Menschenversuch. Monika Landau

Menschenversuch - Monika Landau


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Zuhause gesehen hat. So kunstvoll er das auch konstruiert zu haben meint – der Bericht verschwindet in der Ablage. Kaminski lässt ihn nicht einmal mehr rufen, sondern verfügt Schreibverbot und Versetzung in den Korrektoren-Job. Und weil das Regime auf seine Dienste verzichtet, wird sein ohnehin dürftiges Gehalt halbiert.

      Der Autor träumt. Ein zerbrechlich aussehender Mond durchschneidet die Nacht, Vogelkonzerte verhallen. Aus dem Nichts erscheint eine feenähnliche Gestalt in rotem Kleid, das wie eine Fahne um sie gewickelt ist, vor leuchtender Ebene. Als er auf sie zugeht, sieht sie ihn an, wie ihn einst seine Schullehrerin ansah:

      »Du bist nur noch Gast in deinem Leben. Und deine ganzen Zweifel ändern sowieso nichts.«

      »Und was soll ich tun? Zum Märtyrer werden? Der Staat hat tausend Ohren.«

      »Du verlierst die Zukunft, wenn du sie nicht änderst.« In diesem Augenblick zieht eine Wolke vor den Mond – nein: es ist das Gebirge, das näher kommt und mit seinen Steilwänden das Mondlicht wegschiebt. Vor die Feengestalt sind schwarzgekleidete Soldaten gerückt: eine linkische Drohung. Noch im Fliehen sieht er, wie sich das strahlende Gesicht der Fee in Blitze verwandelt; die Soldaten taumeln zu Boden.

      Schweißgebadet wacht er auf. Er liegt auf dem Bett seiner Mansarde und kommt erst langsam zu sich. Auf dem Boden findet er ein Stück Zeitung, in dem vom Überfall auf ein Munitionslager der Armee die Rede ist. Zwar wurde der Angriff natürlich abgewehrt; zugleich warnt man aber vor Terrorakten mit Beute-Sprengstoff. Wenig später geht er zwischen anderen durch den Staub der Militärlaster, die in Kolonnen vorbeidonnern. Er sieht fahrige Bewegungen, spürt die sinnlose Eile und merkt, dass er davon angesteckt wird. Trotz des nationalen Feiertags ist das kleine Theater geschlossen, auch der Bühneneingang, und jemand hat den Spielplan heruntergerissen. An der schrägen Ecke sieht er unbewegliche Gestalten im einzigen dort geparkten Auto. Der Autor macht kehrt; sein Schritt wird schneller.

      Als er das Haus in der Heldengasse (früher hieß sie Gershom-Weg) erreicht, zuckt er zusammen, denn da marschiert gerade eine Polizeistreife vorbei. Nadia, die Freundin und Regisseurin, ist allein und wirkt deprimiert; ihr Haar mit den grauen Strähnen hängt ins Gesicht. Als er sie umarmen will, wehrt sie ab und sagt: »Sie haben verlangt, das Stück abzusetzen, weil es das ‚Nationalbewusstsein untergräbt.‘ Sie wollen es nicht verbieten, um den ausländischen Beobachtern kein neues Beispiel für Zensur zu geben. Aber sie haben damit gedroht, uns alle Gelder zu streichen und uns ‚einer nützlicheren Arbeit zuzuführen‘, wie sie das nennen.«

      Nach einer langen Pause und zwischen zwei tiefen Zügen an seiner Zigarette sagt der Autor müde: »Was können wir überhaupt noch machen? Mich haben sie aus der Redaktion geschmissen und zu den sowieso überzähligen Korrektoren abgeschoben; was anderes fiel ihnen nicht ein. Außerdem stehen wir wohl schon unter Beobachtung.«

      »Wir haben keine andere Wahl«, antwortet sie, »und keine Partei und keinen Radiosender und keine Zeitung. Uns bleiben vielleicht noch Flugblätter.« »Und wer sollte die verteilen?«

      »Wir.«

      Er grübelt. Ist das der Untergang auf Raten, wie er ihn schon lange kommen sah? Das Ende seiner Arbeit als Zeitzeuge? Jedenfalls gibt es nur die Alternative, den Kopf wegzustecken und dahinzuleben wie die meisten. Schließlich zwingt er sich zum Schreiben, die Feengestalt immer noch vor Augen.

      Das Flugblatt wird zu einer Anklageschrift, die nichts mehr verschleiert; auch auf seinen sonst immer gegenwärtigen Spott verzichtet der Autor. Nationalismus, der Kultur ebenso zerstört wie jedes offene Miteinander, ist eine Form gewaltsamen Untergangs, und über diesen Tod kann man nicht spotten. Mit grauen Augen zündet er sich eine Zigarette an der anderen an. Weil das Theater geschlossen ist und überdies bewacht wird, haben Nadia und er keinen Zugang zum Kopierer und müssen den Text immer neu mit Durchschlägen auf der alten Schreibmaschine schreiben. Das dauert bis zum Morgengrauen und lässt keinen Raum für Zärtlichkeit.

