung?«, fragte Wank, während er die Fakten notierte.

      Machuntze hielt sich die Unterlagen näher vor die Augen. Eine Spitze seines gezwirbelten Schnurrbarts ragte neben dem Blatt in die Höhe. »’n graues Schagett und ’ne rote Deggelmütze, ham de Beamten vermerkt.«

      »Adrett«, murmelte Wank.

      »Dann ham wir ’nen Selbstmord von ’nem Fabrikanten, ’nen Einbruch in een Goldwarengeschäft.« Machuntze blätterte die Atkten durch. »Und schaun Se nur hier, een Arbeiter is in een Restaurant eingestiegn und wollte die Gasse klaun, sein Gumpane stand Schmiere. Ooch hier dürfn Se de Festnahme vermeldn.« Machuntze klang stolz, als hätte er die beiden eigenhändig festgesetzt.

      Wank schrieb die Informationen in sein Notizbuch und wartete darauf, dass Machuntze auf den Toten aus der Blumengasse zu sprechen kam.

      Vergebens, denn der Beamte legte den Papierstapel beiseite. »Das war’s. Mehr gibt’s erscht ema aus unsrer Behörde nisch zu vermeldn.« Machuntze erhob sich. Der Polizist war


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