Menschenversuch. Monika Landau

Menschenversuch - Monika Landau


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ab, als wollten sie ihn vor der Kälte schützen. In diesem Augenblick näherte sich ein weiterer Lastzug der Unfallstelle. Der Fahrer, in dem Schneegestöber chancenlos wie Karl, schleuderte mit seinem Gefährt beim Bremsen. Zugmaschine und Anhänger kippten donnernd auf die Seite. Die Planhülle des Hängers gab ihre Fracht frei: aus aufgeplatzten Kartons klatschten rötliche Lachsscheiben, eingeschweißt in flache Plastiktüten, in den Schnee, verließen ihren dunklen Käfig, als suchten sie noch einmal die Freiheit der klaren Gewässer ihrer Jugend. Eine dieser Plastiktüten huschte auf Karls Gesicht zu, touchierte seine Nase. Auf die Lachstüte tropfte Karls Blut.

      Eine Frau mittleren Alters, begleitet von zwei jungen Männern, erreichte zuerst den leblos wirkenden Körper. Sie beugte sich zu ihm hinunter. Wäre Karl nicht bewusstlos gewesen, hätte er in zwei tiefschwarze, rebellische Augen gesehen. Sie ertastete seine Halsschlagader. »Esta viviendo!«, rief sie aus. Schnell verständigte sie sich mit den beiden Männern und ihr Gesicht hellte sich auf. Die Frau legte dem Börsenmakler die Hand auf die Stirn. Der eine der beiden Männer organisierte eine Wolldecke, der andere rannte an der Autoschlange entlang, auf der Suche nach einem Mobiltelefon. Wenige Minuten später ertönte die Sirene eines heraneilenden Krankenwagens. Karl Ernst wurde vorsichtig auf eine Trage gebettet, dann bahnte sich das Rettungsfahrzeug den Weg durch die Autoschlange und das Schneetreiben. Andere Menschen waren nicht zu Schaden gekommen.

      Nach einer Stunde hatte man auch Karls Sportcoupé und den umgestürzten Lastzug geborgen, die Lachsscheiben wieder in ihre Kartons verbannt. Die Frau mit ihren Begleitern setzte ihre Reise fort, ebenso der Lastzug mit Tropenhölzern, der kaum eine Schramme abbekommen hatte. Schließlich passierten auch die beiden Männer aus der Raststätte, die sich an Karls Tisch unterhalten hatten, die Unfallstelle. Den blutigen Schnee am Rande der Autobahn nahmen sie nicht wahr. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Am Autobahnkreuz hatte sich die Verkehrslage entspannt. Schnee fiel nicht mehr. Menschen, tote Baumriesen und filierte Lachse, die sich für kurze Zeit gestreift hatten, verloren sich wieder südlich des Kreuzes, strebten ihrem Ziel entgegen.

      Karl lag, immer noch ohne Bewusstsein, bereits auf der Intensivstation der Unfallklinik zwischen Autobahnkreuz und Stadt. Das Personal hatte ihn anhand seiner Visitenkarte identifiziert und sein Büro verständigt. Seine Sekretärin wirkte zunächst verzweifelt, doch nach kurzer Zeit besann sie sich, sagte alle Termine für die nächsten Wochen ab, auch die privaten. Nur die dollarschweren Devisenspekulanten, die für den späten Nachmittag aus Übersee erwartet wurden, konnte sie nicht mehr aufhalten. Was mit ihnen geschehen sollte, würde sich finden. Schließlich war sie perfekt ausgebildet und im Umgang mit kniffligen Situationen seit Jahren geübt.

      Zwischen Schläuchen, Kanülen und Infusionsgestellen wirkte der sonst so strahlende und selbstbewusste Börsenmakler hilflos und abhängig. Seine Gesichtszüge waren jedoch entspannt. Die vielen medizinischen Geräte und Monitore erinnerten eher an den Leitstand einer Rakete als an eine Krankenstation, in der um Leben und Tod von Menschen gerungen wird. In dieser technisch perfekten Welt gab es kaum Körperkontakte. Die Pfleger und Schwestern beobachteten ihre Patienten hinter Glas aus Kabinen heraus. In Karls Krankenblatt, das am Fußende des Bettes baumelte, hatte der Oberarzt der Station einen doppelten Schädelbasisbruch diagnostiziert. Die Oberschwester kontrollierte die Linien auf den Monitoren. Puls und Blutdruck hatten sich stabilisiert. Was Oberschwester Margret Sorgen bereitete, waren seine Gehirnströme. Bizarre Ausschläge auf dem Elektroenzephalograph machten sie stutzig, da sie nicht mit seiner schweren Kopfverletzung in Verbindung stehen konnten.

      Körper und Geist Karls hatten sich vorerst getrennt, lebten parallel dahin. Gesteuert von elektrischen Maschinen und medikamentös gedopt harrte Karls Körper aus. Sein Geist pendelte zwischen Körper und Außenraum, unschlüssig wohin er sich wenden sollte. Dabei emanzipierte er sich immer mehr von Karl – über Geburt und Tod hinaus in die unendliche Spirale zwischen Anfang und Ende. Oberschwester Margret und der hinzu gerufene Oberarzt erkannten zwar die immer intensiveren Schwingungen auf ihren Monitoren, vermochten sie aber nicht zu deuten. Losgelöst vom Fleisch fing Karls Geist an zu träumen: sein Lebenslicht.