      Im Trubel des Mittagsverkehrs und unterm Schutz der weißglühenden Sonne werfen sie das Flugblatt in die Briefkästen von Zeitungsredaktionen, Radiosendern, der Journalistenvereine und Theater, von Museen und Konzertdirektionen. Zunächst scheint alles gut zu gehen. Aber als sie sich in ein Café setzen, um auszuruhen, erscheint eine Streife der Sonderpolizei, verlangt ihre Ausweise und fordert sie auf, mitzukommen. Nadias Wunsch, auf die Toilette zu gehen, wird barsch abgelehnt.

      Schon im Auto werden sie getrennt, durch Gänge geschleift, die das Grauen kanalisieren und finden sich in schmutzstarrenden Einzelzellen ohne Fenster wieder. Dem Autor wird alles außer der Unterhose abgenommen und er schweigt, ebenso wie seine Wärter. Er glaubt in fernen, langgezogenen Schreien die Stimme von Nadia zu erkennen und verliert jedes Zeitgefühl. Zwar hört er Schritte und den Mechanismus der Sichtklappen an der Tür, doch er bleibt allein, kann im grellen Licht der Neonröhren und immer wieder vom Lautsprecher aufgescheucht nicht schlafen. So hockt er in einer Ecke, versucht Gedankenspiele, Zahlenkombinationen, um nicht durchzudrehen. Als er wieder die mit Zahnprothesen oder Fingernägeln in die Wand gekratzten Inschriften zu entziffern versucht – man hat ihm auch die Brille gestohlen – reißt ein Wächter die Tür auf und brüllt: »Mitkommen!« Der Autor schwankt vor Schwäche, sein Hals wie geschwollen vor Trockenheit. Und weil er haltsuchend den Uniformierten berührt, wird er zurückgestoßen, schlägt mit dem Kopf auf den schmutzübersäten Steinboden und verliert die Besinnung.

      Beim Aufwachen findet er sich in einem kahlen Raum, an Füßen und Händen über einer mit stinkender Brühe gefüllten Badewanne aufgehängt. Um ihn herum stehen vier Männer mit Kapuze, die ihn durch ihre Sehschlitze anstarren:

      »Das Schwein kommt ja zu sich,« hört er einen sagen, »da müssen wir wohl nachhelfen.«

      Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen und ohne Erinnerung daran, ob er trotz seiner feuertrockenen Kehle geredet hat, wird der Autor wieder in die Jauche getaucht. Atemlos geht er unter und verliert erneut das Bewusstsein. Doch vor seinen Augen geht plötzlich eine andere Wirklichkeit auf. In moosgrüner Landschaft sitzt er am Fluss und vor ihm zappelt ein einzelner, grobknochiger Fisch im Netz.

      »Jetzt bist du einer von uns,« versteht er und erkennt die Stimme von Reinhart, »gefangen! Gefangen!« Aus dem Baum, unter dem er sitzt, tönt dies ‚gefangen‘ wie ein Echo. Er greift nach einem Ast, will ihn zu sich herabziehen, verliert dabei aber das Gleichgewicht und stürzt ins Unendliche.

      Zeitlos später liegt er wieder in der Zelle. Kopf, Armgelenke und Beine schmerzen; die Hände sind blutverkrustet. Als er über den Kopf streicht, merkt er, dass man ihm die Haare abgeschnitten hat und dass Schorf die Wunden bedeckt. Er stößt auf einen Napf mit Flüssigkeit – Suppe? Schmutziges Wasser? Jedenfalls trinkt er gierig und fragt sich, was mit ihm geschah. Verhöre, Folter – hat er geredet? Vielleicht andere belastet? Nadia? Es ist alles wie ausgelöscht; hätte er nicht diese Schmerzen, das Wundfieber – er spürte sich selbst nicht mehr, wäre bloß noch die eigene Vergangenheit. So schläft er wieder ein, trotz der Versuche, wach zu bleiben: auf der Flucht vor den Träumen vom Untergang.

      Inzwischen schiebt man ihm einmal am Tag einen Blechnapf mit fader Suppe oder ausgelaugtem Kohl in die Zelle und er fühlt sich immer schwächer. Verhöre und Torturen haben zwar aufgehört – weil man ihn nicht mehr ernst nimmt? Weil er unter der Folter alles gesagt hat, was er denkt? Doch als man ihn eines Tages durch die Gänge zerrt, ein paar Türen aufreißt und wortlos ins Freie stößt, bricht er vor dem Gefängnistor bewusstlos zusammen. In seinem Kopf taucht wieder der Baum am Fluss mit dem Lachs auf; diesmal redet der Baum:

      »Dein altes Leben ist vorbei. Verlass die Stadt, geh in die Wälder. Hör unser Echo und bezeuge deinen Tod.« Der Autor sieht sich nach dem Lachs um, entdeckt Raubvögel über sich und fragt fast stimmlos:

      »Wo ist Nadia? Wohin haben sie sie gebracht? Gebt mir ein Zeichen!«

      »Du bist allein«, raunt die Baumstimme wie ein Windstoß, »komm zu uns, leg Zeugnis ab wie Sisyphos.« »Ich bin am Ende,« hört er sich sagen, »ich will nicht mehr. Lasst mich untergehen.«

      Wie aus weiter Ferne hört er eine unbarmherzige, fast schneidende Antwort:

      »Du bist uns deinen Kampf schuldig


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