Beutewelt VI. Friedensdämmerung. Alexander Merow
„Wir ham die Spitzohren weggehau’n!“
„Spielen wir morgen eine Revanche?“, fragte HOK.
Kohlhaas überlegte. „Morgen? Naja, eigentlich wollte ich mit Julia ins Kino gehen, aber vielleicht kann ich ihr ja erzählen, dass wir im Auftrag der Freiheitsbewegung eine neue Internetseite einrichten sollen …“
„Das glaubt dir Julia niemals. Vor allem nicht, wenn du deine Miniaturenbox unter dem Arm hast.“
„Stimmt! Diese Ausrede ist wohl wirklich nicht so erfolgsversprechend“, gab Frank zu.
„Überlege dir gefälligst etwas Besseres. Meine Elfen verlangen eine Revanche.“
„Irgendwas wird mir schon einfallen!“, antwortete Kohlhaas und zerbrach sich den Rest des Tages den Kopf, um Julia eine etwas glaubhaftere Notlüge auftischen zu können.
Eine kleine Wagenkolonne bewegte sich in Richtung des lettischen Dorfes Sevonsk im Norden des Landes und stoppte nach einer Weile etwas außerhalb der verschlafenen Ortschaft. Gelbe Weizenfelder waren am Rande der staubigen Landstraße zu sehen und einige Bauern blickten verdutzt zu den Autos herüber, die vor einer kleinen Betonhalle zum Halten gekommen waren.
Kurz darauf stiegen Artur Tschistokjow, Wilden, Frank und weitere hochrangige Rus aus den Wagen und verschwanden in Windeseile in der unscheinbaren Bunkeranlage, wo sie von einer Gruppe Waräger empfangen wurden. Die Soldaten führten sie durch eine Reihe langer Gänge und schließlich kamen sie in ein großes, unterirdisches Labor, in dem lauter Männer in weißen Kitteln arbeiteten. Prof. Karl Hammer, der ergraute Wissenschaftler aus Deutschland, eilte ihnen entgegen. Er schüttelte Tschistokjow die Hand.
„Herr Präsident, ich freue mich, Sie endlich hier begrüßen zu können!“, sagte er.
„Ich freue mich auch, Herr Professor!“, erwiderte der russische Stadtchef auf Deutsch und lächelte.
„Was haben Sie uns denn heute zu zeigen, Prof. Hammer?“, fragte General Borsov und bat Tschistokjow darum, jetzt wieder Russisch zu reden.
„Eine sehr interessante Sache!“, antwortete der Wissenschaftler. Dann führte er seine Besucher durch das riesige Labor.
Frank betrachtete einige seltsame Maschinen, die leise vor sich hin summten und gelegentlich ein leises Knacken von sich gaben. Mit fragendem Blick folgte er dem deutschen Erfinder, bis sie dieser ans andere Ende des unterirdischen Gewölbes geleitet hatte.
„Das ist eine der versprochenen Rüstungen für die Warägergarde. Wir haben sie Ferroplastinrüstung genannt“, erklärte Prof. Hammer und zeigte auf einen schwarzgrauen Brustpanzer, der auf einem Tisch lag. Jetzt kamen weitere Wissenschaftler dazu. Einer der Forscher begann mit ausführlichen Erklärungen.
„Dieser Körperschutz setzt sich aus mehreren Metallschichten und speziellen Hartplastiklegierungen zusammen. Das Gleiche gilt für die Schulterpanzer, den Helm und die anderen Teile der Rüstung. Dabei ist diese hocheffektive Rüstung trotzdem sehr leicht geblieben und kann nahezu perfekt an die Körperform der Träger angepasst werden“, erläuterte der Wissenschaftler seinen staunenden Zuhörern.
„Das sieht nicht schlecht aus!“, warf Frank in die Runde.
„Der Aufbau der Rüstung federt in gewisser Hinsicht die auftreffenden Kugeln ab und nimmt ihnen die Durchschlagskraft. Jedenfalls in den meisten Fällen. Es muss allerdings noch einiges überarbeitet werden. Diese Rüstungen dürften sogar, was ihre Wirksamkeit betrifft, denen der Grunts von der GCF leicht überlegen sein. Zumindest machen sie den Träger weniger schwerfällig und lassen ihn weiterhin agil und wendig bleiben“, fuhr Prof. Hammer fort. Artur Tschistokjow grinste Frank zu und bat ihn, die Rüstung anzuprobieren. Dieser war selbst äußerst gespannt darauf, zu erfahren, wie sich der Körperpanzer anfühlte, und legte den Brustschutz an.
„Er ist wirklich sehr leicht“, bemerkte Kohlhaas und ließ ein paar Verbindungsscharniere mit einem leisen Klicken einrasten. Nach wenigen Minuten war Frank ganz in die schwarz-graue Rüstung gehüllt und hatte auch den Helm aufgesetzt.