      Alpha füllte allein sich und die dunkle Welt aus. Omnipotent vereinigte sie in sich Alles und Nichts, Anfang und Ende, Licht und Dunkelheit. Zeit und Raum, Energie und Materie existierten noch nicht, nur Alpha. Einsam strömte sie durch sich selbst, doch dies Ineinander von Allwissenheit und Ewigkeit befriedigte sie schon lange nicht mehr. So erwog sie neue, unbekannte Initiativen. Zunächst versuchte sie zaghaft Gefühle aufzuspüren, denn Leid, Freude, Liebe, Hass, Wonne und Schmerz hatte sie noch nicht erfahren. In ihr erwachte Forscherdrang. Zug um Zug entfaltete sie den Fächer des realen und geistigen Empfindens. Immer mehr verließ sie den Zustand bloßen Seins.

      So begann sie, in ihrer Geisteswelt mit Experimenten. Schon recht einfache Erfolge, wie beispielsweise das Denken der Schwerkraft oder der Hebelgesetze befriedigten sie zutiefst. Mit göttlicher Akribie und Leidenschaft ging sie daran, ihr Werk zu vervollkommnen. Sie erdachte Gesetze der Chemie, der Physik und der Biologie bis ins winzigste Detail. Immer wieder spielte sie die neuen Gesetze unendlichfach durch, prüfte sie, verglich sie auf ihre Wechselwirkungen untereinander. In ihrer besessenen Reflexion entstand ein perfektes Gebäude theoretischer Existenz neben ihrem Geist. In diesem Kraftpunkt, der im Vakuum des Nichts ruhte, hatte sie alles angelegt: die Elemente und ihre Verbindungen, die Quellen des Lebens, die Staubpartikel wie das gesamte Universum. Stille umgab Alpha und ihre Schöpfung.

      Alpha war von nun an nicht mehr allein. Neben und in ihr existierte das Ergebnis ihrer schöpferischen Kraft, freilich noch unfassbar. Intellektuell begriff sie ihre Schöpfung, ließ nicht mehr von ihr ab, war unruhig. Fasziniert blätterte sie immer intensiver in den von ihr erdachten Gesetzen, ließ Fragmente vor ihrem geistigen Auge auftauchen und wieder verschwinden, experimentierte fleißig, genoss die erfolgreichen theoretischen Spiele. Sie, die bislang nur an Einsamkeit gewöhnt war, fühlte sich bereichert, obwohl alles aus ihr selbst entsprang. Fast unmerklich wuchs ein Gefühl in ihr, nahm sie zunehmend in Besitz: die Allmächtige verliebte sich in ihre Schöpfung, in diesen winzigen Punkt des Universums, vollgestopft mit göttlicher Erkenntnis und Energie. Sie liebkoste und behütete ihn, ließ ihn nicht mehr aus dem Sinn. Forscherdrang und andere Gefühle spielten keine Rolle mehr. Blind erlag sie dieser Liebe zu ihrem Kind.

      Da in ihrer Schöpfung auch die Grundlagen des Lebens angelegt waren, hätte sie eigentlich erkennen müssen, dass sich Leben nicht festlegen lässt und einen unzähmbaren Drang zur Freiheit entwickelt. Von abgöttischer Liebe erdrückt, strebte das Geliebte nach Emanzipation. Alpha musste im Stolz ihres Schaffens, einen Moment unachtsam gewesen sein. Dieser winzige, nicht vorausgesehene Fehler sollte Folgen haben. Denn je erobernder sie ihr Werk umschlang, desto deutlicher bauten sich Spannungen im Urpunkt auf. Aber sie vernahm den stillen Schrei nach Freiheit nicht. Zu sehr war sie auf sich selbst fixiert. So wurde sie schließlich, geblendet und zu spät, vom Beben des Energiefeldes überrascht, ohnmächtig einzugreifen. Unendliche Energiemengen platzten ins Nichts, drifteten nach Außen, verließen den Zustand höchster Symmetrie. Im Getöse des Urknalls bildete sich im physikalischen Vakuum in einer Kette von Zyklen der Selbstorganisation in wenigen Minuten zunächst das Urplasma, ein Zeit-Raum-Schaum.

      Die Expansion der Metagalaxis war eingeleitet. Dann, beim Verlassen des Vakuums, strömte Gas, die Urmaterie, durch die Metagalaxis. Unaufhaltsam blähte sich die Urblase auf, Zeit- und Raumsymmetrie wurden nacheinander gebrochen, die Urmaterie strukturierte sich in Galaxien, einem Zeitpfeil folgend. Der von homogener Strahlung ausgefüllte Kosmos war geboren. Blitzartig hatte sich die Materie in Existenz geschleudert, expandierte, ausgestattet mit der Fähigkeit zur Erneuerung, mit kreativen Potenzen. Das Weltall war ausgefüllt mit Materie und Energie, aber noch ohne Leben geboren.

      Fassungslos erstarrt nahm Alpha diesen Urschrei der Materie in sich auf. Es dauerte Milliarden Jahre, bis Alpha sich von diesem Schreck einigermaßen erholte, wieder andere Gedanken zuließ. Bis dahin fremde Gefühle breiteten sich in ihr aus: Angst, Wut und Hass brodelten in ihr, kämpften einen unerbittlichen Krieg mit der Liebe, der nie zu enden schien. Und wieder vergingen Äonen, bis Alpha ihre Gefühle kontrollieren konnte. Die Liebe hatte zwar triumphiert, aber Angst, Wut und Hass waren nicht endgültig besiegt, sondern lauerten in den Nischen ihres


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