„Nicht schlecht!“, schnaufte der General. Er wunderte sich über die schnellen Bewegungen, die der Körperpanzer noch zuließ.
„In den Kragen der Ferroplastinrüstung werden kleine Funkgeräte, sogenannte „Komm-Sprecher“, integriert, so dass die Soldaten untereinander in stetigem Kontakt bleiben können“, erklärte Prof. Hammer.
„Jetzt siehst du aus wie ein Science-Fiction-Soldat!“, scherzte Wilden, Frank begeistert betrachtend.
„Hoffentlich sieht diese Rüstung nicht nur schneidig aus, sondern rettet auch Leben“, gab Kohlhaas zurück und zog den Körperpanzer wieder aus.
Einige Wissenschaftler nahmen ihm den Brustschutz und den Helm ab und spannten sie in ein von Schutzwänden umgebenes Gestell ein.
„Darf ich bitten, Herr General?“, sagte Prof. Hammer anschließend und drückte Frank ein Reaper-Sturmgewehr in die Hand. „Bitte gehen Sie hinter diese rote Linie und feuern sie auf Brustschutz und Helm! Die anderen setzen bitte diese Brillen auf!“
Für einige Minuten herrschte eine gespannte Atmosphäre in dem unterirdischen Labor, dann ließ Frank einen Feuerstoß auf den Brustpanzer los. Funken sprühten umher und einige Querschläger prasselten gegen die Schutzwände. Es folgte ein zweite, kurze Salve auf den schwarz-grauen Helm.
Erwartungsvoll rannten die Anwesenden zu dem Gestell und begutachteten den Brustpanzer. Lediglich zwei Projektile hatten ihn mit Mühe durchschlagen, obwohl Frank einen ganzen Kugelhagel abgegeben hatte.
„Das ist noch nicht optimal“, hörte man Prof. Hammer etwas enttäuscht vor sich hin murmeln.
Artur Tschistokjow und die anderen Gäste waren hingegen zutiefst beeindruckt. Diese neue Ferroplastinrüstung konnte viele Leben retten, auch wenn sie noch verbessert werden musste.
Bis Anfang des folgenden Jahres war Tschistokjow unermüdlich damit beschäftigt, eine Massenkundgebung nach der anderen durchzuführen. Er flog von St. Petersburg nach Moskau und bereiste dann das Land von Ost nach West. Mehrere Dutzend Reden hielt er vor seinem jubelnden Volk; in Ufa, nahe des Uralgebirges, in Orenburg an der Grenze zu Kasachstan, in Wolgograd am Schwarzen Meer und in vielen weiteren Städten. Sein von den Medien groß angekündigtes Erscheinen wurde jedes Mal zu einem gewaltigen Volksfest. Hunderttausende von Russen und Ukrainern wollten ihn sehen, um seine Botschaften von Aufstieg und Freiheit zu hören. In vielen Städten seines riesigen Landes war Tschistokjow selbst noch nie zuvor gewesen und demnach freute sich das Volk dort besonders, wenn es ihn endlich zu Gesicht bekam. Die monatelange Tournee durch den gesamten Nationenbund der Rus festigte Tschistokjows Popularität beim russischen und ukrainischen Volk erheblich.
Wenn der Staatschef in dieser Zeit einmal keine Reden hielt, so weihte er neu gegründete Dörfer für junge Familien ein oder legte symbolisch den Grundstein für neue Fabriken oder monumentale Bauten.
Frank war bei einem Teil seiner Reise dabei und von dem frischen Auftreten seines Freundes begeistert. Immer wieder berauschte auch er sich an den Meeren aus Russland- und Drachenkopffahnen, die Tschistokjows Massenkundgebungen stets begleiteten.
Den Höhepunkt aller Veranstaltungen der Freiheitsbewegung stellte jedoch der „Tag der russischen Einheit“ in der Nähe von Tula dar. Das gewaltige Massenspektakel fand Mitte April 2044 zum ersten Mal statt und wurde ein voller Erfolg. Ganze Regimenter der Volksarmee und der Warägergarde traten an und nicht weniger als zwei Millionen Besucher kamen. Es waren so viele, dass das eigens für diese Veranstaltung angelegte Versammlungsgelände sie gar nicht alle fassen konnte.
Artur Tschistokjow eröffnete das Spektakel mit einer fast dreistündigen Rede und legte dem gewaltigen Ozean von Menschen vor sich noch einmal die Gründe dar, die ihn vor vielen Jahren dazu veranlasst hatten, den Kampf gegen die Weltregierung und die dahinter stehenden Kräfte aufzunehmen. Anschließend sprach er vom Sieg über den Kollektivismus und würdigte den Opfermut seiner tapferen Soldaten im Kampf gegen Uljanin. Er predigte von der Einheit des russischen Volkes und beschwor ein neues Zeitalter des Aufstiegs,